Angeklagte im NSU-Prozess Abgewandt von der blutigen Realität

Angeklagte Zschäpe mit Anwälten: Fotos angestrengt ignoriert
Foto: Tobias Hase/ dpaAuf der Großleinwand werden die Fotos der Tatorte gezeigt. Der Mann ist tot, ein Mensch in dunkler Kleidung - halb sitzend, halb auf dem Boden liegend - zusammengesunken an die Wand gelehnt. Sein Kinn ist blutverschmiert. Der Täter hat ihm ins Gesicht geschossen. Der erste Schuss war unter dem rechten Nasenloch in den Schädel des Opfers eingedrungen.
Der rechte Arm des Mannes ist voller Blutspritzer und Blutstropfen. Neben dem Toten breitet sich großflächig eine Blutlache aus. Der oder die Täter hatten auf das Opfer, als es schon zu Boden gegangen war, noch einmal geschossen, dieses Mal in die rechte Schläfe - offenbar, um gewiss zu sein, dass das Opfer keinerlei Überlebenschance haben würde. Im Hintergrund Bügelbretter mit Bergen von Kleidung, dazu Nähmaschinen und Kleiderständer.
Mit diesem Fall, mutmaßlich dem zweiten Mordanschlag der Neonazis vom "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) im Jahr 2001, hat an diesem Montag vor dem Münchner Oberlandesgericht die Beweisaufnahme gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Holger G., Carsten S. und André E. begonnen. Verhandelt wurde die Tötung des 49 Jahre alten Änderungsschneiders Abdurrahim Özüdogru aus Nürnberg.
Was bedeutet es für die Angehörigen, wenn sie solche Fotos zu sehen bekommen? Wenn sie erfahren, dass der oder die Täter ihr Opfer nach dessen Tötung auch noch fotografierten? Wenn noch einmal die ganze Brutalität und Sinnlosigkeit des Rechtsterrorismus in Bildern, denen man sich kaum entziehen kann, vor Augen geführt wird?
Aussagen, nicht frei von unterschwelligen Ressentiments
Beate Zschäpe, die laut Anklage an den Taten ihrer verstorbenen Gesinnungsgenossen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos beteiligt war und als einzige diesen Taten noch ein Gesicht gibt, ignoriert angestrengt die großformatigen Aufnahmen. André E. beschäftigt sich mit seinem Computer. Ralf Wohlleben blickt auf den Tisch, als läse er etwas, doch da liegt nichts zu lesen. Holger G. starrt wie üblich unablässig auf einen imaginären Punkt. Und Carsten S., der sich über viele Verhandlungstage gequält hatte, die verblasste Erinnerung an eine Zeit heraufzubeschwören, mit der er endgültig Schluss gemacht hatte, erscheint als einziger berührt von der Grausamkeit, die aus jedem Tatort-Foto spricht.
Die ersten Zeugen sind Polizeibeamte, die an jenem 13. Juni vor zwölf Jahren am Tatort waren. Ihre Aussagen sind nicht frei von unterschwelligen Ressentiments. "Der Mann soll aufbrausend gewesen sein" , sagt der eine Zeuge. Das habe er von einer Nachbarin erfahren. Der Schneider habe zum Beispiel einen nicht angemeldeten Mercedes einfach in einer Nebenstraße abgestellt; er habe sich nach seiner Scheidung eine Freundin "zugelegt". Es sind keine groben Fauxpas, nur Untertöne.
Der andere Zeuge erwähnt mehrfach die "gewachsene Unordnung" in der Schneiderwerkstatt und vor allem im Schlafzimmer der danebenliegenden Wohnung des Opfers. Dort war seiner Auffassung nach "die Unordnung noch größer als in der übrigen Wohnung". Ob es daran lag, dass die Polizei mit Spürhunden dort auch gleich nach Rauschgift suchte, ebenso im Auto und im Keller des Getöteten? Nach dem Motto: Türke plus Unordnung gleich Drogendealer?
"Ich habe ihn liegen gesehen"
Eine weitere Zeugin, die damals gegenüber vom Nürnberger Tatort wohnte, erinnert sich, wie sie, nachdem sie schussähnliche Geräusche gehört hatte, aus dem Fenster geschaut haben will und dabei den Toten angeblich in seiner Werkstatt liegen sah. Noch nie zuvor hatte sie diese Beobachtung geschildert, nicht bei der Polizei, nicht bei der Kripo. Haben sich Erinnerung und all das, was sie inzwischen über den Mordanschlag auf das "Schneiderle", wie sie den Mann nennt, so vermischt, dass sie mittlerweile ein Bild im Kopf hat, das sie für die Wahrheit hält? "Ich schwör's Ihnen", sagt sie immer wieder, "ich habe ihn liegen gesehen!"
Die Frau ist aufgeregt, Röte verfärbt ihr Gesicht. Sie weint bisweilen. Eine Anwältin fragt, ob sie Angst habe. Ja. Ob sie sich nicht getraue zu sagen, was sie wisse? Sie schüttelt den Kopf. Aber was weiß sie wirklich noch? Es wird in diesem Prozess wohl noch viele Zeugen dieser Art geben, die zwischen Erlebtem und den Bildern, die sich über die Jahre in ihrem Kopf zusammengesetzt haben, nicht mehr unterscheiden können.
Nachmittags, als sich eine Zeugin verspätet, wird die Pause genutzt: "Wir spielen mal das Video 'Paulchen Panther' ab", sagt der Vorsitzende Manfred Götzl. Mal abspielen: Wem gefror im Saal nicht das Blut in den Adern, der Spaß hatte in seiner Kindheit an solchen Filmchen, in denen es kracht und pufft ("Paulchens neue Streiche") und ein rosa Panther lustig durch die Gegend stolziert? Mit welcher menschenverachtenden Raffinesse hier gearbeitet wurde!
Beim Vorsitzenden Richter Manfred Götzl gibt es keine Zufälle
Zschäpe schließt wiederholt die Augen. Ihre Anwälte wenden sich ab, vermutlich unbewusst, sie drehen sich nach rechts, nach links, beugen sich über den Tisch nach vorn, während das unsägliche Machwerk mit Fotos der blutüberströmten Leichen samt den dazugehörigen Zeitungsmeldungen und der dazugehörigen Musik durch den Saal dröhnt.
War gleich der Beginn der Beweisaufnahme der richtige Zeitpunkt, diesen Beweis der mörderischen Absichten des NSU wie einen Pflock in die Erde zu rammen, an dem keiner mehr vorbeikommt, der mit dem Gericht den Weg zum Urteil geht? Zufall war es nicht, bei Götzl gibt es keine Zufälle.
Zschäpes Anwälte schienen über den Einfall des Vorsitzenden nicht informiert gewesen zu sein. Andererseits: Zehn Morde werden dem NSU angelastet, Taten ohne nachvollziehbare Motive, gegen Personen gerichtet, die in die deutsche Gesellschaft als fleißige Kleinunternehmer und Geschäftsleute gut integriert waren und denen zum Verhängnis wurde, dass sie einen ausländischen Namen trugen oder schwarze Haare hatten.
Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt erübrigt sich, hält man sich die Beweisanträge von Nebenklage-Vertreter Thomas Bliwier vor Augen, die er zu Beginn des Sitzungstages stellte. Es ging darin um den Brief, den Zschäpe im März aus dem Untersuchungsgefängnis an einen in Bielefeld einsitzenden Gesinnungsgenossen geschrieben hat. Für Bliwier, einen ausgewiesenen Strafverteidiger, ist es kaum nachvollziehbar, dass eine schweigende Angeklagte, die sich auch gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen Henning Saß nicht öffnete, ihre Gedanken dann einem Mitgefangenen preisgibt.
Dieser Prozess steht erst am Anfang
Die Verteidigung wird vermutlich nichts unversucht lassen, diesen Brief, der ihre Mandantin in keinem günstigen Licht erscheinen lässt, als unverwertbar zu deklarieren. Auch Bliwier rechnet damit. Doch ihm geht es um etwas anderes: Aus der Aussage von Carsten S. ergab sich, dass S. einem V-Mann des thüringischen Verfassungsschutzes offenbar schon 1999 berichtet hatte, er halte Kontakt zu dem untergetauchten und per Haftbefehl gesuchten Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt.
"Die Beweiserhebung berührt den beachtlichen Aspekt, ob staatliche Stellen die angeklagten Taten durch rechtzeitiges Eingreifen hätten verhindern können", so Bliwier. Er beantragte daher, unter anderen auch den Briefpartner Zschäpes, Robert Sch., einen in der Neonazi-Szene bekannten Mann, als Zeugen zu laden. Kannte Sch. das Trio? Welche Kontakte wurden womöglich anlässlich von Konzerten, die von Rechtsradikalen besucht wurden, geknüpft? Führen Spuren nicht von dort auch nach Dortmund, wo der NSU tötete, und nach Kassel, wo Bliwiers Mandanten ihren Sohn verloren und sich ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes zur Tatzeit in der Nähe aufhielt?
Würde man ein Längenmaß von einem Kilometer annehmen, den dieser Prozess zu bewältigen hat, dann ist gerade ein Zentimeter zurückgelegt.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, dass "vor dem Münchner Oberlandesgericht die Beweisaufnahme gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Horst G., Carsten S. und André E. begonnen" habe. Gemeint war aber nicht der Angeklagte "Horst G.", sondern Holger G. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.