
St. Peter am Hart: Grausamer Verdacht in Österreich
Oberösterreich Inzest-Verdacht bringt Behörden in Erklärungsnot
Die Frau ist groß und schlank und rothaarig. Sie trägt ein leichtes Sommerkleid, lächelnd öffnet sie die Tür.
Maria T. war jahrelang die sogenannte Sachwalterin der mutmaßlichen Inzest-Opfer aus dem oberösterreichischen St. Peter am Hart, in Deutschland sagte man wohl: Betreuerin. Nach dem Tod der Mutter kümmerte sie sich um Christine und Erika W., die geistig beeinträchtigt sind und Hilfe brauchten, um ihren Alltag zu bewältigen.
Wahrscheinlich gibt es kaum jemanden, der die zurückgezogen lebende Familie von Amts wegen so gut kannte wie Maria T. Und wahrscheinlich gibt es daher niemanden, der besser erklären könnte, warum lange Zeit nicht auffiel, was Christine und Erika schließlich offenbarten: dass ihr Vater sich seit Jahrzehnten an ihnen verging - was dieser allerdings bestreitet -, dass auch ein Bekannter der Familie sie vergewaltigte, dass in dem verwitterten Bauernhaus Angst und Schrecken herrschten, dass gedroht wurde und gewütet.
Doch gefragt, wie es denn sein könne, sagt Maria T. nur einen Satz: "Man hat mir aufgegeben, nichts zu sagen." Dann schließt sie die Tür.
Wenige Tage nachdem die Inzest-Vorwürfe gegen den heute 80-jährigen Gottfried W. aufgekommen sind, geraten nun die österreichischen Behörden in die Kritik. Hätten sie früher Bescheid wissen können, sogar müssen?
"Passivität der Bezirkspolizei"
Im Mai fand eine Sozialarbeiterin - sie half den Schwestern seit März insgesamt 20 Stunden in der Woche - den nackten und hilflosen Vater am Boden der großen Küche. Er konnte nicht alleine aufstehen, und seine Töchter halfen ihm nicht. Sie hätten ihn sterben lassen wollen, sollen die Frauen, heute 53 und 45 Jahre alt, gesagt haben und gaben erste Hinweise auf Gewalttätigkeiten. Gottfried W. wurde in ein Pflegeheim gebracht.
Es folgten Befragungen, Beamte nahmen dem Rentner sein Gewehr und seine Pistole, der Kontakt zu den Kindern wurde ihm untersagt. Und erst da, Anfang August, sprachen die Schwestern nach offiziellen Angaben erstmals von sexuellen Übergriffen.
Die "Oberösterreichischen Nachrichten", die den Fall öffentlich gemacht haben, kritisieren nun die "offenbare Passivität der Bezirkspolizei". Einem Bericht der Zeitung zufolge gibt es bislang nur zwei knappe Vernehmungsprotokolle der mutmaßlichen Opfer und die Aussage des Vaters, der kategorisch alle Vorwürfe zurückweist. Erst nachdem sich die Presse für den Fall interessiert habe, sei Gottfried W. am Donnerstag festgenommen worden.
Polizei und Staatsanwaltschaft schieben Verantwortung hin und her
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Ried, Alois Ebner, verteidigt in dem Blatt das Vorgehen der Behörden: Erst an diesem Tag habe der Abschlussbericht der Polizei vorgelegen. Die Polizei Braunau hingegen teilt im Widerspruch dazu mit, sie habe erst am 27. Juli einen Ermittlungsauftrag von der Staatsanwaltschaft bekommen. Und wie nicht selten in solchen Fällen scheint auch hier Verantwortung hin- und hergeschoben zu werden, es herrscht Nichtzuständigkeit überall.
Natürlich verwahrt sich auch der Braunauer Bezirkshauptmann Georg Wojak gegen den Vorwurf der Untätigkeit. "Wir konnten erst reagieren, nachdem wir von diesen tragischen Vorfällen Kenntnis erlangt haben", sagt er im ORF. Die Verwaltung habe "unverzüglich im Rahmen ihrer Zuständigkeit und im Rahmen der Möglichkeiten reagiert und agiert".
Es gebe eben Familien, "die wenig Sozialkontakte pflegen", bestätigt Psychiaterin Adelheid Kastner. "Und es wäre vermessen zu sagen, jeder, der sich nicht ausgedehnt sozial vernetzt, verbirgt etwas." Wenn die Betroffenen selbst keine Hinweise gäben, sei auch ein solcher Extremfall von außen nicht erkennbar.
"Ich ahnte ja nicht…"
Rudolf Seidl, 70, der mit dem mutmaßlichen Inzest-Täter seit Jahren befreundet ist und auch in dessen Haus verkehrte, will ebenfalls nichts bemerkt haben. Er habe Gottfried W. noch am Mittwoch im Pflegeheim besucht, erzählt der Rentner, und der sei "frisch und fröhlich" gewesen. "Ich glaube, der wusste noch gar nicht, was da auf ihn zukommt."
Ihm sei nie etwas Besonderes aufgefallen, wenn er bei W. in der Küche gesessen habe, sagt Seidl. Mit den Töchtern habe er gescherzt. Einmal habe er gesagt, als ein Bekannter ihn begleitet hatte, er habe jemanden mitgebracht, der in die Familie einheiraten wolle, und da hätten sie alle sehr gelacht. "Ich ahnte ja nicht..." Seidl beendet den Satz nicht.
"Ich habe sie ein bisschen gekannt", sagt Pfarrer Severin Lakomy und meint Christine und Erika. "Sie waren bei der Adventsfeier und bei Krankensonntagen. Es war schwer, mit ihnen in Kontakt zu kommen", fügt er hinzu. "Sie haben mehr mit den Augen gesprochen als mit dem Mund." Niemandem vertrauten sie sich an, niemandem erzählten sie von den Dingen, die in dem Einfamilienhaus in der 2400-Seelen-Gemeinde hinter verschlossenen Türen wohl vor sich gingen.
Mutmaßlicher Täter sitzt in Untersuchungshaft
Und möglicherweise mussten die Schwestern sogar noch mehr erleiden. Es gebe die Aussage einer der Töchter, dass sie auch ein Bekannter des Vaters vergewaltigt habe, sagt Staatsanwalt Ebner. Dies sei allerdings geschehen, als das Opfer zehn Jahre alt war, die Tat somit verjährt. Allerdings müsse diese Aussage noch überprüft werden, so der Ermittler.
Gottfried W. sitzt zunächst bis zum 9. September in Untersuchungshaft in einem Gefängnis in Ried. Dann werde es eine erneute Haftprüfung geben, sagt Ebner. Die Töchter befinden sich offenbar in einer sozialen Einrichtung. Die Staatsanwaltschaft hofft auf eine Anklageerhebung gegen W. noch in diesem Jahr.
Das Wichtigste sei nun, sagt Bezirkshauptmann Wojak, sich "bestmöglich" um die beiden Frauen zu kümmern, damit sie eine "schönere Zukunft" bekämen. Sie würden derzeit in einer "adäquaten Einrichtung durch kompetente Mitarbeiter betreut".
Dafür ist man jetzt zuständig.
Neuer Inzest-Fall in Österreich: SPIEGEL TV Magazin ab 22.15 Uhr auf RTL