
Oktoberfest-Attentat: Zweifel an der These vom Einzeltäter
Oktoberfest-Attentat Die vergessenen Spuren
Es ist dieses eine Ereignis im Leben vieler Kriminalpolizisten, das sie einfach nicht mehr loslässt. Für Josef Ottowitz war es der Abend des 26. September 1980. Damals musste der heute 73-jährige Kommissar mitansehen, wie ein Attentat den Traum von einem unbeschwerten Oktoberfest für lange Zeit zerstörte.
Um 22.19 Uhr wollte der rechtsextreme Student Gundolf Köhler einen Sprengsatz in einem Abfalleimer am Haupteingang verstauen, als die Bombe plötzlich explodierte. Es gab einen Lichtkegel, Schreie, Panik. 13 Menschen starben, mehr als 200 wurden verletzt - 68 davon schwer. Köhler war unter den Toten.
"Alles war voller Blut, überall Blut", sagt Ottowitz. Betrunkene trampelten einfach über die Anschlagsstelle, manche sogar über die Leichen, während die Blasmusik weiter aus den Bierzelten dröhnte. Die Gummistiefel, die Ottowitz beim Einsatz anhatte, trug er danach nie wieder.
Aber die Vergangenheit lässt sich nicht so leicht ablegen wie ein altes Paar Stiefel. Noch heute, wenn er über die Festwiese schlendert, quält den ehemaligen Kripo-Mann die Frage, wie genau es zu der Tat kam. Das damals ermittelnde bayerische Landeskriminalamt (LKA) sowie die Bundesanwaltschaft gelangte zum Ergebnis, dass Köhler den Anschlag im Alleingang verübt habe. 1982 stellte die Karlsruher Behörde die Ermittlungen ein.
"Die These vom verwirrten Einzeltäter lässt sich nicht halten"
Mehr als drei Jahrzehnte später könnte der Fall jetzt neu aufgerollt werden. Werner Dietrich, der sich seit Jahren im Auftrag mehrerer Opfer für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen einsetzt, hat einen entsprechenden Antrag bei der Bundesanwaltschaft gestellt.
Mit zwei Wiederaufnahmegesuchen war er 1984 und 2008 gescheitert. Und das, obwohl bereits kurz nach der Tat zahlreiche Indizien aufgetaucht waren, die auf Mittäter deuteten: Zeugen hatten Hinweise auf mögliche Komplizen Köhlers gegeben. Ein Befragter hatte ihn kurz vor der Explosion mit zwei Männern streiten sehen. Köhler hatte zudem nachweislich Kontakte zur rechtsradikalen "Wehrsportgruppe Hoffmann". Dem Verdacht, ein nationalistisches Terrornetzwerk könnte hinter der Tat stecken, gingen die Ermittler nach Ansicht Dietrichs freilich nie ernsthaft nach.
Auch Kleinigkeiten, wie ein vor der Tat abgeschlossener Bausparvertrag, passen nicht ins Bild des 21-jährigen frustrierten Solo-Attentäters. "Dieser angeblich komplett isolierte Mann hat in den Sommerferien zuerst gejobbt, um anschließend auf eine große Europareise zu gehen", sagt der Journalist Ulrich Chaussy. Für den "Bayerischen Rundfunk" recherchiert er seit Jahrzehnten über das Attentat: "Die These der Ermittler vom verwirrten Einzeltäter lässt sich nicht halten."
Tatsächlich wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Ungereimtheiten bekannt: So hatte die Polizei mehr als 40 Zigarettenkippen von sechs unterschiedlichen Marken in Köhlers neben der Wiesn abgestelltem Auto gefunden. Ein Stück einer beim Anschlag abgerissenen Hand, das keinem Opfer zugeordnet werden konnte, gibt ebenso Rätsel auf. War es die Hand eines Mittäters? DNA-Tests könnten hier möglicherweise Aufschluss geben. Doch die Asservate wurden bereits 1997 vernichtet. "Weil der Fall als aufgeklärt galt", wie ein Sprecher des Generalbundesanwalts erläutert.
"Sehr ärgerlich" nennt Ex-Ermittler Ottowitz dieses Vorgehen angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten. Noch weiter geht Anwalt Dietrich: "Bei der Aufklärung des RAF-Terrorismus hätte es eine solche Panne, wenn es denn überhaupt eine war, niemals gegeben."
Die brisante Spur 253
Am Donnerstag hat Dietrich seinen 40-seitigen Antrag auf Wiederaufnahme an die Bundesanwaltschaft und das Bundesjustizministerium geschickt. Darin präsentiert er neue Zeugen. Zudem hatte der Anwalt in den vergangenen Monaten zahlreiche Akten der Ermittlungsbehörden ausgewertet. "Es existieren eindeutige Hinweise auf Hintermänner bei der Anschlagsplanung", behauptet Dietrich.
So hat Dietrich etwa die schriftliche Aussage des Augenzeugen Ramin A. vorliegen. Der IT-Fachmann will kurz vor der Explosion mögliche Mittäter gesehen haben. Ramin A. sagt laut Dietrich, die Polizei habe sich bei seinem Verhör 1980 ausdrücklich nicht für die von ihm in Köhlers Nähe beobachteten Männer interessiert. Dabei soll A. nur fünf Meter vom Ort des Attentats entfernt gestanden haben. Wie durch ein Wunder wurde er nur leicht verletzt. Die Aussage sei "glaubhaft", versichert Dietrich. Ramin A. wird auch auf der offiziellen Opferliste des Attentats geführt.
Darüber hinaus hatte Dietrich Einblick in zuvor unter Verschluss gehaltene Spurenakten des LKA erhalten. Brisant ist etwa die Spur 253: Dem Anwalt zufolge ist darin dokumentiert, dass die Ermittler die Fälle des Wiesnanschlags und des Neonazis Heinz Lembke zusammenführten, aber nicht weiterverfolgten. Schon kurz nach dem Attentat hätten zwei wegen eines Anschlags auf ein Asylbewerberheim im August 1980 inhaftierte Mitglieder der rechtsradikalen "Deutschen Aktionsgruppen" ausgesagt, Lembke habe militärischen Sprengstoff für Anschläge angeboten. Es könne einen Zusammenhang zur Oktoberfestbombe geben, hätten die beiden durchblicken lassen.
Ein Jahr später wurden durch Zufall tatsächlich Waffen und Sprengstoff bei Lembke, der der "Wehrsportgruppe Hoffmann" angehört haben soll, gefunden. Nachdem er angekündigt hatte, über seine Hintermänner auszupacken, fanden ihn die Wärter am nächsten Tag aufgehängt in der Zelle.
"Hochbrisanten Beobachtungen"
Im Abschlussbericht der bayerischen Ermittler zum Oktoberfestattentat vom Mai 1981 taucht die Spur Lembke jedoch nicht auf. Damals seien die Ermittler "auf dem rechten Auge blind" gewesen, kritisiert Dietrich. Der damalige CSU-Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß hatte im Wahlkampf vorschnell die RAF für den Anschlag verantwortlich gemacht und zuvor die rechte Gefahr verharmlost. Hatte dies Einfluss auf die Zielrichtung der Ermittlungen?
Die Akten enthalten laut dem Anwalt auch Spuren zu einer Gruppe um den damaligen Neonazi Ottfried H., mit dem Köhler Kontakt gehabt haben soll. Die Ermittler hätten den Ansatz jedoch nicht verfolgt. Zudem hat Dietrich 80 LKA-Ordner, die mittlerweile im Hauptstaatsarchiv in München lagern, ausgewertet. Zum Teil enthielten diese Informationen zur "Wehrsportgruppe Hoffmann", die nie systematisch untersucht worden seien, so der Anwalt.
Wird das Attentat jetzt neu untersucht? Einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" zufolge prüft die Generalbundesanwalt bereits eine förmliche Wiederaufnahme der Ermittlungen. Ein Sprecher der Karlsruher Behörde äußerte sich auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE nicht zu Details aus Dietrichs Antrag, da dieser noch nicht zugestellt worden sei. Man werde aber "auch zukünftig alle neuen Hinweise sorgfältig prüfen und etwaigen Ermittlungsansätzen nachgehen". Das Bundesjustizministerium äußert sich ähnlich.
Dietrich sagt, bei ihm habe sich mittlerweile ein weiterer Zeuge mit "hoch brisanten Beobachtungen" gemeldet. Details will der Anwalt aber noch nicht nennen.
Chaussy hat, wie er sagt, derweil weitere Einzelheiten des Anschlags aus Kreisen ehemaliger Ermittler zugespielt bekommen. Demnach könne die Bombe wegen deren komplizierten Aufbaus nicht von Köhler selbst gebaut worden sein. Dazu passen auch Erkenntnisse der Stasi, die laut mittlerweile aufgetauchten Unterlagen offenbar ebenfalls nie an Köhler als Einzeltäter glaubte.
"Die Rolle rechtsterroristischer Netzwerke wurde damals in den Ermittlungen viel zu früh ausgeblendet", sagt Irene Mihalic, Sicherheitsexpertin der Grünen-Bundestagfraktion. Sie fordert eine Wiederaufnahme der Ermittlungen. Für ein solches Vorgehen ist außer dem bayerischen Landtag auch Ex-Kommissar Ottowitz: "Mehr, als dass die Ermittlungen erfolglos verlaufen, kann ja nicht passieren."