Opfer des Oktoberfestattentats Der lange Kampf des Robert Höckmayr

Kläger Robert Höckmayr: »Ich habe fast meine ganze Familie durch das Attentat verloren«
Foto: Tobias LillDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Die Familie war schon auf dem Heimweg, als eine gewaltige Explosion ihr Leben zerstörte. Es war bis dahin ein schöner Oktoberfestausflug. Die Kinder fuhren Kettenkarussell und Autoscooter – und am Ende wollten Robert und seine vier Geschwister noch Zuckerwatte und Heliumballons. Die sollten beim ersten Wiesnbesuch des damals Zwölfjährigen nicht fehlen.
Doch dann kam der Blitz: Um 22.19 Uhr detonierte im Papierkorb am Haupteingang des Oktoberfests ein Sprengkörper mit 1,39 Kilogramm TNT sowie Schrauben und Nägeln. Die vom Neonazi Gundolf Köhler platzierte Bombe tötete zwölf Besucher sowie den Terroristen selbst, mehr als 200 Menschen wurden verletzt. Das Wiesn-Attentat vom 26. September 1980 gilt als der blutigste Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik.
Was der kleine Robert Platzer damals erlebte, fraß sich in sein Gedächtnis. 1990 nahm der heute 53-Jährige den Namen seiner Frau an und heißt seitdem Höckmayr, doch seine Vergangenheit konnte er nicht ablegen.
Die Stichflamme verbrannte an jenem Abend Teile seines Körpers schwer, unzählige Bombensplitter trafen ihn. Der Junge konnte nur noch krabbeln und suchte seine Familie. Die kleine Schwester Ilona starb vor seinen Augen. Auch der kleine Bruder Ignaz überlebte nicht. Der Sechsjährige habe überhaupt nicht mehr reagiert. »Mein Bruder hatte ein großes Loch in der Stirn«, sagt Höckmayr. Er habe gedacht: »Die beiden schlafen«, erinnert sich der Münchner.

Spurensicherung am Tatort (1980)
Foto: Istvan Bajzat / picture alliance / dpaHöckmayr selbst wurde mehr als vierzig Mal operiert. Noch immer hat er mehr als zwei Dutzend Splitter im Körper. Höckmayr hinkt, hat Probleme mit der Wirbelsäule. »Ich habe oft Rückenschmerzen und kann kaum mehr längere Strecken zurücklegen«, sagt er.
Höckmayr ist nach eigener Aussage bis heute schwer traumatisiert. »Ich habe fast meine ganze Familie durch das Attentat verloren.« Der damals überlebende Bruder und die Schwester töteten sich später selbst, sie konnten, wie Höckmayr sagt, »das Erlebte nicht verkraften«. Seine Mutter wurde von Metallgeschossen durchschlagen, die mehrere Organe massiv beschädigten. Den später in ihr wuchernden Krebs überlebte sie nicht.
Von den staatlichen Behörden fühlt sich Höckmayr bis heute im Stich gelassen. »Die haben mich von Beginn an schäbig behandelt«, sagt er rückblickend. Ein ums andere Mal suchte er Hilfe beim Versorgungsamt und anderen Stellen. Doch mit einer Vielzahl an Anträgen und Widersprüchen scheiterte er.
Mittlerweile, sagt Höckmayr, wolle er sich nichts mehr gefallen lassen. An diesem Freitag verhandelt das Sozialgericht München über eine bereits vor mehreren Jahren eingereichte Klage des Anschlagsopfers gegen den Freistaat Bayern. Der konkrete Grund der Klage: Das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) hat bei Höckmayr nur einen Grad der Schädigung (GdS) von 50 Prozent festgestellt. Doch nach Ansicht von Höckmayrs Anwalt Alexander Frey steht dem 53-Jährigen ein GdS von mindestens 70 Prozent zu. Davon hängt insbesondere die Höhe der Grundrente ab, die der schwerbehinderte Höckmayr bekommt.
Doch aus der Sicht des Münchners geht es um mehr. »Der Staat muss sich generell die Frage stellen lassen, wie er mit Menschen umgeht, die Opfer eines Anschlags wurden, der sich gegen die demokratische Gesellschaft richtet.« Anwalt Frey sagt: »Es geht schon um Geld, aber es geht auch ums Prinzip.« Das Verfahren habe grundsätzliche Bedeutung für Betroffene anderer Anschläge, etwa am Olympia-Einkaufszentrum in München oder am Berliner Breitscheidplatz, der sich kommende Woche zum fünften Mal jährt. Auch sie müssten oft um Unterstützung kämpfen; staatliche Hilfe komme oft zu spät oder reiche nicht.
»Psychische Traumata wurden meiner Herkunft zugeschrieben.«
Höckmayr selbst hat nach eigener Aussage viele Jahre lang fast keine Unterstützung von staatlicher Seite bekommen. Wenn er heute die Begründungen dafür liest, wird er zornig. In einem Bescheid von 1981 stellte die damals zuständige Behörde fest, dass seine Erwerbsfähigkeit in keinem für einen Versorgungsanspruch nennenswerten Umfang gemindert sei. »Bis dahin geleistete Zahlungen an mich wurden daraufhin eingestellt«, sagt Höckmayr. Er habe in der Folge viele Jahre lang auch keinerlei Therapien bezahlt bekommen.
Eine Ärztin des Versorgungsamts hatte damals nach einer Untersuchung in einem Schreiben, das dem SPIEGEL in Teilen vorliegt, konstatiert: »Der 13-jährige Junge wirkt (abgesehen von milieubedingten Einflüssen) unauffällig.« Höckmayr spricht von einem einen Skandal: »Psychische Traumata wurden nicht den schrecklichen Erlebnissen des Anschlags, sondern meiner Herkunft zugeschrieben.« Tatsächlich lebte die Familie Platzer in einfachen Verhältnissen im Hasenbergl, einem Münchner Arbeiterviertel. Für das Oktoberfest hatten sie wochenlang gespart.
Immer wieder versuchte Höckmayr in den späteren Jahrzehnten Ansprüche geltend zu machen – oft vergeblich. 1993 stellte das Versorgungsamt zwar erneut psychische Auffälligkeiten fest, urteilte jedoch pauschal, dass diese nicht dem Terroranschlag geschuldet seien. Mehrfach scheiterten Höckmayrs Widersprüche in den folgenden Jahren. Ein Sprecher des ZBFS sagte auf Anfrage, seine Behörde äußere sich »grundsätzlich nicht zu laufenden Verfahren«. Er betonte jedoch, die 1981 gewählte Formulierung, Höckmayr wirke abgesehen von milieubedingten Einflüssen unauffällig, könne »heute sicher als unangemessen bezeichnet werden«. Unabhängig vom Einzelfall, heißt es beim ZBFS, könnten im Sozialen Entschädigungsrecht »nur die gesundheitlichen Schädigungen als Schädigungsfolge anerkannt werden, die kausal auf ein schädigendes Ereignis zurückgeführt werden können«.
Vieles im Leben des Robert Höckmayr lief nicht so, wie er es sich als Kind erträumt hatte. Er verließ die Schule ohne jeden Abschluss. »Eigentlich wollte ich einmal Feuerwehrmann werden«, erinnert sich der 53-Jährige. Doch stattdessen schlug er sich viele Jahre lang mit Hilfsarbeiterjobs durch. Er ging putzen oder arbeitete als Fahrer. Höckmayr leidet bis heute unter dem Erlebten. Besonders schlimm sei es jedes Jahr zur Oktoberfestzeit, wenn, wie vor der Pandemie, Tausende Menschen mit Tracht durch München ziehen. »Das ist dann wie im Kinofilm. Alles kommt hoch.« Dann wache er »besonders oft schweißgebadet auf«, sagt der dreifache Familienvater.
Seine Ängststörungen hätten viel kaputt gemacht, sagt Höckmayr. Er meide größere Menschenmengen, gehe nicht in Kinos, Schwimmbäder oder Parks und könne auch nicht mit dem öffentlichen Nahverkehr oder dem Aufzug fahren. Sein Mandant lebe seit mehr als vier Jahrzehnten in einem »ständigen Lockdown«, sagt Anwalt Frey.
Richter will eigene »Unsensibilität ausgleichen«
Das Versorgungsamt habe ihn lange abgetan wie »einen Simulanten«, behauptet Höckmayr. Erst als sich die psychischen Spätfolgen verschlimmert hätten und auch die Schmerzen und Taubheitsgefühle zunahmen, wurde ihm rückwirkend ab 2004 ein GdS von 50 Prozent zuerkannt.
2009 hat die zuständige Behörde Höckmayr zumindest als schwerbehindert anerkannt. Attestiert wurden zahlreiche gesundheitliche Schäden, darunter etwa eine »chronisch-depressive Entwicklung«, Tinnitus, Bandscheibenschäden oder eine »Funktionsbehinderung der Wirbelsäule«.
Ein damaliger Richter des Sozialgerichts hatte Höckmayr im Streit um die Grundrente 2003 noch abgeraten, ein Fachgutachten einzuholen, um seine Ansprüche zu untermauern. Er halte es für nicht für sinnvoll. »Nach lästigen Untersuchungen, Röntgenbelastungen (und hohen Aufwendungen für die Staatskasse) ist dann aber ein negatives Ergebnis umso weniger befriedigend«, schrieb er damals. 2017 leitete der gleiche Richter dann aber doch eine Begutachtung auf vier Fachgebieten ein. Er wolle die »Defizite der Verwaltung und meiner eigenen seinerzeitigen Unsensibilität nach besten Kräften ausgleichen«, teilte der Richter Höckmayr in einem Brief mit.
Seit 2009 arbeitet Höckmayr bei der Stadt München. Doch aufgrund seiner vielen Jahre als Hilfsarbeiter und der äußerst geringen Rentenansprüche sowie Phasen, in denen er aus gesundheitlichen Gründen kaum arbeiten konnte, hat Höckmayr große Angst vor Altersarmut.
Bund, Freistaat und die Stadt München legten zwar nach mehr als 40 Jahren einen gemeinsamen Solidarfonds auf – insgesamt 1,2 Millionen Euro erhielten 90 Geschädigte. Höckmayr bekam davon 30.000 Euro. »Doch das wird später ja nicht reichen«, ist er überzeugt. Würde er seine Klage gewinnen, würde Höckmayr nach eigenen Angaben fast 500 Euro im Monat, also gut 200 Euro mehr Grundrente bekommen.
Immer wieder fühlten sich in den vergangenen Jahrzehnten Opfer des Wiesn-Attentats vom Staat im Stich gelassen. So beklagte etwa Renate Martinez, die 1980 durch die Explosion lebensgefährlich verletzt wurde, sie habe um jede Behandlung kämpfen müssen . »Niemand kümmerte sich damals um einen.«
Höckmayr wünscht sich, dass seine Klage allen Anschlagsopfern hilft. »Wir sind Menschen und keine bloßen Kostenfaktoren.«