
Fahndungsbilder: Wie entsteht eine Phantomzeichnung?
Phantombildzeichnerin Bellmann "Das Unterbewusstsein weiß, wie der Täter aussah"

Liane Bellmann, 51, arbeitet seit rund elf Jahren als Phantombildzeichnerin beim Landeskriminalamt in Wiesbaden. Zurvor arbeitete die Justizfachangestellte bereits 20 Jahre beim LKA. Eine Stellenausschreibung weckte ihr Interesse an dem Job.
SPIEGEL ONLINE: Frau Bellmann, gibt es das Gesicht des Bösen?
Bellmann: Nein, das glaube ich nicht. Es gibt Wölfe im Schafspelz und Wölfe, die wie Wölfe aussehen.
SPIEGEL ONLINE: Wie schaffen Sie es, den Zeugen, die gerade etwas Schlimmes erlebt haben, eine detailgetreue Beschreibung herauszulocken?
Bellmann: Das Unterbewusstsein weiß, wie der Täter aussah. Man muss nur die Türen zu den Erinnerungen öffnen. Das versuche ich, indem ich den Zeugen zunächst frei erzählen lasse und anschließend durch das Abfragen anderer Sinneseindrücke wie Geruch oder Tastsinn weitere abgespeicherte Erinnerungen aktiviere.
SPIEGEL ONLINE: Aber Sie brauchen doch ein Bild.
Bellmann: Es entsteht in zwei Schritten. Nach der verbalen Beschreibung entsteht im Computerprogramm ein Musterkopf, der sich in groben Zügen dem Täteraussehen angenähert hat entsprechend Ethnie, Alter, Hautfarbe und Geschlecht. Im zweiten Schritt wählt der Zeuge aus einem Bilderpool Details wie Augen, Haare oder Bekleidung aus und ich bearbeite sie mit Photoshop. So entsteht ein erstes Gesicht. Dann funktioniert es so, dass der Zeuge es sieht und weiß, dass seine Person so nicht aussah: So dünn war er nicht, so dick war er nicht. Die Nase war länger und so weiter. Es wird immer ein Vergleich mit der Erinnerung angestellt. Die Grundvoraussetzung ist natürlich, dass der Zeuge von sich sagt: "Ja, ich sehe den noch vor meinem geistigen Auge."
SPIEGEL ONLINE: Und wenn der Zeuge traumatisiert ist?
Bellmann: Man muss anfangs herausfinden, wo der Zeuge gerade in Bezug auf das Erlebte steht. Kann er mit der Situation schon umgehen oder ist er noch stark unter dem Eindruck des Geschehenen? Und dann kommt manchmal dazu, dass persönliche Probleme noch mit im Raum stehen, zum Beispiel Krankheit, finanzielle Sorgen oder private Probleme. Manchmal kommt viel für die Menschen zusammen, und das spürt man. Aber auch dafür werden wir durch psychologische Fortbildungen geschult.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie schon erlebt, dass jemand zusammengebrochen ist, weil ihm die Erinnerungen wiederkamen?
Bellmann: Ja, dass Zeugen in Tränen ausgebrochen sind oder körperliche Reaktionen zeigten, dass zum Beispiel die Hände ganz warm wurden oder sie anfingen zu zittern, das gab es schon.
SPIEGEL ONLINE: Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass ein Gesicht Sie verfolgt hat?
Bellmann: Gesichter in dem Sinn haben mich noch nicht verfolgt. Es sind eher die Tatabläufe selbst, die mich in Bezug auf ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit manchmal innehalten lassen. Ein Szenario, an das ich mich immer erinnern werde, war zum Beispiel, als eine Frau auf dem Weg zur Arbeit frühmorgens überfallen wurde und durch Schläge und Tritte zu Tode kam.
SPIEGEL ONLINE: In welchen Fällen wird überhaupt ein Phantombild angefertigt?
Bellmann: Wenn eine besondere Schwere der Tat vorliegt, beispielsweise bei Mord, Sexualstraftaten, organisiertem Verbrechen, aber auch bei Diebstählen und Einbrüchen, wenn sie in Serie stattfanden. Im Jahr sind das etwa 150 Bilder.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben schon als Kind sehr gerne Gesichter gezeichnet. Aber wird man deshalb Phantomzeichnerin?
Bellmann: Nein. Ich war 20 Jahre Angestellte hier im Landeskriminalamt, und dann wurde die Stelle der Phantomzeichnerin ausgeschrieben. Als ich die Stellenausschreibung las, war das wie eine Initialzündung, ich wusste: Ja, das ist meins.
SPIEGEL ONLINE: Sehen Sie sich eher als Ermittlerin oder als Künstlerin?
Bellmann: Eher als Künstlerin und Menschenfreund, denn man muss empathisch und offen auf die Leute zugehen können. Was die Kunst angeht: Wir arbeiten hier nicht in erster Linie mit dem Bleistift, sondern setzen als einziges LKA in Deutschland konsequent eine Computersoftware ein, die eine 3D-Simulation erzeugt.
SPIEGEL ONLINE: Damit arbeiten Sie moderner als das FBI, bei dem Sie Ihre Ausbildung zur Phantombildzeichnerin gemacht haben.
Bellmann: Beim FBI haben sie einen analogen Gesichterkatalog, den blättern die Zeugen auf der Suche nach ähnlich aussehenden Gesichtsdetails komplett durch. Hier haben Sie ovale Köpfe, eckige, runde. Der Zeuge sucht seine Formen für jedes Detail aus. Diese werden vom Phantombildzeichner notiert, und anschließend werden die einzelnen Komponenten mit dem Stift abgezeichnet und zu einer Gesichtsskizze zusammengefügt.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es Merkmale, die häufig falsch beschrieben werden?
Bellmann: Was schwierig für alle ist, sind andere Ethnien, die deutlich anders aussehen als wir.
SPIEGEL ONLINE: Warum ist das so?
Bellmann: Weil man zum Beispiel mit Asiaten oder Afrikanern weniger Kontakte hat und einem die Erfahrungen mit den individuellen äußerlichen Merkmalen nicht so geläufig sind wie die der eigenen Ethnie.
SPIEGEL ONLINE: Macht es einen Unterschied, ob ein Zeuge männlich oder weiblich ist?
Bellmann: Bekanntlich haben Frauen ja einen größeren Wortschatz als Männer. Deswegen sind Männer jedoch keinesfalls die schlechteren Zeugen, sondern sie drücken sich anders aus, indem sie sagen, ja, der Mund war schmaler. Frauen würden hier möglicherweise mehr Worte finden: Der Mund war schön geschwungen, oben schmaler unten dicker, Frauen bringen mehr Emotionen rein als Männer.
SPIEGEL ONLINE: Wie hoch ist Ihre Erfolgsquote bisher?
Bellmann: Wir haben eine Trefferquote von 20 bis 25 Prozent.
SPIEGEL ONLINE: Zufrieden?
Bellmann: Jedes erstellte Phantombild ist für sich selbst schon ein Erfolg, weil es dem Zeugen gelungen ist, das Bild in seinem Kopf mit dem Werkzeug eines Phantombilderstellers optisch sichtbar werden zu lassen. Wenn dann im Schnitt jedes vierte, fünfte Bild zusätzlich zur Ergreifung eines Täters führt, ist das sehr zufriedenstellend.