Studie zu Gewalt im Amt "Polizisten sagen fast nie gegeneinander aus"

Polizeieinsatz in Hamburg bei G20 im Juli 2017 (Archivbild)
Foto: KOALL/ EPA/ REX/ ShutterstockG20 ist ein Beispiel. Bei den Hamburger Krawallen im Juli 2017 wurden zwar Hunderte Beamte verletzt. Doch manche griffen womöglich zu hart durch: 148 Ermittlungsverfahren wurden gegen Polizisten eröffnet, überwiegend wegen Körperverletzung.
Die Bilanz: 78 Verfahren wurden eingestellt; es gab bisher keine Strafbefehle, keine Anklagen und damit auch keine Urteile.
G20 ist kein Einzelfall. Wenn der Verdacht überzogener Polizeigewalt besteht, bleibt das meist folgenlos. Rund 2000 Verfahren dieser Art gibt es im Jahr, weniger als drei Prozent davon münden in eine Anklage.
Diese Zahlen beruhen laut dem Kriminologen Tobias Singelnstein auf Angaben der Staatsanwaltschaften und der Strafverfolgungsstatistik. Er forscht an der Universität Bochum und arbeitet an einer ausführlichen Studie zu rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland (lesen Sie hier mehr darüber).

Tobias Singelnstein, 41, ist Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie der Universität Bochum.
SPIEGEL ONLINE: Wann ist Polizeigewalt rechtswidrig?
Tobias Singelnstein: Da kommen sehr verschiedene Situationen in Betracht. Das kann ein übermüdeter Beamter sein, der zutritt, obwohl die Person schon am Boden liegt und überwältigt ist. Oder ein Polizist, der schon zehn bis 20 Anzeigen hat und immer wieder über die Stränge schlägt. Die sogenannten "Widerstandsbeamten".
SPIEGEL ONLINE: Dafür gibt es einen Begriff?
Singelnstein: Intern werden die Kollegen so genannt. Diese Polizisten suchen die Eskalation und haben offensichtlich ein grundlegendes Problem mit Gewalt.
SPIEGEL ONLINE: Mit welchen Konsequenzen müssen sie rechnen?
Singelnstein: Meist mit keinen: Etwa 90 Prozent der Ermittlungsverfahren werden eingestellt.
SPIEGEL ONLINE: Es kann ja sein, dass die allermeisten Anzeigen nicht gerechtfertigt sind.
Singelnstein: Für einen Teil wird das stimmen, aber nicht für die große Masse. Vielmehr gibt es Besonderheiten, die einer Verurteilung entgegenstehen.
SPIEGEL ONLINE: Welche?
Singelnstein: Meist sind mehrere Beamte beteiligt. Auf der einen Seite habe ich also das mutmaßliche Opfer mit seiner Aussage. Auf der anderen Seite stehen Polizisten, die von der Justiz als besonders glaubwürdig eingestuft werden. Zudem sagen Polizisten fast nie gegeneinander aus. In dieser Konstellation tut sich die Staatsanwaltschaft mit einer Anklage schwer. Das ist auch ein Grund dafür, warum viele Betroffene vor einer Anzeige zurückschrecken.
SPIEGEL ONLINE: Wie groß ist das Dunkelfeld?
Singelnstein: Das ist schwer zu sagen. Ich nehme an, deutlich größer als das Hellfeld. Das herauszufinden ist ein Ziel der Studie. Außerdem wollen wir wissen, welche Gruppen besonders betroffen sind.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie eine Vermutung?
Singelnstein: Leute, die häufig Kontakt mit der Polizei haben, wie zum Beispiel Fußballfans, Aktivisten und Geflüchtete.
SPIEGEL ONLINE: Warum schrecken die Opfer vor einer Anzeige zurück?
Singelnstein: Nach dem Vorfall ist ihr Vertrauen in die Polizei niedrig. Da die Erfolgsaussichten so gering sind, raten Anwälte zudem meist von einer Anzeige ab.
SPIEGEL ONLINE: Was muss aus Ihrer Sicht passieren, damit sich das ändert?
Singelnstein: Wir brauchen ein größeres Problembewusstsein bei Politik und Polizei. Das Problem wird zu sehr als Entgleisung einzelner schwarzer Schafe abgetan.
SPIEGEL ONLINE: Manche Bundesländer haben inzwischen Beschwerdestellen geschaffen - Sensibilität für das Problem ist offensichtlich vorhanden.
Singelnstein: Diese Stellen gibt es in einigen Bundesländern, etwa in Sachsen-Anhalt oder Rheinland-Pfalz. Allerdings ist die Praxis sehr unterschiedlich. Der Fokus liegt nicht auf Polizeigewalt, es sind eher Ombudsleute, die für alle möglichen Beschwerden zuständig sind. Ähnlich wie beim Datenschutzbeauftragten brauchen wir eine Instanz, die von der Institution unabhängig ist.
Video: Bayerische Prügelpolizisten - Erst schlagen, dann fragen (SPIEGEL TV 2012)