Polizistenmord von Augsburg "Stadium des Unerträglichen"

Angeklagte Raimund M. (l.) und Rudolf R. vor Gericht: Depression mit wahnhaften Zügen
Foto: Stefan Puchner/ dpaAugsburg - Bevor Raimund M. seine Zelle verlässt und anderen Menschen begegnet, muss er sich vor Justizvollzugsbeamten nackt ausziehen. Ebenso auf dem Rückweg. Mit den Personen, die ihm begegnen, wechselt er kein Wort. Das ist ihm untersagt.
Raimund M. sitzt als Untersuchungshäftling in der Justizvollzugsanstalt Straubing, dem angeblich härtesten Knast Deutschlands. Der 60-Jährige soll in der Nacht zum 28. Oktober 2011 gemeinsam mit seinem Bruder Rudolf R. nach einer Verfolgungsjagd den Polizeibeamten Matthias V. getötet haben. Mit einer Kalaschnikow schoss einer der Brüder nach Ansicht der Staatsanwaltschaft gezielt auf den 41-jährigen Familienvater. Eine schusssichere Weste konnte ihn nicht retten.
Ende Dezember 2011 wurden die Brüder festgenommen; seit Februar müssen sie sich wegen Mordes vor der 8. Kammer des Landgerichts Augsburg verantworten. Nun wurde der Prozess überraschend unterbrochen: Raimund M. sei nicht mehr verhandlungsfähig, sagt sein Verteidiger Adam Ahmed.
Grund dafür seien die menschenverachtenden Haftbedingungen, die seinem an Parkinson erkranktem Mandanten schwer zusetzten. M.s Gesundheitszustand habe sich dramatisch verschlechtert. "Die psychische Belastung ist extrem hoch und hat mittlerweile das Stadium des Unerträglichen erreicht", sagte Ahmed. Gerichtsgutachter Ralph-Michael Schulte teilt diese Auffassung. Am Samstag wird er den Angeklagten untersuchen, ob er überhaupt noch im Stande ist, an der Verhandlung teilzunehmen.
Strenge Einzelhaft auf 15 Quadratmetern
Mit Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 9. Juli 2012 wurde gegen Raimund M. strenge Einzelhaft angeordnet, weil er als besonders gefährlich gilt. Seither sitzt er in einer Zelle, etwa sechs mal 2,5 Meter groß, ein Fenster, ein Stuhl, ein Tisch, ein Schrank, ein Bett, ein Waschbecken, eine Toilette, ein Fernseher.
Nach Angaben seines Verteidigers läuft seit 15 Monaten jeder Tag gleich ab: Um 6 Uhr betritt ein Justizvollzugsbeamter M.s Zelle, wartet auf eine Reaktion. Kommt keine, rüttelt er M. wach, fragt, ob er Hofgang haben will. Das Frühstück steht bereits seit 19 Stunden auf dem Tisch.
Um 8 Uhr wird M. abgeholt, muss sich vor den Justizvollzugsbeamten vollständig aus- und wieder anziehen. Erst danach darf er zum isolierten Hofgang: Er darf mit keinem anderen Häftling sprechen. Um 9 Uhr muss er sich erneut nackt ausziehen, wieder anziehen und zurück in seine Zelle. Ab jetzt ist er 23 Stunden in Einzelhaft untergebracht - ohne ein Wort mit einem anderen Menschen zu wechseln. Er darf nicht mit dem Friseur reden, der ihm einmal im Monat die Haare schneidet, an keinen Gemeinschaftsveranstaltungen der JVA teilnehmen, auch der Kirchgang ist ihm untersagt.
Kein Besuch mehr seit Ostern
Um 11.20 Uhr bringt ihm ein Beamter ein Proviantpaket: Mittag- und Abendessen für den Tag, außerdem Frühstück für den Tag darauf. Zum Trinken gibt es einen Tee pro Tag, sonst Leitungswasser. Um 16 Uhr öffnet sich ein letztes Mal seine Zellentür, ihm werden die Medikamente gereicht, die er einnehmen muss.
Seit Ostern hat Raimund M. keinen Besuch mehr bekommen: Ehefrau und Tochter ertragen nicht länger, wie der 60-Jährige gefesselt in einen Raum geführt und an eine Trennscheibe gesetzt wird. Wegen der Handschellen kann er den Telefonhörer nicht selbst halten, zuletzt half ihm ein Überwachungsbeamter. "Herr M. brach in dieser für ihn sehr emotionalen weil menschenunwürdigen Situation in Tränen aus, seine Nase fing an zu laufen", sagt Ahmed. Aufgrund der Fixierung war es ihm nicht möglich, ein Taschentuch zu benutzen. Ehefrau und Tochter brachen den Besuch ab.
Höhepunkte im eintönigen Tagesablauf sind neben dem Fernsehen laut Verteidiger die vom Arzt verordneten Physiotherapie-Sitzungen. M. kann sie selten wahrnehmen, weil der Therapeut meist nur an jenen Tagen in der JVA ist, an denen sein Patient im Gericht sein muss. Abwechslung bringen noch die wenigen Minuten, die M. auf einem Hometrainer strampeln kann, wenn es seine Gesundheit zulässt - doch auch davor und danach muss er sich vor den JVA-Beamten vollständig entkleiden. Das wöchentliche Gespräch mit einem Psychologen verweigert M., seit aus den vertraulichen Treffen Informationen durchgesickert sind, wie er und seine Rechtsanwälte sagen.
Verteidiger Ahmed spricht von "menschenverachtenden Maßnahmen". Erst am 23. August dieses Jahres wurde die vollständige Isolation erneut bestätigt: "Der Untersuchungsgefangene wird von allen anderen Gefangenen getrennt, ist von Gemeinschaftsveranstaltungen ausgeschlossen und in Einzelhaft genommen", heißt es in einer Stellungnahme der JVA Straubing.
"Auf lange Sicht wahrscheinlich schädigende Wirkungen"
Das greife massiv in die Rechte seines Mandanten ein, sagt Ahmed. Isolationshaft an sich stelle zwar keinen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention dar, "jedoch müssen hierbei die Umstände des Einzelfalls abgewogen werden".
Laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte ist Einzelhaft eine der härtesten Maßnahmen, die im Gefängnis getroffen werden können: "Der Europäische Ausschuss für die Verhütung von Folter hat zutreffend festgestellt, dass alle Formen der Einzelhaft ohne angemessene psychische und physische Anregungen auf lange Sicht wahrscheinlich schädigende Wirkungen haben und zu einer Verschlechterung der geistigen und sozialen Fähigkeiten führen". Deshalb dürfe Einzelhaft "nur in Ausnahmefällen" angeordnet werden.
Eine derart isolierte Unterbringung seines Mandanten verletze dessen Grundrechte, sagt Ahmed. Erst recht, weil die Einzelhaft nicht zeitlich begrenzt angeordnet worden sei.
Raimund M.s psychischer Zustand sei "besorgniserregend", Suizidgedanken schließe er nicht mehr aus, konstatiert Ahmed. Auch sei eine Verteidigung bei Aufrechterhaltung der Isolationshaft nicht mehr möglich. "Die psychische Verfassung des Mandanten ist so miserabel, dass sachbezogene Gespräche nicht geführt werden können."
Gerichtsgutachter Schulte bestätigte dies vor dem Schwurgericht und attestierte M. - bereits vor der Untersuchung am Samstag - eine fortgeschrittene Sprachstörung sowie eine schwere Depression mit wahnhaften Zügen. Solche Symptome seien geradezu typisch für Menschen nach einer längeren Isolationshaft, berichtete Schulte.
Staatsanwalt Hans-Peter Dischinger lehnte es ab, die Haftbedingungen für Raimund M. zu lockern. Der Vorsitzende Richter Christoph Wiesner will nun das Gutachten abwarten.