Im Prozess um den Mord an Walter Lübcke geht es auch um den Angriff auf einen Geflüchteten im Jahr 2016. Stephan Ernst soll den Iraker mit einem Messer attackiert haben. Warum wurde er damals nicht als Tatverdächtiger ermittelt?
Stephan Ernst mit Verteidiger Mustafa Kaplan: "Euch müsste man den Hals aufschneiden!"
Foto: Thomas Kienzle/ dpa
"Es ist kalt. Ich rauche." Es ist der letzte Satz von Ahmed I. am 6. Januar 2016, bevor ihm ein vorbeifahrender Radfahrer ein Messer in den Rücken rammt. Ahmed I. ist zu Fuß auf dem Weg von der Erstaufnahmeeinrichtung in Kassel-Lohfelden zur Tankstelle, etwa 1,2 Kilometer. Er will Zigaretten kaufen. Er trägt Kopfhörer, darüber die Kapuze seines Anoraks, in der Hand das Handy. Es ist 21.56 Uhr, als er die zwei Sätze via Sprachnachricht versendet.
Kein Auto hält an. Ahmed I. schleppt sich zur Straße, legt sich mitten auf die Fahrbahn, bis ein Fahrer anhält und Hilfe holt. Die Stichwunde zwischen linkem Schulterblatt und Wirbelsäule ist viereinhalb Zentimeter tief, drei Zentimeter lang; Nervenstränge sind durchtrennt, beide Beine sind kurzzeitig gelähmt. Nur knapp hat der Täter eine wichtige Arterie verfehlt.
Fast fünf Jahre später sitzt Ahmed I. neben seinem Anwalt Alexander Hoffmann in Saal 165 C des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main und hofft auf Aufklärung. Der Staatsschutzsenat verhandelt hier seit Juni den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und den Mordversuch an Ahmed I., dem Geflüchteten aus dem Irak, der in Deutschland Asyl beantragt hat.
Kein Alibi, keine Hausdurchsuchung
An diesem 29. Verhandlungstag ist ein Kriminalhauptkommissar geladen, er leitete damals stellvertretend die Sonderkommission "Fieseler", benannt nach dem Tatort im Gewerbegebiet. Er sagt, sie seien damals 40 Kriminalpolizisten gewesen, die sich des Anschlags auf Ahmed I. angenommen hätten. Er sei seit 36 Jahren bei der Polizei. "Das war von Anfang an ein auffallend hoher Personaleinsatz." Es klingt nach Rechtfertigung dafür, dass es fast vier Jahre dauerte, bis mit Stephan Ernst ein Tatverdächtiger gefasst werden konnte.
Die Fahnder orientierten sich damals an der Uhrzeit der Sprachnachricht und rekonstruierten mithilfe einer Videokamera, die zu einem Betrieb in der Nähe gehörte, dass um 21.39 Uhr ein Fahrradfahrer die Gegend passierte und um 21.57 Uhr ebenfalls, mutmaßlich derselbe.
Man habe sich auf zwei Tätertypen konzentriert, berichtet der Beamte: Auf Personen, die in der Vergangenheit mit einem Messer schwere Straftaten begangen hatten. Und auf Straftäter mit einem ausländerfeindlichen, rassistischen Motiv, sogenannte PMKR-Kandidaten. Die Abkürzung steht für "politisch motivierte Kriminalität – rechts".
Dass Stephan Ernst sogar beiden Typen entspricht, scheint damals untergegangen zu sein. Dabei wurde Ernst nach der Attacke überprüft: Er galt damals als "abgekühlter Rechtsextremist". In der Nähe des Tatortes befand sich sein Zuhause und seine Arbeitsstelle. Bei der Befragung gab er an, er habe Urlaub gehabt und sei zur Tatzeit daheim gewesen, bezeugen konnte das niemand; er füllte einen vorgefertigten Fragebogen aus. Das war’s.
Im Keller die mögliche Tatwaffe?
Dass Stephan Ernst bereits als 19-Jähriger einem türkischen Imam von hinten ein Messer in den Rücken gerammt hatte, scheint damals kein Thema gewesen zu sein. Warum nicht, will Anwalt Hoffmann jetzt vor Gericht wissen. "Natürlich haben wir uns gefragt, warum wir ihn nicht ermittelt haben", sagt der Kriminalbeamte. "Die Spurenlage hat es einfach nicht zugelassen." Hoffmann hakt nach: "Ist damals überlegt worden, bei Ernst eine Hausdurchsuchung zu machen?" Antwort: "Die bestimmten Tatsachen, die das begründet hätten, lagen nicht vor." Man habe 2016 gewisse Erkenntnisse von heute nicht gehabt.
Nebenklagevertreter Hoffmann sieht schwere Versäumnisse. Nach der Festnahme Ernsts im Mordfall Walter Lübcke wurde Ernsts Wohnhaus in Kassel durchsucht. Im Keller wurde ein Messer sichergestellt mit Spuren, die DNA-Merkmale aufweisen, wie sie auch Ahmed I. besitzt. Ein Sachverständiger sagte im Gericht, eine eindeutige Identifizierung sei nicht möglich. Er müsse sich jedoch sehr irren, wenn diese Spuren nicht von dem 27-jährigen Iraker oder einem Blutsverwandten stammten.
Stephan Ernst bestreitet, den jungen Iraker angegriffen zu haben. Sein Verteidiger Mustafa Kaplan versucht, den Verdacht in eine andere Richtung zu lenken: Am Abend vor der Tat soll es in der Asylbewerberunterkunft, in der Ahmed I. untergebracht war, "Bambule" gegeben habe. Es sei um Drogen gegangen, ein Bewohner habe ein Messer gezückt.
Im Februar stellte die Soko "Fieseler" ihre Ermittlungen ein mit einer kurzen Unterbrechung im September 2016, als in Aschaffenburg ein Mann vom Fahrrad aus ebenfalls hinterrücks eine Person mit einem Messer angegriffen hatte.
Erst im Rahmen der Ermittlungen im Mordfall Walter Lübcke rückte Stephan Ernst erneut ins Visier. Und damit auch das Verbrechen an Ahmed I. Ernst hatte in Vernehmungen angegeben, aufgehetzt durch die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht, am 6. Januar 2016 einen "Ausländer" verbal angegriffen zu haben: "Euch müsste man den Hals aufschneiden!" Ist es Zufall, dass er am selben Tag verbal ausgerastet sein will, an dem auch Ahmed I. angegriffen wurde?
Das "explizite Nennen des 6. Januars 2016" und der Bezug zu einem "Ausländer" habe die Fahnder in Kassel aufhorchen lassen, so der Kriminalhauptkommissar im Gericht.
Gegen Mittag muss der Vorsitzende Richter die Hauptverhandlung "aus Gründen des Infektionsschutzes" unterbrechen. Ein Mitglied des Senats habe soeben die Nachricht erhalten, dass es vergangenes Wochenende Kontakt zu einer Person gehabt habe, die inzwischen positiv auf das Coronavirus getestet worden sei. Am Montag soll der Prozess in Frankfurt fortgesetzt werden.