Prozess gegen mutmaßliche Sektenanführerin "Sie war eiskalt"

Die mutmaßliche Sektenanführerin Sylvia D. soll im Jahr 1988 einen kleinen Jungen getötet haben. Vor Gericht sah sie nun seit vielen Jahren ihren Sohn wieder - und der belastete sie schwer.
Von Julia Jüttner, Hanau
Angeklagte Sylvia D. mit einem ihrer Verteidiger: "Sie hat keine Miene verzogen"

Angeklagte Sylvia D. mit einem ihrer Verteidiger: "Sie hat keine Miene verzogen"

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Jörn Perske/ picture alliance/dpa

Keiner von beiden hat sich diese Begegnung gewünscht. Das ist offensichtlich. Sylvia D. schaut zunächst angestrengt in die Ferne, ihr erwachsener Sohn blickt aus dem Fenster. Jahrzehnte haben sich Mutter und Kind nicht gesehen. Nun treffen sie in Saal A 215 des Landgerichts Hanau erstmals wieder aufeinander. Als der Sohn im Zeugenstand Platz genommen hat, fixiert ihn die Mutter mit festem Blick.

Der Vorsitzende Richter Peter Graßmück sagt: "Frau D. ist Ihre Mutter?" Der Sohn zögert. "Ja." Graßmück hakt nach: "Ist das so?" Der Sohn nickt bekräftigend. Aus diesem Grund müsse er keine Angaben vor Gericht machen, belehrt der Richter den Sohn und verweist auf das Auskunftsverweigerungsrecht. "Wollen Sie Angaben machen?" Es sei nicht leicht für ihn, hier zu sein, sagt der Mann. "Aber es ist das Richtige."

Sylvia D. soll am 17. August 1988 den damals vier Jahre alten Jan in einen Sack eingeschnürt haben, der Junge starb. Sie sagt, er sei im Schlaf an erbrochenem Haferschleim erstickt. So hatten das damals Ermittler in ihrem Bericht notiert, auch Jans Eltern sind davon überzeugt.

Mittagsschlaf im zugeschnürten Leinensack

Zweifel an den Todesumständen schürte die "Frankfurter Rundschau" im Herbst 2014. Sylvia D. wurde schließlich wegen Mordes angeklagt und muss sich seit vergangenem Oktober vor Gericht verantworten. Eine Frau, 72 Jahre alt, die ihre besondere Beziehung zu Gott propagiert und angibt, seine Botschaften zu verkünden. Mit ihrem Ehemann, einem ehemaligen Pastor der evangelisch-methodistischen Kirche, und weiteren 30 Personen soll sie in einer sektenartigen Gemeinschaft in Hanau gelebt haben.

Auch ihr Sohn lebte in diesem Haus, in dem Anhänger wohnten oder ein- und ausgingen. Er ist ein wichtiger Zeuge. Der 46-Jährige sagt, an jenem Tag, an dem Jan starb, sei er zu Hause gewesen. Allein mit der Mutter - und mit Jan. Im Gericht beschreibt er, wie er Jan schreien hörte. Der Junge sei zur Nacht und zum Mittagsschlaf auf eine Matratze im Badezimmer gelegt worden. So auch an jenem 17. August 1988. Seine Schreie seien gedämpft nach oben gedrungen, er selbst habe oben im Treppenhaus gestanden und auf seinen Vater gewartet.

Dass das Schreien nur gedämpft zu hören war, irritierte den Sohn angeblich nicht. Als damals 14-Jähriger habe er gewusst: Jan steckte in einem zugeschnürten Sack, so wie der Junge immer zum Schlafen in einen Sack gesteckt wurde - so schildert er es vor Gericht. Das sei ein übliches Prozedere gewesen. Er selbst habe auf Befehl der Mutter den Jungen auch einmal zum Mittagsschlaf in einen dieser cremeweißen Leinensäcke stecken müssen. Oberstaatsanwalt Dominik Mies zeigt zur Demonstration im Gericht eine Nachbildung, nachgenäht von einer Verwaltungsangestellten: Ein gefaltetes Bettlaken, zugenäht und an der einzigen Öffnung mit einem Tunnelzug samt Kordel versehen.

"Sie hat keine Miene verzogen"

Ob Sylvia D. auf die Schreie des Kindes reagiert habe, will Richter Graßmück wissen. "Das hat sie nicht interessiert", sagt der Sohn. "Sie war eiskalt." Er schildert, wie sein Vater an diesem Tag in Begleitung von Jans Eltern nach Hause kam: Er habe zunächst einen lauten Schrei von Jans Mutter gehört und dann von der Treppe aus beobachtet, wie der Vater Jan aus dem Bad getragen habe, der Sack sei herabgefallen. Der Vater legte den Jungen demnach auf den Teppich im Flur, zog mit den Fingern Erbrochenes aus dessen Mund und versuchte, den Vierjährigen zu beatmen.

Sylvia D. habe die Bemühungen des Vaters weder unterstützt noch ihm assistiert. "Sie hat keine Miene verzogen. Nichts. Null", sagt der Sohn. Sylvia D. hat ihm inzwischen demonstrativ den Rücken zugewandt und starrt zur Richterbank.

Der Sohn bereitete seinen Auszug aus dem "totalitären System" im Elternhaus heimlich vor, wie er vor Gericht erzählt. Eines Tages habe ihn seine Mutter wegen Diebstahls angezeigt und er sei von ihren Anhängern 1992 buchstäblich aus dem Haus getreten worden. Seither sei er nie mehr dort gewesen.

Warum hätte Sylvia D. Jan töten sollen? Ihr Sohn hat konkrete Vorstellungen: Der Junge sei ein Störfaktor für die sektenähnliche Kommune gewesen. Er sei täglich malträtiert worden. Sylvia D. habe den Jungen als "Reinkarnation von Adolf Hitler" bezeichnet.

Wenige Tage nach dem Tod des Jungen habe die ganze Gemeinschaft eine ihrer "Generalversammlungen" abgehalten. Sylvia D., am Kopfende des Tisches, habe über Jans Bösartigkeit schwadroniert und verkündet, dass es besser sei, dass er geholt worden sei. Die Runde habe "gelassen" reagiert.

Die Beerdigung des Kindes sei im Stillen abgewickelt worden.

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