Prügelnde Jugendliche "Härtere Strafen - das bringt doch nichts"
SPIEGEL: Herr Professor, viele Menschen empören sich über die brutalen Prügelattacken von zwei jungen Männern, die in der Münchner U-Bahn einen Rentner schwer verletzten. Schon fordern Politiker ein härteres Vorgehen. Brauchen wir neue Gesetze?
Pfeiffer: Die Empörung der Menschen teile ich. Die Forderung nach härteren Gesetzen sehe ich primär als Wahlkampfprofilierung. Das bringt doch nichts. Beispiel: 1998 wurde im Strafgesetzbuch die Strafandrohung für Köperverletzungsdelikte deutlich angehoben. Und trotzdem sind seitdem solche Straftaten bei 21- bis 25-Jährigen weiter stark angestiegen.
SPIEGEL: Bei Jugendlichen haben sie noch stärker zugenommen.
Pfeiffer: Ja, aber die Jugendgewalt ist nicht durchweg nach oben gegangen. Tötungsdelikte und Raubtaten sind seit 1996 pro 100.000 14- bis 21-Jährige um 30 beziehungsweise 20 Prozent zurückgegangen. Und die schweren Körperverletzungsdelikte haben in der polizeilichen Kriminalstatistik für diese Altersgruppe auch deshalb um knapp 60 Prozent zugenommen, weil erheblich mehr angezeigt wird.
SPIEGEL: Warum wird in Diskos, Bahnhöfen und auf der Straße so viel geboxt, getreten und gestochen?
Pfeiffer: Einmal wächst besonders bei den männlichen Jugendlichen die Zahl derer, die sich in unserer Gesellschaft ausgegrenzt und benachteiligt fühlen - die zum Beispiel nach einem Schulabbruch keine Chance auf einen Ausbildungsplatz sehen, sich zu den Verlierern zählen. Und die deshalb eine Riesenwut haben, alle anderen für ihre Situation verantwortlich machen, nur nicht sich selbst. Sie betäuben ihren Frust und ihre Langeweile mit Alkohol, nehmen Drogen und gehen auf Leute los, die sie als privilegierter einschätzen als sich selbst oder die ihnen irgendwie in die Quere kommen. Um letzteren Fall scheint es sich in München gehandelt zu haben.
SPIEGEL: Sie sehen auch einen Zusammenhang mit Medienkonsum ...
Pfeiffer: ... ja, unsere Studien am Institut haben ergeben, dass ein Zusammenhang zwischen Gewalt und gewaltverherrlichendem Medienkonsum besteht. Und dass es ebenso einen Zusammenhang zwischen diesem Medienkonsum und dem Bildungsstand der Eltern gibt.
SPIEGEL: Können Sie Zahlen nennen?
Pfeiffer: Hat ein Elternteil Abitur und studiert, haben nur 11 Prozent der Zehnjährigen eine Playstation. Dagegen besitzen 43 Prozent der Kinder von Hauptschülern ein solches Ding. Ähnlich ist es mit dem Fernsehkonsum. Bei Eltern mit hohem Bildungsniveau steht nur bei 16 Prozent der Viertklässler ein Fernsehgerät im Kinderzimmer. In den sogenannten bildungsfernen Haushalten können sich 57 Prozent der Kinder mit einem eigenen Fernseher betäuben. Diese Kinder verfügen meist auch schon früher über einen Computer. Das sind die Unterschiede.
SPIEGEL: Aber wer vor dem Fernseher oder dem Computer sitzt, prügelt nicht.
Pfeiffer: Besonders das stundenlange Spielen brutaler Computerspiele stumpft ab. Unter anderem wird die Fähigkeit gemindert, sich in das Leiden oder die Schmerzen anderer einzufühlen. In Verbindung mit anderen Belastungsfaktoren führt das häufig dazu, dass nicht mehr zwischen virtueller Welt und realer Welt unterschieden wird; agiert wird, wie gerade auf dem Bildschirm erlebt.
SPIEGEL: Die Statistik weist aus, dass ausländische Jugendliche weitaus häufiger in Schlägereien verwickelt sind, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht.
Pfeiffer: Leider wahr. Wir haben bei Dunkelfelduntersuchungen mit 17.000 Jugendlichen festgestellt, dass junge Migranten um mehr als das Doppelte an Gewaltaktionen beteiligt waren als junge Deutsche. Bezeichnend: In den neuen Bundesländern, wo weitaus weniger Ausländer leben, gibt es inzwischen weniger Jugendgewalt als im Westen. Im Osten haben wir allerdings das Problem der ausländerfeindlichen Gewalt, wobei eines auffällt: Die rechten Schläger profilieren sich bei unseren Befragungen im Hinblick auf Gruppennormen und Einstellungen fast wie geistige Zwillingsbrüder der ausländischen Gewalttäter. Fest steht aber auch: In westdeutschen Großstädten wie München und Hamburg geht die Schere der Gewaltbelastung zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen immer weiter auseinander.
SPIEGEL: Wo liegen die Ursachen?
"Wenn der Mehmet mit Max und Moritz im Sandkasten spielt" - was Deutschland ändern soll
Pfeiffer: Ein zentraler Faktor ist die gravierende Bildungsbenachteiligung der jungen Ausländer. Von den männlichen jungen Migranten verlassen circa 22 Prozent die Schule ohne ein Abschlusszeugnis. Und dabei sind sie keineswegs dümmer. Im Alter von acht Jahren haben wir bei Migrantenkindern in Berlin dieselbe mathematische Intelligenz gemessen wie bei deutschen. Trotzdem lagen sie in der Mathenote um 0,4 hinter den Deutschen.
SPIEGEL: Aber das muss doch nicht schon zu mehr Gewalt führen.
Pfeiffer: Unterschätzen Sie diesen Faktor nicht. In München mussten wir beispielsweise feststellen, dass der Anteil der 15-jährigen Türken, die ins Gymnasium gehen, zwischen 1998 und 2005 deutlich abgenommen hat - während der von Hauptschülern entsprechend gestiegen ist. Parallel dazu hat auch die Gewaltrate der jungen Türken zugenommen. Aber es ist natürlich nicht nur die Bildungsmisere allein. Junge Migranten erleiden doppelt so oft wie junge Deutsche Misshandlungen durch Eltern. Und sie spielen schon als Zehnjährige dreimal so oft brutale Computerspiele. Beides zusammen fördert bei den Jungen nachhaltig die Orientierung an Werten und Verhaltensweisen der Macho-Kultur. So laufen sie dann einem falschen Konzept nach.
SPIEGEL: Obwohl sie ja in der Schule und im Alltag auch mit anderen Wertvorstellungen konfrontiert werden.
Pfeiffer: Das reicht aber nicht. Gerade ausländische Eltern, die oft vom Einkommen und von der Bildung her zur Unterschicht gehören, können ihren Kindern sehr häufig nicht jene Voraussetzungen bieten, die zum Erfolg in dieser Gesellschaft erforderlich sind. Das fängt bei der fehlenden Hausaufgabenbetreuung an und endet beim unkontrollierten Medienkonsum.
SPIEGEL: Was muss getan werden?
Pfeiffer: Wir brauchen Integration von der frühen Kindheit an. Unsere Untersuchungen zeigen, dass bei ausländischen Jugendlichen, die unter gleichen Bedingungen aufwachsen wie ihre deutschen Altersgenossen, auch die gleiche Entwicklung zu beobachten ist: Sie erzielen vergleichbare Ergebnisse in der Schule und sind auch nicht gewalttätiger. Deshalb plädiere ich dafür, dass schon in den Kindergärten deutsche und ausländische Jungen und Mädchen gezielt gemischt werden.
SPIEGEL: Aber wie soll das durchgesetzt werden?
Pfeiffer: Ich plädiere dafür, dass in jeder Kindergartengruppe die ersten 25 Prozent der Plätze für Kinder aus Migrantenfamilien freigehalten werden müssen. Dazu muss man natürlich bei den Eltern engagiert dafür werben, dass sie teilweise weitere Anfahrtswege in Kauf nehmen, damit der Schmelztiegel Kindergarten funktioniert. Wenn der Mehmet mit Max und Moritz im Sandkasten spielt, lernt er buchstäblich spielend deutsch, wird zu Kindergeburtstagen eingeladen und lernt auch die hiesigen Wertvorstellungen kennen. Spielt er dagegen nur mit Mustafa und Igor, dann leider nicht.
SPIEGEL: Und nach der Kindergartenzeit?
Pfeiffer: Es muss in diese Richtung weitergehen. Wir brauchen die Ganztagsschule, und zwar von der Grundschule bis zum Gymnasium. Und nicht etwa als Kinderbewahranstalt mit angeschlossener Suppenküche, sondern als Einrichtung, die überforderte Eltern entlastet. Der Vormittag dient der Wissensvermittlung. Der Nachmittag sollte unter einem Motto gestaltet werden: Lust auf Leben wecken durch Sport, Musik und soziales Lernen, das gezielt die Integration der jungen Migranten fördert.
SPIEGEL: Klingt sehr idealistisch. Konservative Politiker fordern dagegen, Eltern, die ihren Pflichten nicht nachkommen, das Sorgerecht zu entziehen.
Pfeiffer: Bringt nichts. Die Heime, in die die Kinder dann kommen würden, haben sich schon in der Vergangenheit als untauglich erwiesen.
SPIEGEL: Angesichts von Gewaltexzessen wie jüngst in München fordern auch viele Bürger strengere Strafen. Schließlich sind die beiden Täter schon sehr oft mit Gesetzesverletzungen aufgefallen.
Pfeiffer: Die beiden Täter werden zu Recht lange hinter Gittern sitzen müssen. Generell bin ich aber gegenüber der Forderung nach härteren Strafen sehr skeptisch. Jugendliche, gegen die Jugendarrest verhängt wird, werden zu 71 Prozent rückfällig. Bei Jugendstrafe sind es sogar über 80 Prozent.
Das Interview führte Bruno Schrep