RAF und Deutscher Herbst Eine Geschichte des Selbstbetrugs
Hamburg - Am 18. Oktober 1977 gegen 0 Uhr mitteleuropäischer Zeit stürmten in der somalischen Hauptstadt Mogadischu 25 Männer der Grenzschutzgruppe 9 den Lufthansa-Jet "Landshut". Die Maschine war zur Unterstützung der RAF fünf Tage zuvor von dem palästinensischen Kommando "Martyr Halimeh" auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt entführt worden. Drei der vier Hijacker wurden erschossen, alle 86 Geiseln befreit.
Um 7.41 Uhr entdeckte der Justizvollzugsbeamte Gerhard Stoll in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim den im Sterben liegenden RAF-Mann Jan Carl Raspe in dessen Zelle. Kurz darauf tot aufgefunden wurden Andreas Baader - mit einer Schusswunde im Kopf - und Gudrun Ensslin - erhängt. Die Gründer und Führer der Roten Armee Fraktion hatten, wie sie es wiederholt angedroht hatten, ihr "Schicksal selbst in die Hand genommen".
Um 20.40 Uhr am Abend des folgenden Tages öffneten Sprengstoffexperten der französischen Polizei in der Rue Charles Peguy im elsässischen Mulhouse den Kofferraum eines Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen. Sie fanden darin die Leiche des von einem RAF-Mann durch einen Schuss in den Kopf ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.
Diabolisch inszenierter Alptraum
Diese drei Ereignisse markierten sowohl Höhepunkt wie Ende der größten innenpolitischen Krise der westdeutschen Republik. Bis heute muten die 44 Tage der Entführung Schleyers wie ein diabolisch inszenierter Alptraum an. Eine nicht mehr als zwanzig junge Frauen und Männer starke, aber zu allem entschlossene Gruppe stellte die Machtfrage und brachte die Bundesrepublik an den Rand des Staatsnotstandes. Die RAF wurde zwar nicht für die Demokratie selbst zur existentiellen Bedrohung, aber für ihre führenden Vertreter.
Im "Deutschen Herbst", wie er später genannt wurde, erlebte die auf Konsens und Ausgleich gegründete Bundesrepublik ihre Feuertaufe. Damals, so registrierte der konservative Historiker Ernst Nolte erfreut, "war die Bundesrepublik zum ersten Mal ein Staat im Vollsinn des Wortes, weil die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung Tag um Tag und Stunde um Stunde mit ihrer Führung bangte und hoffte und schließlich trauerte". Auch SPD-Justizminister Hans-Jochen Vogel befand im Bundestag: "Die Menschen haben in diesen Tagen und Wochen gespürt, dass der Staat mehr sein muss als eine Schönwetterveranstaltung zur Wohlstandsmehrung."
Die düsteren Schwarz-Weiß-Fotos der zerschossenen Mercedes-Limousinen aus dem Jahr 1977 haben sich ebenso wie die Steckbriefe mit den Bildern gesuchter Terroristen in das kollektive Erinnerung der Westdeutschen eingebrannt. Die Geschichte der Bundesrepublik - vom wirtschaftlichen Wiederaufbau aus den Trümmern Nazi-Deutschlands über die Annahme der westlichen Demokratie bis zur Wiedervereinigung - glänzt als Kette von Erfolgen. Der Deutsche Herbst ist der schwarze Fleck auf der weißen Weste dieser Erfolgsgeschichte.
Nicht verstanden, nicht verarbeitet
Nur so lässt sich erklären, warum Anfang dieses Jahres derart emotional über eine mögliche Begnadigung des einstigen RAF-Mannes Christian Klar durch den Bundespräsidenten debattiert wurde.
Der sich über Monate hinziehende Streit verriet, dass die RAF und der Deutsche Herbst - obwohl vielfach in Büchern beschrieben und Filmen gezeigt - nicht verstanden und nicht verarbeitet sind. Es herrscht nach wie vor kein Einverständnis darüber, wie es dazu kommen konnte, dass im wohlanständigen Westdeutschland intelligente junge Menschen dem Staat den Krieg erklärten und 28 Jahre lang dessen Repräsentanten und Wirtschafts-Manager bedrohten und töteten.
Die RAF ermordete von ihrer Gründung im Mai 1970 bis zu ihrer Selbstauflösung im April 1998 insgesamt 33 Menschen. In ihren eigenen Reihen bezahlten 21 Mitglieder den "bewaffneten Kampf" mit ihrem Leben. Zum Vergleich: Auf deutschen Straßen und Autobahnen starben im vergangenen Jahr im Schnitt an zwei Wochenenden mehr Menschen.
"Theater des Terrorismus"
Warum also die andauernde Aufregung um die RAF? Der Historiker Walter Laqueur lästerte schon 1977 über den "endlosen Strom von Publikationen" über den westeuropäischen Terrorismus: "Selten ist in der Geschichte so viel über so wenige und so wenig geschrieben worden". Doch Laqueur lieferte auch eine Erklärung, warum das Verhältnis zwischen realer Wirkung und öffentlicher Erregung so asymmetrisch ist: "Wenn Terrorismus trotz allem so viel Aufmerksamkeit erregte, geschah dies wegen seines dramatischen Charakters. Millionen Menschen waren fasziniert, aber direkt betraf es nur einige wenige."
Der Historiker ging so weit, die Terroristen als "Superunterhalter unserer Zeit" zu charakterisieren: Sie hätten schnell gelernt, "dass terroristische Aktion für sich allein so gut wie nichts, Publizität dagegen alles bedeutet." Auch der italienische Soziologe Marco d'Eramo, der den Begriff vom "Theater des Terrorismus" prägte, wusste um die Abhängigkeit der Terroristen von den Massenmedien: Die terroristische Aktion entfalte ihre Wirkung nur dank ihrer medialen Verbreitung - ohne sie würden selbst die spektakulärsten Anschläge wirkungslos verpuffen.
"Der quantitativen Bedeutungslosigkeit des Terrorismus", schrieb die Historikerin Dorothea Hauser, "steht vielmehr eine enorme symbolische Relevanz gegenüber." Hauser sieht die Wirksamkeit der RAF darin begründet, dass diese "die legitimatorischen Grundlagen" von Staat und Gesellschaft angriff.
Luxusphänomen RAF
In jedem Fall stellt die RAF mit einer in Deutschland seit dem Aufstieg der Nationalsozialisten nicht gekannten Radikalität den Staat und sein Wirtschaftssystem in Frage. Was die fundamentalistische Attacke noch unheimlicher machte: Es waren keine unterdrückten Arbeiter, die da mordeten, sondern Söhne und Töchter aus der Mitte der Gesellschaft. Es handelte sich nicht um Rebellen aus der deklassierten Unterschicht, sondern um im Wohlstand aufgewachsene Abiturienten, Kinder der Elite, wie Susanne Albrecht, die einmal erklärte: "Ich hatte die Lachs- und Kaviarfresserei satt."
Der im Juli 1977 erschossene Vorstandvorsitzende der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, hätte mit seinem Mörder Christian Klar eine wesentlich interessantere Diskussion über das Weltwirtschaftssystem führen können als mit den meisten seiner Angestellten. Und es war die Tochter eines seiner besten Freunde, eines erfolgreichen Hamburger Seerechtsanwalts, die Ponto seine Mörder ins Haus brachte.
Die RAF war so auch die zugespitzte Form einer Auseinandersetzung im westdeutschen Bürgertum. Dabei handelte es sich, nach dem Soziologen Norbert Elias, nicht um die Auseinandersetzung in der einzelnen Familie, sondern um einen "sozialen Generationskonflikt", der in den sechziger Jahren den gesamten Mittelstand ergriff.
Elias versuchte auch die Frage zu beantworten, warum ausgerechnet in einer Zeit, in der sich die westdeutsche Gesellschaft während der Kanzlerschaft Willy Brandts liberalisierte, junge Menschen einen neuen Faschismus ausmachten und zur Gewalt griffen. "Menschengruppen revoltieren gegen das, was sie als Unterdrückung empfinden", so Elias, "nicht dann, wenn die Unterdrückung am stärksten ist, sondern gerade dann, wenn sie schwächer wird." Die RAF war, so gesehen, ein Luxusphänomen.
Selbstbetrug auf allen Seiten
Neben den Analysen von Elias und anderen Sozialwissenschaftlern liegen inzwischen Biographien vor, etwa über Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, die deren Radikalisierung und Weg in die Gewalt detailliert beschreiben. Zwischen den Erklärungsansätzen aber klafft noch ein Loch. Die nicht nur für Historiker zentrale Frage - Wie konnte das geschehen? - ist für das Phänomen RAF mitnichten befriedigend beantwortet.
Die Geschichte der Terrorgruppe ist nach wie vor auch eine Geschichte des Selbstbetruges auf allen Seiten. Die RAF-Kader, die zunehmend zu paranoiden Mitgliedern einer von der Gesellschaft isolierten Sekte wurden, überschätzten sich maßlos. "Sie fühlten sich", so einer ihrer ehemaligen Anwälte, "stets auf Augenhöhe mit Helmut Schmidt."
Die Gründer der RAF und ihre Nachfolger erklärten dem Staat den Krieg, obwohl sie wussten, dass er von der Mehrheit der Bürger nicht getragen wurde. Ihre Communiqués - der Ton "militärisch knapp, die Terminologie phrasenhaft, der Satzbau bürokratisch", so Hans Magnus Enzensberger - ließen ahnen, wogegen sie kämpften. Zu erklären, wofür sie eigentlich kämpften, welche Gesellschaftsordnung sie durchsetzen wollten, darauf verzichteten sie. Sie wussten es selbst nicht.
Serienweise Sondergesetze
Die meisten mit der RAF konfrontierten Politiker betrieben ebenfalls einen Selbstbetrug, der bis heute andauert. Sie erklärten monoton, die Mitglieder der RAF seien gewöhnliche Kriminelle und würden auch wie solche behandelt. Gegen die behauptete Gleichbehandlung spricht schon die Serie von Sondergesetzen, die der Bundestag beschloss, um den Prozess gegen die RAF-Führung in Stammheim über die Bühne zu bringen und die "terroristische Gefahr" abzuwehren.
Auch die teils geradezu hysterische Debatte um eine mögliche Begnadigung Christian Klars offenbarte, dass die RAF weit mehr ist als irgendeine Verbrecherbande.
Bei der Einordnung der RAF blieb schon Helmut Schmidt, der ihr im Herbst 1977 die entscheidende Niederlage beibrachte, untypisch widersprüchlich. Auf der einen Seite attestierte der sozialdemokratische Kanzler den RAF-Mitgliedern eine "geistige und charakterliche Deformation", auf der anderen Seite adelte er sie als ungemein gefährlichen politischen Gegner. "Sie wollen die Funktionstüchtigkeit unseres demokratischen Gemeinwesens unmöglich machen", so Schmidt. Mehr noch: "Sie wollen demokratische Politik schlechthin unmöglich machen."
Hohe Moral - militärisch vollstreckt
Schon die Auswahl ihrer Opfer zeigt, dass die Charakterisierung der RAF-Terroristen als gewöhnliche Kriminelle irreführend ist. Es waren nicht untreue Ehefrauen oder -männer, die die RAF umbrachte, keine Juweliere oder Mitglieder einer rivalisierenden Gangsterbande. Sie wurden nicht im Affekt getötet, sondern aufgrund kühler, taktischer Überlegungen.
Die Aufarbeitung der RAF-Taten - ein Armutszeugnis ohnegleichen
Die Opfer der RAF wurden nicht als Individuen angegriffen, sondern einzig und allein, weil sie in dem bekämpften Staat oder seiner Wirtschaft wichtige Funktionen ausfüllten. Der angeblich faschistische Staat, seine kapitalistische Wirtschaft und die westliche Welt unter Führung der USA verschmolzen für die Terroristen zu einem mörderischen modernen Leviathan. Dass ab 1977 auch Fahrer und Begleiter von RAF-"Zielpersonen" ermordet und als Kollateralschäden eingeplant wurden, markiert die moralische Perversion einer Gruppe, die sich angemaßt hatte, eine höhere Moral mit militärischen Mitteln zu vollstrecken.
Aber nicht nur die Frage, warum die RAF entstehen und zu einer Killertruppe mit Genickschusstaktik mutieren konnte, ist noch zu klären. Auch ihre Geschichte steckt nach wie vor voller Rätsel: Wer hat den Generalbundsanwalt Siegfried Buback erschossen? Wer ermordete Schleyer?
Was spielte sich in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 in Stammheim ab, dem laut baden-württembergischem Justizministerium "sichersten Gefängnis der Welt"? Wie konnte es geschehen, dass angeblich unbemerkt Waffen und Sprengstoff nach Stammheim geschmuggelt wurden, die Gefangenen auch in Zeiten strikter Kontaktsperre miteinander munter kommunizierten? Konnte es der Gefängnisleitung trotz der Abhöranlagen im 7. Stock in Stammheim wirklich entgangen sein, dass die RAF-Führung einen kollektiven Selbstmord plante, falls ihre Freipressung scheitern sollte?
Armutszeugnis für die juristische Aufarbeitung
Doch auch für die Geschichte der RAF nach dem Deutschen Herbst drängen sich etliche Fragen auf: Wie konnte es dazu kommen, dass Hunderte von Terrorfahndern nicht dahinter kamen oder dahinter kommen wollten, dass zehn RAF-Mitglieder in der DDR Asyl fanden? Wie ist es möglich, dass von den letzten fünf Morden der RAF kein einziger auch nur ansatzweise aufgeklärt wurde?
Die juristische Aufarbeitung der RAF-Aktionen ist ein Armutszeugnis ohne Beispiel für die Bundesanwaltschaft, die oberste Anklagebehörde der Republik, und für das Bundeskriminalamt. Dass es für die Bundesanwaltschaft offenbar wichtiger war, alle ergriffenen RAF-Mitglieder irgendwie zu verurteilen, als deren Tatbeiträge und individuelle Schuld festzustellen, ist ein andauernder politischer Skandal.
Der Beitrag der einstigen RAF-Mitglieder zur historischen Aufarbeitung der Geschichte ihrer Gruppe ist allerdings nicht weniger skandalös. Viele halten noch immer an der Propagandalüge fest, nach der die Führung der ersten Generation in Stammheim von Agenten welcher dunklen Macht auch immer ermordet wurden. Nur einige wenige fordern eine öffentliche Diskussion über diese und andere Fragen der RAF-Geschichte und äußern sich zu ihrer eigenen Geschichte in der Terrorgruppe.
Zu den Aktionen selbst, dazu, was welches RAF-Mitglied persönlich zu verantworten hat, schweigen die Allermeisten. In manchen Fällen tun sie dies, um ihre einstigen Kampfgenossen nicht in die Gefahr neuer strafrechtlicher Verfolgung zu bringen. Doch in vielen Fällen ist das Schweigen zum Habitus geworden.
Schweigen wie die Väter
Dabei bringen Ex-RAF-Mitglieder zu ihrer Rechfertigung gerne vor, dass die Elterngeneration über die NS-Verbrechen geschwiegen und einen Staat aufgebaut habe, in der einstige SS-Mitglieder wie Hanns Martin Schleyer mühelos in höchste Ämter gelangen konnten. Gleichzeitig schweigen sie über ihre Aktionen ebenso konsequent wie ihre Väter über die Kriegsverbrechen an der Ostfront. Die britische Publizistin nannte das erste auf Englisch erschienene Buch über die RAF "Hitler's Children".
Die Emotionen, die das Thema RAF bis heute hervorruft, erschweren die anstehende historische Einordnung dieses Abschnitts in der Geschichte der Bundesrepublik. Hans Magnus Enzensberger diagnostizierte schon vor bald 20 Jahren: "Der Terrorismus erzeugt eine Paranoia, die sich nicht an die Psychiatrie delegieren lässt, weil sie kein individueller, sondern ein öffentlicher Zustand ist."