Randale in Großbritannien Aufstand der Frustrierten
Hamburg - Rachel Cerfontyne hat viel zu tun in diesen Tagen. Sie soll Erklärungen finden und wiedergutmachen, was ihre Kollegen am vergangenen Donnerstagabend angerichtet haben. Auf Commissioner Cerfontyne ruht die Hoffnung, sie könne gleichsam die Proteste auf den Straßen Londons besänftigen, den Mob aus Jugendlichen, die mit Kapuzen auf dem Kopf Schaufenster eintreten, Brände legen, Geschäfte plündern.
Miss Cerfontyne arbeitet bei der Independent Police Complaints Commission (IPCC). Und sie leitet die Untersuchung, die klären soll, ob die Polizei sich etwas zuschulden hat kommen lassen im Fall des getöteten Mark Duggan, der am Donnerstagabend erschossen wurde - und von dessen Tod seine Familie aus den Medien erfuhr, nicht von den Beamten.
Vor einer Polizeiwache demonstrierten Freunde und Familie Duggans am Samstag gegen die schlechte Informationspolitik. Sie wollten wissen, was passiert war, warum Duggan sterben musste. Aber die Polizei, die in der Vergangenheit immer wieder Angehörige auf die Wache zum Gespräch gebeten hatte, ignorierte die Menschen. Wut kam auf, unter die friedlichen Demonstranten mischten sich Randalierer, Hunderte zogen durch Tottenham, plündernd, pöbelnd. Die Polizei unternahm, nach allem was bislang bekannt ist, zu wenig. Auf den Ausbruch der Gewalt war sie ganz offensichtlich nicht vorbereitet.

Jugendgewalt in London: Rasende Jugendliche, überforderte Polizei
In zu vielen Stadtteilen Londons und inzwischen auch in Liverpool, Birmingham und Bristol brechen die Gewaltorgien nahezu zeitgleich aus. 16.000 Polizisten will Premier David Cameron in der Nacht zu Mittwoch auf die Straßen schicken, sie sollen für Ordnung sorgen, wo gerade das Chaos herrscht. 6000 waren es bislang.
Rachel Cerfontynes Job ist die Schadensbegrenzung. Inzwischen hat die Polizei sich bei der Familie des Opfers entschuldigt.
Es geht nicht um Kapitalismuskritik - es geht um Krawall
Zwar kann die Polizei die Randale auf den Straßen durch ein dichtes Netz hochauflösender Überwachungskameras beobachten. Sie sehen Menschen, die Teppiche, Turnschuhe oder Plasmafernseher aus zerstörten Läden tragen.
Per Twitter und Facebook gibt es Aufrufe, aus den Läden so viel mitzunehmen wie nur irgend möglich. Augenzeugen berichten, in einigen Läden hätten Jugendliche die Kleidung sogar anprobiert, bevor sie mit ihr davongeeilt seien. Manche Plünderer sind auf den Videobildern klar zu erkennen. Stoppen kann sie die Polizei, trotz zahlreicher Festnahmen, bisher nicht.
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Die Rolle der Polizei ist eine wichtige in diesem Konflikt. Warum starb der dunkelhäutige Mark Duggan? Warum reagierten die Beamten auf die ersten Gewaltausbrüche so zögerlich? Eine Untersuchung läuft bereits. Immer wieder gibt es Rassismus-Vorwürfe gegen die britische Polizei, vor allem gegen den Londoner Metropolitan Police Service, kurz Met.
Eine Untersuchung der Menschenrechtsorganisation Equality and Human Rights Commission stellte 2010 fest, dass Bürger afrokaribischer Herkunft in London viermal häufiger von der Polizei durchsucht werden, als solche mit heller Hautfarbe. Eine vergleichbare Studie der London School of Economics setzt den Wert sogar noch höher an - demnach werden dunkelhäutige Bürger 26 Mal häufiger von der Polizei durchsucht als weiße Engländer.
"Wir haben eine starke Diskrepanz bei der Zahl der Personenkontrollen festgestellt", sagte eine Sprecherin der Menschenrechtsorganisation. "Ob und inwieweit sich eine solche Praxis auf die Stimmung in bestimmten Bevölkerungsschichten auswirkt, muss die Polizei ermitteln."
"Stop and Search" werden die Kontrollen der Beamten im Englischen genannt, Anhalten und Durchsuchen. Möglich sind sie, weil die Briten zunehmend um ihre Sicherheit fürchten. Die Terroranschläge vom Juni 2005 haben die Menschen nervös gemacht. Mehr Sicherheit durch mehr Kontrollen, lautet die Devise. Und auch die sogenannte "Knife Crime", Gewalt verübt mit einem Messer, soll durch verschärfte Kontrollen eingedämmt werden. Im Fokus der Polizei stehen in beiden Fällen vor allem ethnische Minderheiten.
Der Eindruck: Die Politiker mauscheln mit den Medien
"Für die schwarzen Jugendlichen wirkt das Verhalten der Polizei wie reine Schikane", sagt Paul Bagguley, der an der Universität Leeds Protestkulturen und Ausschreitungen untersucht. "Sie haben das Gefühl, die Polizei habe es auf sie abgesehen." Aus Sicht der Jugendlichen handelt es sich um eine Machtdemonstration - eine ungerechtfertigte noch dazu. In den meisten Fällen finden die Beamten nicht, was sie gesucht oder vermutet haben.
"Die Menschen protestieren nicht gegen die Armut und die hohe Arbeitslosigkeit", sagt Bagguley. "Vielmehr sind die Proteste ein Effekt der Armut und Arbeitslosigkeit." Die Jugendlichen erlebten die Polizei als respektlos - und konterten mit eigener Respektlosigkeit. "Die Proteste sind eine Machtdemonstration." Die Krawalle sind kein politischer Protest, sie spiegeln nur wider, was die Politik versäumt hat.
Es sind keine Banken, die die Menschen verwüsten - wie in Athen. Sie haben es auch nicht auf McDonald's-Filialen abgesehen - wie regelmäßig bei den Randalen zum 1. Mai. Es geht nicht um Kapitalismuskritik, es geht um Krawall.
"Griechenland und Spanien waren anders als das, was wir in London erleben. Vergleichbar ist die Situation vielmehr mit den Protesten in den Pariser Banlieues", sagt Bagguley. Die Randalierer in London haben keine explizite politische Agenda. "Sie tragen ein iPad aus dem Laden, weil es ein Statussymbol ist und sie gerne eines haben wollen."
Die Schere zwischen Arm und Reich werde immer größer. "Die Menschen fühlen sich schon lange nicht mehr durch die Politiker repräsentiert. Die führen ein elitäres Leben, mauscheln mit den Chefredakteuren. Der 'News of the World'-Skandal hat diesen Gedanken noch verstärkt."
Ganze Problemviertel Londons habe man zu No-Go-Areas erklärt, in denen Polizeipräsenz kaum noch spürbar sei, so der "Guardian". Gewaltprävention, ein Dialog mit den Bürgern oder der Schutz von Privateigentum finde praktisch nicht mehr statt. In einigen dieser Viertel kam es in den vergangenen Tagen zu den heftigsten Straßenschlachten. Die Polizei habe sich die Gewaltausbrüche "selbst zuzuschreiben" ätzt der konservative "Telegraph". "Die Polizei behandelt uns schwarze Mitbürger, als wären wir nichts wert", sagte ein Sozialarbeiter der Zeitung.
Soziologe Bagguley meint, der Protest könne in den nächsten Tagen noch auf weitere Städte überschwappen. "Vielerorts gibt es vergleichbare Probleme."