Flachbildschirme und Cognac gestohlen Razzien bei »Planenschlitzern« in Deutschland und Rumänien

Sie stehlen nachts auf Rastplätzen wertvolle Fracht der Konkurrenz: Mehrere Transportunternehmer verdienten offenbar nicht allein mit legalen Touren ihr Geld. Ermittler gehen nun gegen die Bande vor.
Ausgeraubter Lastwagen im Emsland

Ausgeraubter Lastwagen im Emsland

Foto: Polizei Emsland

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Die Polizei geht seit den frühen Morgenstunden gegen eine Bande vor, die sich auf den Diebstahl von Lkw-Ladungen spezialisiert hat. Mehr als 20 Haftbefehle sollen nach SPIEGEL-Informationen vollstreckt werden. Der Schwerpunkt der Razzien ist ein kleiner Ort im Süden Rumäniens: In Bezdead leben gut 4500 Einwohner und überdurchschnittlich viele gut betuchte Lastwagenfahrer. Ermittler aus Deutschland, Frankreich und Rumänien durchsuchen die Villen und Geschäftsstellen von mehreren Transportunternehmern in dem Dorf. Sie sollen nicht nur legale Ladungen durch Europa kutschiert haben, sondern plünderten mutmaßlich in Frankreich und Deutschland in großem Stil andere Lastwagen.

Tatort an der »Warschauer Allee«

Die Ermittler durchsuchen rund 40 Objekte mutmaßlicher Diebe und Hehler in Rumänien und neun weitere Objekte im Raum Gütersloh, wo Komplizen der sogenannten Planenschlitzer leben.

Der größte Tatort in Deutschland liegt nach SPIEGEL-Recherchen an der »Warschauer Allee«. So nennen Lkw-Fahrer die Route, die von Amsterdam über mehrere Autobahnen in Richtung Osten führt – bis zur polnischen Hauptstadt. An die 200 Fernfahrer stehen jede Nacht mit ihren Trucks auf dem Autohof »Holsterfeld« an der A30 bei Rheine.

Zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens, wenn die Fahrer in ihren Kabinen schlafen, kommen die »Planenschlitzer«.

Die Diebe fahren mit eigenen Lastern vor und laden die Fracht um. Wenn der Fahrer den Diebstahl bemerkt, sind die Täter meistens längst fort. An der A30 soll die gut organisierte Bande aus Brezdead 112 Trucks geplündert haben, fast alle auf dem Rastplatz an der A30. Die zentrale Polizeiinspektion im niedersächsischen Lingen hat eine Ermittlungsgruppe mit dem Namen »Holsterfeld« eingerichtet. Den Schaden schätzt die Polizei auf eine Million Euro.

Auf europäischer Ebene koordiniert Europol die Ermittlungen. »Man benutzt zum Teil eigens präparierte Fahrzeuge mit seitlichen Öffnungen in den Planen, um direkt neben dem Opfer zu parken«, sagt Michael Will, Leiter der Abteilung Eigentumskriminalität bei Europol. »Damit der Lkw-Fahrer keine Hilfe rufen kann, werden sogenannte Jammer eingesetzt, die den Telefonempfang stören.«

Im Wohnmobil zum Ausspähen des Rastplatzes

In den acht hauptbetroffenen EU-Staaten lag der Schaden durch »Planenschlitzer« nach Schätzung von Versicherungen 2019 bei mehr als 75 Millionen Euro. Lastwagenfahrer, die es wagen, sich zur Wehr zu setzen, werden laut Europol-Abteilungsleiter Will eingeschüchtert oder körperlich angegangen. Kürzlich sei in Frankreich ein ausgeraubter Trucker erstochen worden.

In der deutsch-niederländischen Grenzregion fiel der Polizei bereits 2015 eine Bande auf, die sich auf Lastwagenladungen spezialisiert hatte. Die Verdächtigen kamen aus Albanien und fuhren mit einem Wohnmobil auf den Rastplatz an der A30, um ihn auszuspähen. Wenn die Späher interessante Waren entdeckten, kamen ihre Kollegen mit einem Sattelschlepper dazu, auf den die Beute umgeladen wurde. Meistens nahmen sie nur einen Teil der Ladung mit. Mal waren es Laptops für 10.000 Euro, drei Paletten mit Gillette-Rasierern, 170 Paar Adidas-Turnschuhe, dann wieder Laptops.

Die Lingener Ermittler statteten den Rastplatz mit Überwachungskameras aus und arbeiteten mit einem Sicherheitsdienst zusammen, der nachts Kontrollfahrten machte. Schließlich konnten einige Mitglieder der Bande festgenommen werden. Auf dem Autohof wurde es ruhiger. Doch nur vorübergehend.

Kurz darauf entdeckte eine Bande aus Rumänien den Rasthof Holsterfeld für sich. Die Spur führte zu einem großen Transportunternehmen aus Bezdead, dessen Fahrer auf dem Rückweg von legalen Touren durch Europa an der A30 eine lukrative Pause einlegten. Vor allem in den Wintermonaten verging kaum eine Nacht ohne eine aufgeschlitzte Lkw-Plane. Die Ermittler wunderten sich, dass es im Sommer verhältnismäßig ruhig war.

Über Europol erfuhren sie den Grund dafür: In den Sommermonaten waren die Bezdeader »Planenschlitzern« anscheinend vorzugsweise in Frankreich aktiv, jedenfalls ermittelte bereits die französische Gendarmerie gegen die Truppe. 2018 zerschlugen französische Ermittler eine Bezdeader Gang. Einige wenige Verantwortliche wurden verhaftet, andere kamen mit Bewährungsstrafen davon.

TV-Geräte für 200.000 Euro

Das bedeutete allerdings nicht das Ende der nächtlichen Raubzüge. Ehemalige Lastwagenfahrer des rumänischen Unternehmens machten sich selbstständig und gründeten eigene, kleine Transportunternehmen. Das illegale Geschäft lief weiter, die EG »Holsterfeld« kam kaum hinterher. 2019 registrierten die Ermittler 115 aufgeschlitzte Lkw an der A30, 2020 waren es 124, mehr als 90 Prozent der Taten geschahen auf dem Rasthof bei Rheine.

Für die Diebe sind die nächtlichen Beutezüge sehr lukrativ. Bei einer Tour stahlen sie 200 Flachbildschirm-Fernseher im Wert von 200.000 Euro, ein anderes Mal war es Hennessy Cognac für 100.000 Euro.

Filmreife Szene auf der Motorhaube

Zwar steht die Polizei oft in der Nacht mit Zivilbeamten auf dem Autohof Holsterfeld. »Der Platz ist allerdings sehr groß und unübersichtlich, es ist, als würden sie durch ein Maisfeld laufen«, sagt ein Ermittler, »einmal waren die Beamten bis vier Uhr morgens vor Ort und eine halbe Stunde später wurde ein Lkw ausgeräumt.«

Besonders dreiste Diebe versuchten im März einen Lastwagen auf einer Bundesstraße während der Fahrt zu kapern. Einer kletterte über das Schiebedach auf die Motorhaube und versuchte, ein Bügelschloss aufzuflexen, das auffällig am Laderaum des Sattelschleppers hing. Der Niederländer hatte Laptops geladen. Die filmreife Szene fiel dem Fahrer allerdings rechtzeitig auf. Er sah im Rückspiegel, wie beim Flexen die Funken flogen und rief die Polizei. Nach einer wilden Verfolgungsjagd wurde einige Mitglieder der sechsköpfigen Bande gestellt.

Im rumänischen Bezdead wollen die deutschen und französischen Ermittler Hehlerware, Autos und Immobilien im Wert von rund 2,5 Millionen Euro arretieren lassen. »Ohne die länderübergreifende Zusammenarbeit wäre dieser Zugriff nicht möglich gewesen«, sagt Michael Maßmann, Präsident der Polizeidirektion Osnabrück. Den Ermittlern sei ein Coup gegen die organisierte Eigentumskriminalität gelungen.

Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels war von Hennessy Whisky die Rede. Tatsächlich handelt es sich um Cognac, wir haben die Stelle im Text korrigiert.

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