S-Bahn-Überfall in München Warum Videokameras Gewaltexzesse nicht verhindern
Hamburg - Immer wieder müssen die beiden jungen Männer geprügelt und getreten haben: Insgesamt 22 Verletzungen erlitt Dominik B., das Opfer der Münchner S-Bahn-Schläger, binnen weniger Minuten. Der 50-jährige Geschäftsmann starb wenig später. Er war am Samstagnachmittag dazwischengegangen, als Jugendliche einige Kinder angegriffen hatten und von ihnen Geld erpressen wollten.
Es dauerte nicht lange, da verfiel die Politik in altbekannte Forderungen. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann verlangte härtere Gesetze und rief die Bahn auf, mehr für die Sicherheit auf Bahnhöfen zu tun. Der CSU-Politiker sagte am Montagmorgen im rbb-Inforadio: "Ich fordere von der Deutschen Bahn klipp und klar, dass alle S-Bahn-Stationen ebenso wie die U-Bahnhöfe mit Video-Überwachungseinrichtungen ausgestattet werden."
Fachleute wie der Berliner Wissenschaftler Eric Töpfer halten das für wenig hilfreich. "Videokameras werden Gewalttaten wie in Solln nicht verhindern können. Zur Abschreckung dieser meist jugendlichen, völlig irrational handelnden Täter taugen sie nicht." Die Forderungen der Politik seien "ein in Zyklen wiederkehrendes Ritual, das die Illusion eines Allheilmittels schaffen soll", so der Politologe, der am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin forscht, zu SPIEGEL ONLINE.
Seine Kollege Nils Zurawski, der sich im Hamburger Institut für kriminologische Sozialforschung mit dem Thema Videoüberwachung befasst hat, hält den Big-Brother-Ansatz ebenfalls für verfehlt: "Das Problem ist auch: Es schauen einfach zu wenige Leute zu. Selbst wenn die Kameras einen Übergriff einfangen, sieht das häufig niemand", sagte der Soziologe. Die Sicherheitszentralen seien einfach zu schlecht besetzt. Die Bahn betreibt nach eigenen Angaben zurzeit 3200 Kameras in Deutschland.
1000 Kameras und ein aufgeklärtes Verbrechen
Die Erfahrungen aus dem wahrscheinlich bestüberwachten europäischen Land geben den beiden Wissenschaftlern Recht. In London verfolgt den Bürger zwar an jeder Ecke das Auge einer Kamera, aber das nutzt offenkundig wenig. Wie unlängst aus einem internen Bericht Scotland Yards hervorging, kommt in der britischen Metropole auf 1000 Videoanlagen nur eine aufgeklärte Straftat. Ein Bericht des Innenministeriums ergab, dass die Kameras einen "bescheidenen Einfluss" hätten, um Kriminalität zu bekämpfen.
Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, sagte SPIEGEL ONLINE: "Wir brauchen eine massive Aufstockung der Sicherheitskräfte. Kameras ohne Personal sind Unsinn. Die bringen nichts." Und der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg, teilte seine Kritik an der Bahn schriftlich mit: "Es kann nicht sein, dass zwar jährlich die Ticketpreise erhöht werden, die Leistungen sich aber nur noch auf das reine Befördern beschränken."
Doch wie sich nun verhalten, wenn Schwächere bedrängt werden und keine Uniformierten in der Nähe sind? "Ich halte jedes heroische Dazwischengehen für problematisch", warnt Kriminalpsychologe Adolf Gallwitz von der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Schauen Sie hin, suchen Sie Verbündete, alarmieren Sie die Polizei und stellen Sie sich als Zeuge zur Verfügung", so der Tipp des Experten.
"Bereit zu Gewalt und Vandalismus"
Einige Jugendliche warteten nur auf eine Gelegenheit, sich körperlich auszutoben. "Sie sind hasserfüllt und wütend, ständig bereit zu Gewalt und Vandalismus." Polizei und Politik müssten mit diesen Leuten rechnen, "die kriegen wir nicht von heute auf morgen weg". Besonders auf Ratschläge ("Hier ist Rauchen verboten") reagierten solche jungen Leute heftig. "Dann haben sie einen Grund loszuschlagen."
Nicht die Gewalttaten, wohl aber die Gewaltexzesse unter Jugendlichen hätten zugenommen, sagte Gallwitz: "Die Täter hören auch nicht auf, wenn sich ein Opfer auf den Boden wirft und um Gnade bettelt."
Gallwitz empfiehlt, sich schon im Vorfeld Gedanken darüber zu machen, wie man in einer Konfliktsituation reagieren würde. Womit könnte ich meine Gesundheit oder gar mein Leben aufs Spiel setzen? Bin ich bereit, eventuelle Nachteile durch mein Handeln in Kauf zu nehmen? Häufig müssten sich Helfer in der Not später vor Gericht rechtfertigen oder die Krankenkasse weigerte sich, für Verletzungen zu zahlen.
Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) hat nach dem Vorfall von München erneut eine Verschärfung des Jugendstrafrechts gefordert. Demnach soll ab 18 Jahren grundsätzlich das Erwachsenenstrafrecht angewendet werden, außerdem die Höchststrafe für Jugendliche von zehn auf 15 Jahre erhöht werden. Ergibt das Sinn?
"Das ist ein interessanter Ansatz. Wir sollten generell mehr Geld und Zeit in die Begutachtung von Straftätern investieren, eher auf deren Geschichte als auf das Alter schauen", sagte Gallwitz. "Es scheint in Deutschland noch immer leichter zu sein, einen Serienbankräuber länger zu inhaftieren als einen Seriengewalttäter."
Inzwischen hat sich der ältere der beiden Schläger bei der Familie des Opfers entschuldigt. Er bedauere seine Tat zutiefst und könne sich nicht erklären, wie es zu diesem Blackout kommen konnte, sagte sein Anwalt Gregor Rose der Münchner "tz". "Ich wollte nicht, dass der Mann stirbt", zitiert der Jurist seinen Mandanten.
Der 18-Jährige sitzt in der Haftanstalt Stadelheim in Untersuchungshaft. Der Staatsanwalt strebt eine Anklage wegen Mordes an, der Anwalt plädiert auf Körperverletzung mit Todesfolge. Zunächst solle aber ein psychologisches Gutachten erstellt werden, sagte der Anwalt. Auch Staatsanwalt Laurent Lafleur hatte Gutachten für die Beschuldigten angekündigt.