
Rusty Young im San-Pedro-Gefängnis: Der Drogenschmuggler und ich
Gefängnis-Bericht aus Bolivien Im Knast. Freiwillig
Das Abenteuer begann damit, dass Rusty Young sich fragte, ob er noch alle Tassen im Schrank hatte. Da stand er, 24 Jahre alt, Jura-Absolvent aus Australien, zusammen mit einer Handvoll Rucksacktouristen in Bolivien im Innenhof von San Pedro, einem der berüchtigtsten Gefängnisse der Welt. Seinen Pass hatte er am Tor abgegeben, sein Herz raste. "Willkommen, ich bin euer Tour Guide Thomas", sagte ein Mann mit dunkler Haut und rundem Gesicht.
Dann ging es hinein in die Gefängnisstadt im Zentrum von La Paz. Vorbei an den Häftlingen, die im Hof Dame spielten, zu den Zellen, die aussahen wie Studentenbuden, zu den Restaurants, den Souvenirhändlern und Marktständen, hinunter zu den Crack-Süchtigen, weiter in die Zelle des Fremdenführers, wo dieser den Touristen eine Prise Koks servierte. So erzählt Young es in seinem Buch "Marschpulver" und im Gespräch am Telefon, rund 15 Jahre nach seinem Ausflug ins Gefängnis.
Mit einer deutschen Strafanstalt hat San Pedro wenig gemein. Es gibt keine Gitterstäbe, keine Wächter, keine Uniformen. Um die 2000 Männer sitzen derzeit ein. Gebaut wurde das Gefängnis für rund 300 Häftlinge. Die meisten von ihnen wurden wegen Drogenvergehen inhaftiert, andere wegen Mordes.
In dem Gefängnis gibt es acht verschiedene Sektionen, kleine Viertel mit Höfen und Baracken. Wer Geld hat, lebt in den guten Vierteln, wo die Zellen manchmal mehrere Räume umfassen, wo es Fernseher, Gasherde, Kokain und Platz für die Familie gibt. Wo abends die Tore verriegelt werden. Wer kein Geld hat, endet in den armen Sektoren, wo die Gefangenen im Dreck schlafen, dort gibt es nichts außer Anarchie und dem, was bei der Kokainherstellung übrig bleibt, Crack. Es wird in Dollar bezahlt.

Quittung für eine Zelle in San Pedro (1997): In Dollar bezahlt
Foto: Rusty YoungIn vielen bolivianischen Strafanstalten ist es üblich, dass die Häftlinge in so einem Gefängnisdorf leben. Das Wachpersonal hält sich meist außerhalb der Mauern auf. Die Regierung verkauft das als fortschrittliches, integratives System. Doch in der Realität sind die Haftanstalten im Land überfüllt. Das interne, eigenständige Verwaltungs- und Machtsystem der Häftlinge führt zu Bandenbildung, Drogenhandel und nicht selten zu Gewalt.
Die Touristen stört das nicht, sie kamen und kommen, wollen das Gefängnis sehen, in dem Kinder bei ihren inhaftierten Vätern leben, wo es Restaurants gibt und angeblich das reinste Kokain des Landes.
Thomas, dessen Nachname McFadden ist, war angeblich der Erste, der die Touristen durch die Stadt der Gefangenen führte, ein Schwarzer aus Tansania, der in Liverpool aufgewachsen war und wegen des versuchten Schmuggels von fünf Kilogramm Kokain zwischen 1996 und 2000 in San Pedro einsaß.
Er zeigte ihnen das Gefängnis, eine einstündige Führung für 25 Bolivianos, nach heutigem Kurs etwa 3,20 Euro. McFadden war Ladeninhaber, Gastwirt und Produzent im knasteigenen Kokainlabor. Bekannt wurde er als Fremdenführer von San Pedro. Noch bekannter wurde er, weil sein größter Fan seine Lebensgeschichte aufschrieb.
"Ich war fasziniert von seiner magnetischen Persönlichkeit", sagt Rusty Young. Er habe gedacht, ein Drogenschmuggler sei gefährlich und gewaltbereit. McFadden aber lachte und war freundlich und kaufte am Ende der Tour Kokain und zwölf Dosen Bier für sie beide. Young und McFadden blieben lange auf, redeten, schwärmten, träumten an diesem seltsamen Ort. Am Ende dachte Rusty Young aus Australien: Das muss die Welt erfahren. Und so versprach er wiederzukommen, um die Geschichte von Thomas McFadden aufzuschreiben. 2003 kam sein Buch auf Englisch heraus und wurde zum Bestseller. Nun erscheint es in Deutschland.

Ärmere Häftlinge in San Pedro: Geteilte Zellen
Foto: Rusty YoungDie beiden bestachen die Gefängnisbehörde, die eine Aufenthaltserlaubnis für ein Familienmitglied ausstellte. "Das war natürlich Quatsch", sagt Young. "Aber wenn man genügend zahlt, glauben sie dir alles."
McFadden schlief in einem kleinen Bett, Young auf einer Matratze auf dem Boden.
In der ersten Nacht dachte er: "Wow, du ziehst das wirklich durch."
In der zweiten Nacht dachte er: "Hoffentlich geht das gut."
Zu den Mahlzeiten aßen sie in den Restaurants, nachmittags duschten sie, wenn das kalte Wasser in den Rohren durch die Sonne wenigstens etwas erwärmt worden war. Um neun sperrten die Wachen die Viertel ab, dann begann ihre Arbeit. Stundenlang erzählte der Gefangene ihm seine Lebensgeschichte, Young hörte zu. Woche für Woche, Tonband für Tonband.
McFadden erzählte Young wie er am Flughafen von La Paz mit fünf Kilo reinem Kokain festgenommen wurde. Wie er verurteilt wurde und fast zwei Wochen auf dem kalten Boden in der Gefängnisstadt schlief, wie er krank wurde und Blut hustete. Wie ihm die britische Botschaft nicht glauben wollte, dass er Geld für die Anmietung einer Zelle brauchte. Wie er von anderen Häftlingen schikaniert, bedroht und verprügelt wurde, weil sie ihn für einen Amerikaner hielten. Wie vor seinen Augen die Köpfe von Sexualstraftätern zu Brei getreten wurden.
Wie alles ein bisschen besser wurde, als er sich mit Ricardo, einem Mithäftling, anfreundete. Ricardo erklärte ihm die strenge Hierarchie in San Pedro und ließ ihn in seiner Zelle auf dem Boden schlafen. Schließlich gab ihm eine Hilfsorganisation ein wenig Geld, seine Freunde aus Europa schickten Dollar um Dollar. Es reichte für eine Zelle in der Vier-Sterne-Sektion Alamos, es reichte fürs Überleben.
Er habe nicht vorgehabt, länger als zwei Wochen zu bleiben, sagt Young. Er blieb fast vier Monate. "Ich wurde in dieses Leben hineingesaugt."
Die Tage vergingen, manchmal stürmten die Wachen hinein und suchten nach Waffen und Drogen. Manchmal kamen Touristen und ließen sich von McFadden Kaffee in seiner Zelle brauen. Einmal die Woche schmuggelte Young die Mikrokassetten aus dem Gefängnis. Wenn er in seinem kleinen Apartment ankam, atmete er tief durch und sagte sich: "Du bist ein freier Mann, du kannst tun, was du willst." Dann ging er zurück in die Stadt der Gefangenen. Es wurde normal, im Gefängnis zu sein, sagt er. Die Gewalt, die Süchtigen, das Eingesperrtsein. Vor allem wurde es ihm langweilig.
So dokumentierte Young die Geschichte eines Mannes, dessen Job es wurde, abenteuerhungrige Touristen zu verzaubern. Meistens war McFadden high.
Im Buch schwärmt McFadden vom Schmuggelspiel, von Intelligenz und Gelassenheit, die für dieses Geschäft seiner Meinung nach gebraucht werden. Er erklärt, was man beim Schlucken von in Plastik geschweißtem Kokain beachten muss. "Ich denke nicht, dass es ihm leid tut, dass er Drogendealer war", sagt Young. "Es tut ihm leid, dass er geschnappt wurde."

Der Innenhof von San Pedro: Tagsüber war es weitestgehend friedlich
Foto: Rusty YoungEr habe sein Bestes getan, um McFaddens Geschichten zu überprüfen, sagt Young. Er sprach mit den anderen Insassen, protokollierte, interviewte, fotografierte und hält McFaddens Storys für authentisch und wahr. "Aber das", sagt Young, "muss jeder selbst für sich entscheiden."
Der Junganwalt und der Häftling wurden Freunde. "Wenn man mit seinem Interviewpartner in einer Zelle zusammenlebt und er einem Abend für Abend seine Lebensgeschichte erzählt, freundet man sich zwangsweise an", sagt Young.
Heute sind die Regeln in San Pedro ein bisschen strenger. Die Strafen für Verstöße ein bisschen härter, das System aber bleibt ungerecht. Wer genügend Geld auf den Tisch legt, kann wohl immer noch ein Runde durch die Stadt hinter Mauern drehen. "Ich dachte, mit der Veröffentlichung des Buches würde sich alles zum Besseren wenden", sagt Young. Doch der Skandal blieb aus. Stattdessen meldete sich Brad Pitts Produktionsfirma bei ihm. Sie will aus der Geschichte einen Film machen.
Heute lebt Thomas McFadden, der Fremdenführer von San Pedro, in Tansania. Er hat dort eine Hühnerfarm. Rusty Young unterrichtet in Kolumbien Englisch. Der Kontakt ist trotz der Entfernung nie abgebrochen. Einmal die Woche telefonieren die beiden. McFadden hat zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Er hat ihn Rusty genannt.

Rusty Young:
Marschpulver
Eine wahre Geschichte von Korruption, Koks und einer unglaublichen Freundschaft im krassesten Knast der Welt
Riva; 400 Seiten; 16,99 Euro.
Buch bei Amazon: "Marschpulver" von Rusty Young Kindle Edition: "Marschpulver" von Rusty Young