Schießerei in Landshuter Gericht "Da bin ich aus dem Fenster gesprungen"
Landshut - Als um kurz nach 10 Uhr an diesem Dienstagmorgen sechs Schüsse durch die Flure des kleinen Landshuter Landgerichts hallen, springt Juliane Watzke aus dem Fenster. Sie will sich in Sicherheit bringen. "Ich dachte an den Amoklauf von Winnenden, da bin ich einfach gesprungen", berichtet die zierliche Frau zwei Stunden später. Da steht sie schon draußen in der Sonne, vor der rot-weiß-roten Absperrung der Polizei.
Aber die Bluttat im Gericht war kein Amoklauf. Landshut ist nicht Winnenden. Das betont Bayerns herbeigeeilter Staatskanzleiminister Siegfried Schneider (CSU): "Insgesamt scheint es kein typischer Amoklauf, sondern eine Familienauseinandersetzung gewesen zu sein."
"Nicht den geringsten Anhaltspunkt einer Gefährdung"
Der 60-jährige Franz-Josef N. aus dem niederbayerischen Dingolfing, einst Koch in einem Krankenhaus, erschießt an diesem Morgen auf dem Gerichtsflur erst seine 48-jährige Schwägerin Brigitte G., verletzt ihren Rechtsanwalt und eine weitere Schwägerin schwer - dann richtet er sich selbst, per Kopfschuss im Gerichtssaal 8. Auf dem Flur ist es laut Polizei zu einem kurzen Wortwechsel gekommen. Dann habe N. seinen Revolver gezogen. Die Kugeln treffen seine Opfer in den Kopf, den Oberkörper, den Arm.
Einen Stock tiefer lassen die Schüsse aus N.s Revolver der Marke Smith & Wesson Juliane Watzke an Winnenden denken. "Das war so laut, als ob es direkt vor unserer Tür gewesen wäre", erinnert sich auch Reinhard Kriesel, der mit Watzke im selben Raum war: "Erst haben sich einige unter die Tische geworfen, dann sind wir rüber ins Richterzimmer und haben einen Stuhl unter die Türklinke geschoben." Drei Menschen seien aus dem Fenster gesprungen, um sich in Sicherheit zu bringen. Schließlich habe man die Polizei gerufen.
Nichts deutete am Morgen auf eine Bluttat hin. Um kurz nach 9 Uhr eröffnet der Richter im Saal 8 die Sitzung zu Erbstreitigkeiten in N.s Familie, eine einfache Zivilsache. "Bei diesem Verfahren hatten wir nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine Gefährdung", sagt Gerichtspräsident Karl Wörle später. Es ist ein notorischer Streit; seit Jahren kämpfen die sieben Geschwister in mehreren zivilrechtlichen Verfahren um die Erbschaft, ein Haus in Augsburg.
Die Ermittler prüfen einen angeblichen Abschiedsbrief
Franz-Josef N. ist an diesem Dienstag der Beklagte - und "eigentlich war der Streitpunkt schon erledigt", sagt Wörle. Denn die Geschwister wollten von N. eine Auskunft einklagen, die er aber im Vorfeld der Verhandlung bereits freiwillig gegeben hatte. Es gehe um einen Streitwert von 100.000 Euro, so Wörle. Die beteiligten Rechtsanwälte hatten bereits Gesprächsbereitschaft für eine gütliche Einigung signalisiert.
Warum dann trotzdem diese Bluttat in einer Sitzungspause, draußen auf dem Gang? "Aus dem Verfahren ergab sich kein Anlass", meint Wörle. Unklar sei auch, ob N. einen Abschiedsbrief geschrieben hat. Sein Schwiegersohn soll der Polizei zwar ein entsprechendes, in Dingolfing aufgefundenes Papier übergeben haben - doch der zuständige Kriminalrat Paul Schröcker gibt sich in Landshut zurückhaltend. Es sei noch "in der Klärung", ob es sich tatsächlich um einen Abschiedsbrief handele.
Der Tatablauf, so viel steht fest, ging schnell. Nur wenige Minuten, nachdem die Schüsse im Gerichtsgebäude fallen, einem 1968 errichteten Zweckbau aus roten Backsteinen, sind die ersten Polizisten am Tatort. Ihr Hauptquartier liegt nur wenige hundert Meter entfernt. So ist nach Information von SPIEGEL ONLINE auch der Landshuter Dienststellenleiter von Beginn an vor Ort. Man entschließt sich, sofort ins Gebäude zu gehen. "Zwei Angriffs- und zwei Rettungsteams drangen in das Gerichtsgebäude ein", berichtet Josef Rückl, Polizeipräsident von Niederbayern/Oberpfalz. Im ersten Stock finden die Beamten den toten N. vor. Sie geben keinen Schuss ab.
"In Zeiten zunehmender Gewalt Konsequenzen ziehen"
Franz-Josef N. hatte kein Problem, seinen Revolver in das Gerichtsgebäude zu schmuggeln - denn es gab keine Sicherheitskontrollen. Diese würden bisher nur "bei Strafsachen mit Gefährdungspotential" angewendet, erklärt Wörle. Nun werde man nachzudenken haben, ob das "bei der zunehmenden Gewaltbereitschaft" geändert werden müsse. Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) hat bereits schärfere Sicherheitsmaßnahmen an Gerichten angekündigt: "In Zeiten zunehmender Gewalt in unserer Gesellschaft müssen wir die Konsequenzen ziehen. Hierzu gehört ein verstärkter Einsatz von Sicherheitsschleusen an den Gerichtseingängen."
Auch der Umgang mit Waffen in privater Hand rückt durch den Fall Landshut erneut in den Fokus der Politik. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) bekräftigte, dass sein Kabinett nach Ostern über eine Verschärfung der Waffenkontrolle beraten werde: "Mir erscheint nach allen Informationen, die wir in den letzten Wochen gesammelt haben, die Kontrolle des Waffenrechts als ein Schwachpunkt."
Täter N. jedenfalls war laut Kriminalrat Schröcker per Besitzkarte berechtigt, eine Waffe zu tragen. Registriert waren eine Kleinkaliber-Langwaffe, eine Kleinkaliber-Sportwaffe sowie die Tatwaffe, ein Revolver.
Es ist nicht die erste Gewalttat in einem Gericht - und auch nicht die erste im Landshuter Landgericht: 1992 erstach ein 52-Jähriger aus Wut über seine Unterhaltsverpflichtungen die 51-jährige Rechtsanwältin seiner Ex-Frau. Der seelisch schwer gestörte Mann wurde wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.