Thomas Fischer

Katholische Kirche Schuld und Sühne

Thomas Fischer
Eine Kolumne von Thomas Fischer
Die Erzdiözese Köln hat das lang erwartete Gutachten veröffentlicht. Dass es der Christenheit wirklich wichtig ist, was drinsteht, erscheint fraglich. Und vor allem: Was kommt nach der Empörung?
Kölner Kardinal Woelki bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums mit Missbrauchsvorwürfen, 18. März 2021

Kölner Kardinal Woelki bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums mit Missbrauchsvorwürfen, 18. März 2021

Foto: Ina Fassbender / dpa / AFP

Opfer?

Wie fast alle Religionen hat auch die christliche eine innige Verbindung zum Opfern. Zuvor war schon das Alte Testament, wie dem einen oder anderen vielleicht noch geläufig sein mag, voll von Opfern, Opfergaben, Opferaltären, Bitt-, Dank-, Sühne- und Reinigungsopfern. Schon dem Stammvater Abraham musste, als er in fremdschädigender Verzückung seinen eigenen Sohn zu schlachten und zu opfern anhub, sein Gott mit einem Wunder in den Arm fallen.

Seither ist unendlich viel geopfert, aber im Ergebnis recht wenig damit gewonnen worden, sollte man meinen, wenn man einmal von den Märtyrern absieht, die sich zum Zwecke des Zeichengebens selbst opfern. Das will heute natürlich hierzulande niemand mehr ernsthaft, und wer immer auf der weiten Welt solche Gedanken hat oder zu ihrer Verwirklichung ansetzt, gilt uns Alten und Jungen als verrückt, mindestens als hochgefährlich, meist beides zugleich.

Deshalb warte ich, ehrlich gesagt, schon seit Längerem darauf, dass einmal eine der an der Spitze der Opferbewegung marschierenden Personen auf die Idee kommt, ein wenig etymologische Forschung zu betreiben, bevor sie andere Menschen und besonders gern sich selbst als permanentes »Opfer« von irgendwas und irgendwem bezeichnet und wieder andere wahllos der Missachtung dieses Opferseins bezichtigt. Leider tut sich in dieser Richtung gar nichts, sodass die Welt und ich weiter unter den sprachlichen Springfluten der Opferung leiden müssen. Wäre es nicht an der Zeit, einmal zu fragen, ob die Bezeichnung als »Opfer« nicht die Würde-Identität des selbstbestimmten Individuums tangiert?

Für den Fall, dass Sie, verehrte Leser, sich die Frage stellen, warum ich dies mitteile: In Köln hat der dortige Erzbischof und Kardinal das seit Monaten über alle Maßen herbeigesehnte »weitere Gutachten« über die »Aufarbeitung« von Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker in der Erzdiözese Köln veröffentlicht. Noch am vergangenen Wochenende durften wir in einer großen deutschen Tageszeitung ein weiteres ganzseitiges Werk über die verzweifelte Lage des Amtsgerichts Köln angesichts der langen Schlangen kirchensteuerzahlungsunwilliger Katholiken lesen, bebildert mit dem üblichen Konterfei des schuldigen Erzbischofs und angereichert mit allerlei Untergangsgemurmel des vielleicht frommen Autors. Auch zahllose andere große und kleine Pressemedien haben sich nicht lumpen lassen und berichten mehrmals täglich über den Stand des tsunamistischen Abfalls von der Heiligen Römischen Kirche, besonders in Köln und um Köln herum.

Täter?

Am Donnerstagvormittag wurde das hoffnungsvolle Herbeirufen eines endgültigen, katastrophalen Zusammenbruchs des zentral organisierten Christentums kurz unterbrochen von der Meldung: »In Köln hat Kardinal Woelki erste personelle Konsequenzen gezogen«. Oha! Herr Woelki hat »Konsequenzen gezogen«! Hat er sich, auf den Knien rutschend, auf den Weg nach Rom gemacht? Lässt er sich nach Limburg versetzen? Geht er in Frühpension, »tritt er zurück«? Nichts von alledem: Er hat vorerst mal zwei Personen von ihren Dienstaufgaben entbunden. Bei der Polizei im Krimi heißt das: Marke und Waffe abgeben, »suspendiert«. Später wird alles wieder gut.

Der Gutachter, Rechtsanwalt Prof. Dr. Gercke, hat pünktlich sein Gutachten vorgelegt; zugleich wurde es der Staatsanwaltschaft zur gegebenenfalls weiteren Veranlassung übersandt. Die Christenheit und der Chefredakteur von »Bild« mussten sage und schreibe drei Monate warten: Eternitas Ecclesiae!

Aus dem Gutachten ergibt sich, dass zwischen 1975 und 2018 nach den zur Verfügung stehenden Akten insgesamt 314 Personen – meist Jungen unter 14 Jahren – durch Straftaten des sexuellen Missbrauchs geschädigt wurden; die Anzahl der Tatverdächtigen liegt bei etwa 220. Natürlich lässt es sich kein Medium entgehen, die Taten allesamt »sexualisierte Gewalt« zu nennen, wie es heute üblich ist, wenn man zeigen will, dass man sich auf der Höhe der sprachlichen Sensibilität bewegt. Ob die »Gewalt« tatsächlich ist oder war, was die Menschheit seit mindestens 2000 Jahren »Gewalt« nennt, ist dabei gleichgültig. Wie es der deutsche Strafgesetzgeber kürzlich in unnachahmlicher Treuherzigkeit formulierte: Der Begriff »sexualisierte Gewalt« umfasst ab sofort auch Handlungen ohne Gewalt. Er wird verwendet, um gewaltloses (!) Missbrauchsverhalten zu »brandmarken«. Gesetz, Medien und Wissenschaft, Arm in Arm mit der Waschmittelwerbung. Am Anfang, so sagt uns das Buch der Bücher, war das Wort. Vermutlich wird es auch am Ende sein.

Bevor jetzt wieder ein Geschrei über die »Verharmlosung« anfängt: keine Angst, Leser und Bürger! Der Kolumnist ist ganz und gar gegen den Missbrauch von Abhängigkeit und Macht aus sexuellen Motiven. Er bedauert jede einzelne Person, die durch solche Taten in ihrer sexuellen Selbstbestimmung verletzt, in ihrem Vertrauen in die Welt verstört, in ihrem Lebensweg behindert wurde. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Verletzten gleich stark verletzt sind und gleich viel erlitten haben. Es gibt Unterschiede beim Schmerz der Verletzten wie bei der Schuld der Täter. Wer das nicht sehen will oder kann, gibt sich einem Fanatismus hin, der niemandem nützt, am wenigsten den Geschädigten.

314 geschädigte Personen sind viel. In 40 Jahren (1975 bis 2018) sind es – bezogen auf die Gesamtzahl von Fällen und daher »relativiert« – aber nicht viele. Im Jahr 2018 beispielsweise nennt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) die Zahl von 16.833 Geschädigten durch Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Das ist natürlich nur eine (undifferenzierte) PKS-Zahl. Auf die an dieser Stelle schon mehrfach erläuterten Vorbehalte gegen die Statistik kommt es hier aber nicht an. Die Zahl zeigt, über welche Größenordnungen wir sprechen: Durchschnittlich acht dokumentierte Fälle von Missbrauch pro Jahr in den organisatorischen Strukturen der Erzdiözese Köln, einige Tausend pro Jahr insgesamt. Dass man an dieser Stelle sagen muss, jeder Fall sei einer zu viel, ist mir und Ihnen natürlich bekannt; es ändert aber nichts an den Verhältnissen.

Da die dokumentierten Fälle bis 1975 zurückreichen, sind viele – vermutlich die meisten – strafrechtlich verjährt. Wie es mit der kirchenrechtlichen Lage aussieht, will ich hier nicht aufdröseln; das gilt auch für die »Pflichtverletzungen« durch Nichtverfolgung, »Vertuschung« oder andere Handlungen, die einer Reihe von Klerikern vorgeworfen werden. Mit Freude habe ich am 18. März gehört, dass auch insoweit schon wieder eine »Rekordliste« aufgestellt wurde: Auf dem ersten Platz mit 24 Sünden steht der ehemalige Kardinal M., auf dem zweiten Platz gefolgt von einem Weihbischof mit 16 Punkten. Was denkt sich da der rheinische Katholik draußen in der Welt? Findet er das gut? Ist einer mit 24 Sünden schlimmer als einer mit 16 Sünden, muss er länger oder ärger in die Hölle? Oder muss ihm mehr und liebevoller vergeben werden?

Gläubige?

Und was ist überhaupt mit dem Kardinal Woelki? Es wird ihm vom Gutachter »kein Pflichtverstoß« nachgesagt. Es hat sich also herausgestellt, dass der Kardinal weder gelogen hat noch dass es falsch war, das erste Gutachten überprüfen zu lassen, noch dass die Entscheidung falsch war, es bis zum Abschluss der Überprüfung nicht zu veröffentlichen. Alles richtig, verehrte Katholiken! Eine etwas hölzern geratene Weihnachtsbotschaft darf man dem Kardinal vorwerfen, und dass er nicht verhindert hat, dass möglichst viele Fotos von ihm gemacht werden, auf denen er verkniffen aussieht und mit denen er denunziert werden kann. Auf dieser extrem schmalen Basis wird er seit fast einem halben Jahr durch den Dreck gezogen und auf dem Domplatz der allgemeinen Beschimpfung durch Leute ausgesetzt, die weder von der Kirche Ahnung haben noch vom Recht noch gar barmherzige Samariter der Geschädigten sind.

Gespannt habe ich die Nachrichten des Veröffentlichungstags verfolgt: Halbstündlich berichteten die Agenturen und Sender, als breche in Köln endlich wieder eine ordentliche Katastrophe aus. Voller Vorfreude erklangen die Meldungen über die »ersten personellen Konsequenzen«, die »dramatische Lage«, die »Welle der Austritte«. Die das berichten, sind nicht durchweg Kirchenfeinde. Ich tippe eher darauf, dass es den meisten schlicht gleichgültig ist: der Zusammenbruch des Kölner Doms ist zwar nicht so sensationell wie 9/11, aber allemal spannender als der Abriss einer Lagerhalle. Ob die Dynastie Ihrer Majestät der Queen zusammenbricht oder der Katholizismus in Deutschland, ist skandalmäßig irgendwie egal.

Morgen ist wieder Corona und nächste Woche Trainerrücktritt, und in Sachsen marschiert das Volk mitsamt seinen Landräten gegen die Staatskanzlei des dortigen Kurfürsten und kämpft für das Menschenrecht auf Masseninfektion und Grillfest, Strähnchen im Haar und Tod. Jeden Tag ersticken zurzeit 300 Menschen an den Folgen der Covid-Infektion. Das sind so viele, wie in Köln in 42 Jahren einen sexuellen Missbrauch durch Kleriker überlebt haben. Schon klar, liebe Sinnspruch-Kenner: Äpfel sind apfelförmig und Pflaumen sind pflaumenförmig. Aber Schmerz ist nie schön, und Angst bleibt Angst.

Was lernen wir jetzt eigentlich, einmal vorläufig gedacht, aus dem Kölner Gutachtendrama? Ein paar schöne Stimmen von Spontaninterviewten erklangen aus den Sendeanstalten: Nachdem es nun »so lange hin und her« gegangen sei mit all den Gutachten und diesem Woelki und so weiter, habe man mit der Kirche nichts mehr am Hut. Na gut. Kann man so sagen, muss man aber nicht wirklich. Nicht jedes Maß an Dummheit ist verzeihlich.

Denn eines ist ja klar: All die vielen Austretenden und tief Enttäuschten und Amtskirchenmüden sind seit vielen Jahrzehnten ein Teil dessen, was sie angeblich nun so spontan enttäuscht. Das tiefe Verlangen nach Demokratie und Empathie in der katholischen Kirche bringt sie auch nicht etwa dazu zu fragen, was es eigentlich heißen soll, dass »der Kardinal erste personelle Konsequenzen gezogen« habe. Ist Herr Dr. Woelki der Fürstbischof von Köln, ein Herrscher mit dem aufwärts oder abwärts gerichteten Daumen? Und wenn ja: Ergibt sich das am Ende aus dem kanonischen Recht? Ist es das Recht, nach dem die Katholiken leben? Ist der Weihbischof schon verurteilt?

Fegefeuer?

Das Interessanteste an der Sache ist – aus Sicht des Kolumnisten –, wie sich der zähnefletschende Zerfall des Glaubens in die Schafgestalt der mitmenschlichen Gefühligkeit kleidet und ernsthaft behauptet, es sei die »Enttäuschung« über die sexuellen Fehltritte und Jahrzehnte zurückliegenden fleischlichen Verbrechen alter Kleriker, was das Kirchenvolk zum Amtsgericht Köln treibe, um aus der Kirchensteuerpflicht auszutreten.

Denn wenn die Enttäuschten den »Glauben« hätten, in welchen hinein sie getauft wurden, wüssten sie ja, dass man aus der Kirche nur an der äußersten Oberfläche austreten kann, da, wo sie eine Buchhaltung betreibt und ein paar Banken und Immobilienverwaltungen. In der Tiefe aber kann man gar nicht austreten, nachdem jemand gesagt haben soll, sie sei von ihm selbst »auf diesen Felsen« gebaut. Und kein austretender Katholik ist ja »besser« als der alte Kardinal oder der neue, und erst recht nicht ohne Sünde. Es gibt keinen unter ihnen, der nicht seit jeher gewusst hätte, dass in Klosterschulen geprügelt und in Sakristeien gesündigt und in Kinderseelen Verzweiflung und Traurigkeit verbreitet wurde. Die das allesamt wussten, bimmelten ihr Leben lang mit den Glöckchen und bekreuzigten sich beim Eintritt in den Dom und ließen ihren Kindern ausrichten, da müsse man durch.

Es ist schwer, sich eine intensivere und auch verzweifeltere Heuchelei vorzustellen als das Theater um die »Aufarbeitung« der von Klerikern begangenen, durch die Struktur der Kirchen massiv begünstigten Straftaten. Dass die ganze »christlich-jüdische« Mehrheitsgesellschaft sich voll der Empörung und tiefen Bewunderung für die eigene Gutherzigkeit versammelt, um mit dem Finger auf ein paar mehr oder weniger durchschnittliche Funktionäre einer Charismaverwaltungs-Organisation zu zeigen und »Haltet den Dieb« zu rufen, hat schon was!

Unter ihren Füßen bricht derweil das ganze Fundament der alten Religionen zusammen. In wollene Socken und lilafarbene Schals gekleidete Sehnsüchtige schwören, beim Wandern oder beim Joggen, im Homeoffice oder mit dem vierten Lebensabschnittsgefährten könnten sie die Stimme des Herrn hören, der ihnen zuruft: Sei du selbst! Sei authentisch! Gönn‘ dir mal was Schönes! Dafür, liebe Christen, ist eure Religion aber nicht gemacht. Das ahnt man seit ungefähr 600 Jahren. Letztens hat sich die Sache wie die Globalisierung ein wenig beschleunigt, daher bricht hier wie überall eine panische Suche nach Schuldigen aus.

Nun wird man also noch ein paar Tage »aufarbeiten« und »personelle Konsequenzen ziehen«. Ja, und? Was dann? Gehen dann alle wieder in die Kirche und zur Beichte und fürchten sich vor dem Jüngsten Gericht? Welche Rettung hat sie zu bieten, die »aufgearbeitete« Kirche? Hat sie im letzten Jahr irgendetwas zur Seuche gesagt, was Ihnen in Erinnerung geblieben ist? Was soll denn werden, wenn die »Skandal«-Schlagzeilen verblasst sind und die nächste Schweineherde durchs Dorf getrieben wird? Weg mit den alten Männern, her mit schwulen jungen Priesterpaaren, queeren Kardinälen und lesbischen Päpstinnen! Ist es dann wieder gut? Kommen dann die Heiligen wieder und die Engel und die Freude auf die Ewigkeit? Ich habe Zweifel. Ob sich die Hölle und der Himmel allerdings dauerhaft werden ersetzen lassen durch Yoga, Compliance und Gruppentherapie, ist eine andere Frage.

Abschließend: Was ist jetzt eigentlich in Köln und anderswo? Ist jetzt alles klar? Wer genau ist jetzt »Opfer«, wer ist Täter, wer ist Schaulustiger? Was werden die Gesellschaft, die Rechtsgemeinschaft, die Kirche und die anderen tun, jetzt, da die Sehnsucht erfüllt und »die Verantwortlichen benannt« sind? An wem wird Rache genommen für die Sünden und Verbrechen der vergangenen 50 Jahre? Oder ist alles schon wieder vorbei, und der Modus der dauererregten Empörung schon wieder weitergezogen? Man darf gespannt sein.

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