Kindesmissbrauch in England Rotherham ist überall

Rochdale im Januar 2011: Polizei rüstet auf
Foto: Christopher Furlong/ Getty Images"Ich werde ständig angesprochen, wenn ich in meiner Schuluniform unterwegs bin", sagt das Mädchen aus Manchester. "Männern ist es vollkommen egal, wie alt wir sind." Eine andere Schülerin erzählt, wie sie auf ihrem Schulweg an einer Gruppe Männer auf der High Street vorbeigekommen sei. Einer habe gesagt: "Ich kann es kaum erwarten, was Du im Sommer tragen wirst."
Ein drittes Mädchen erzählt vom Einkaufen mit einer Freundin. "Da kam ein Mann zu uns, hielt meine Freundin von hinten fest, strich ihr übers Haar und sagte: 'Schönes Haar'."
Die Beispiele stammen aus einem neuen Bericht zum Kindesmissbrauch im Großraum Manchester. Acht Monate lang hat die Labour-Abgeordnete Ann Coffey mit Betroffenen gesprochen und sich durch Akten gewühlt. Diese Woche legte sie ihren 148-seitigen Abschlussbericht vor. Auftraggeber war die Polizei von Manchester, die nach einer Serie von Missbrauchsskandalen einen Neuanfang machen will.
"Ein andauerndes Problem"
Coffey kommt zu einem alarmierenden Schluss: In manchen Vierteln Manchesters sei die sexuelle Ausbeutung von Kindern zur "gesellschaftlichen Norm" geworden. Mädchen würden nicht respektiert, sondern kontrolliert und zum Sex genötigt. "Wir haben es mit einem echten und andauernden Problem zu tun", schreibt die ehemalige Sozialarbeiterin.
Die verbale Anmache ist häufig nur der Anfang. Mädchen werden in Autos und Läden gezerrt, mit Alkohol und Drogen gefügig gemacht und schließlich vergewaltigt. "Grooming" heißt der Prozess, bei dem die Mädchen schrittweise unter die Kontrolle ihrer Peiniger gebracht werden.
Wie verbreitet das Problem in Großbritannien ist, zeigt die Liste der Orte, in denen es bereits zu aufsehenerregenden Verurteilungen gekommen ist.
Rotherham: In der nordenglischen Stadt wurden zwischen 1997 und 2013 mindestens 1400 Kinder sexuell missbraucht. Zu diesem Ergebnis kam eine offizielle Untersuchung im August 2014. Die Behörden schauten jahrelang weg, die meisten Täter gingen straffrei aus. Nur fünf Männer wurden 2010 wegen Vergewaltigung verurteilt.
Oxford: In der südenglischen Universitätsstadt wurden im Juni 2013 sieben Männer zu langen Haftstrafen verurteilt. Sie hatten sechs Mädchen im Alter von 11 bis 15 Jahren vergewaltigt. Die Taten ereigneten sich zwischen 2004 und 2012.
Rochdale: In der Stadt im Großraum Manchester wurden im Mai 2012 neun Männer im Alter von 24 bis 59 Jahren wegen Vergewaltigung verurteilt. Sie hatten fünf Mädchen über mehrere Jahre missbraucht, das jüngste war 13 Jahre alt.
Derby: Im nordenglischen Derby wurden 2010 neun Männer verurteilt. Sie hatten 26 Mädchen missbraucht, das jüngste war 12 Jahre alt.
In die schlagzeilenträchtigen Fälle waren allesamt britische Pakistaner involviert, die sich die Mädchen teilten. Die Polizei gibt zu bedenken, dass solche Männergangs in der Statistik nur eine kleine Rolle spielen. Die große Zahl der Vergewaltigungen, 90 Prozent, wird nach wie vor von Einzeltätern zu Hause begangen, meist Angehörige oder Bekannte des Opfers.
"Anmache als Teil des Alltags"
Doch steht die pakistanische Gemeinde unter Druck, sich von den Missbrauchsfällen zu distanzieren. Auch die Polizei wurde durch die Skandalwelle aufgeschreckt. Verschiedene Behörden haben Untersuchungen in Auftrag gegeben, alte Fälle werden noch einmal aufgerollt. Bei der South Yorkshire Police, die in Rotherham jahrelang weggeschaut hatte, sind nun 62 Beamte mit der Jagd nach Kinderschändern beschäftigt. Vor vier Jahren waren es erst drei Beamte. Auch in Manchester wurde die Zahl der Ermittler nach Rochdale aufgestockt - von 12 auf 39.
Führende Polizeibeamte gehen davon aus, dass die Ermittlungen weitere schockierende Fälle ans Licht bringen werden. Es könne "noch viele Rotherhams" geben, warnte Simon Bailey, Polizeichef von Norfolk, kürzlich im "Guardian". Sexueller Missbrauch von Kindern sei zu lange ein "verstecktes Verbrechen" gewesen.
Allein die South Yorkshire Police ermittelt in neun Fällen gegen Sex-Gangs, die jeweils mehrere Opfer sexuell missbraucht haben sollen. In Manchester laufen 18 solcher Untersuchungen. Erst diese Woche waren elf Verdächtige festgenommen worden.
Die Abgeordnete Coffey hält einen tiefgreifenden kulturellen Wandel für erforderlich. Polizei und Sozialarbeiter müssten künftig genauer auf Anzeichen sexuellen Missbrauchs achten und die Vorwürfe der Opfer ernstnehmen, empfiehlt sie in ihrem Bericht. "Das Schockierende ist", schreibt Coffey, "dass sich diese Mädchen ohnmächtig fühlen und sie die Anmache als Teil des Alltags hinnehmen müssen. Viele zeigen sie nicht an, weil sie das Gefühl haben, dass die Polizei auf sie herabschaut".