
Staufener Missbrauchsfall Vor aller Augen


Christian L. (zweiter .v.l) und Berrin T. ( zweite .v.r) im Freiburger Landgericht (Archiv)
Foto: Patrick Seeger/ dpaDas Martyrium des Jungen aus Staufen bei Freiburg dauerte mehr als zwei Jahre. Etliche Male wurde der heute Zehnjährige von 2015 bis 2017 missbraucht, auch von seiner Mutter Berrin T. und ihrem Lebensgefährten Christian L.
Das Paar bot den Jungen zudem im Darknet an, ließ Männer gegen Bezahlung auf das Kind los, die Ungeheuerliches mit ihm anstellten; einer wollte das Kind nach dem Missbrauch töten. In der mehr als hundert Seiten langen Anklageschrift gegen die Mutter und ihren Partner ist die Rede von Fesselungen, Demütigungen, Beschimpfungen, Drohungen, körperlicher Gewalt. Die Mutter und ihr Lebensgefährte haben die Taten gestanden.
Das Landgericht Freiburg verkündet am Dienstag sein Urteil. Es ist das vorerst letzte zu dem Tatkomplex; sechs Männer sind schon verurteilt worden (eine Chronologie des Falls sehen Sie hier).
Das alles geschah, obwohl die Familie unter Beobachtung stand: Jugendamt, Polizei, ein Therapeut, eine Bewährungshelferin - niemand ahnte, was die beiden dem Kind antaten. Für Christian L. und Berrin T. war es leicht, die Behörden zu täuschen: Informationen wurden nicht weitergegeben, Auflagen nicht kontrolliert, Warnungen aus dem Umfeld wurde nicht nachgegangen. Wie konnte es dazu kommen?
1. Die frühe Warnung
Christian L. wurde 2010 vom Landgericht Freiburg zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er 2009 eine 13-Jährige missbraucht und Kinderpornos besessen hatte. Der heute 39-Jährige kam 2014 unter Auflagen frei. Dazu gehörte ein monatliches Treffen mit seiner Bewährungshelferin und einem Polizisten des Programms "Kurs" für besonders rückfallgefährdete Straftäter. Außerdem durfte er sich Kindern nur nähern, wenn die Eltern dabei sind.
Nach seiner Freilassung lernte er Berrin T. kennen, die Mutter des heute Zehnjährigen. Im Mai 2016 sagten Christian L. und Berrin T. der Polizei, dass sie zusammenziehen wollen. Das Landgericht Freiburg lehnte den Antrag das Paares im August des Jahres ab. Über den Vorgang wurde das Jugendamt nicht informiert: Man habe davon verspätet erfahren, kritisierte das Amt später.
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Doch L. hielt sich nicht an die Gerichtsentscheidung, wie die Bewährungshelferin im September 2016 und im Januar 2017 dem Landgericht meldete. Im Februar sagte sie der Polizei erneut, dass Christian L. bei Berrin T. wohne. Daraufhin stellte das Landgericht Strafantrag.
Die Bewährungshelferin musste dreimal etwas sagen, ehe etwas geschah. Zwischen ihrem ersten Hinweis Ende September 2016 und dem Strafantrag vergingen knapp fünf Monate. "Das macht uns schon etwas sprachlos", sagte der Baden-Württemberger SPD-Landtagsabgeordnete Sascha Binder dem SWR. Durch seine Anfrage war der Vorgang öffentlich geworden.
Erst mit dem Strafantrag im Februar 2017 wurde die Polizei aktiv. Die Beamten fanden heraus, dass sich ein Kontakt zwischen L. und dem Jungen in Abwesenheit der Mutter nicht ausschließen ließ - genau solche Situationen sollten ja durch die Bewährungsauflagen vermieden werden.
Erst dann, Monate nach dem Hinweis der Bewährungshelferin, wurde das Jugendamt eingeschaltet. Das sei "nicht nachvollziehbar", kritisierte das Amt später. Es gab den Jungen am 14. März in die Obhut einer Pflegefamilie.
2. Ein Verfahren mit Mängeln
Berrin T. wehrte sich gegen die Inobhutnahme. Der Fall landete beim Freiburger Amtsgericht. Die Richterin entschied, dass der Junge zurück in die Familie dürfe. Sie hatte keine Anhaltspunkte für sexuellen Missbrauch des Jungen, außerdem vertraute sie der Mutter, die versicherte, Christian L. von dem Jungen fernzuhalten. "Tragischerweise hat man ihr geglaubt", sagte eine Gerichtssprecherin später.
Christian L. hatte zum Zeitpunkt des Verfahrens schon gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen, der Strafantrag des Landgerichts lag schon vor - doch das Jugendamt wusste nichts davon. Folglich konnte es das in der Verhandlung am Amtsgericht zur Inobhutnahme nicht vorbringen.
Im Prozess wurde das Kind zudem nicht gehört, es bekam keinen Verfahrensbeistand. Diese Versäumnisse kritisierte der Experte Ludwig Salgo später.
Ob die Mutter tatsächlich darauf achtete, dass ihr Sohn nie alleine mit Christian L. war, kontrollierte niemand. Das Amtsgericht ging laut einer Sprecherin davon aus, dass das Jugendamt die Einhaltung des Kontaktverbotes prüfe, da es ohnehin mit der Familie arbeite.
Das Jugendamt wiederum sagte, dass man dafür keinen Auftrag vom Amtsgericht bekommen habe. "Für mich ist das mit Blick auf das Kindeswohl ein eklatanter Fehler", sagte Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung.
Die Richterin am Amtsgericht hatte offenbar nur eine vage Vorstellung davon, wie gefährlich Christian L. war. So kannte sie nicht das Urteil gegen L. zu mehr als vier Jahren Haft wegen Kindesmissbrauchs und dem Besitz von Kinderpornos.
Die Amtsrichterin trat auch als Zeugin im Prozess gegen Christian L. und Berrin T. auf. Sie sagte, niemand habe sie über das Urteil gegen L. aus dem Jahr 2010 informiert, wie die "Badische Zeitung" berichtete. Seit Bekanntwerden der Vorwürfe "leide ich sehr", erzählte sie im Zeugenstand. Sie sei wegen Rechtsbeugung angezeigt worden.
3. Eine allzu positive Bescheinigung
Im Streit um die Inobhutnahme vor dem Amtsgericht stützte sich Berrin T. auch auf die Einschätzung eines Therapeuten. Christian L. habe eine gute Sozialprognose, "das zeigt doch auch die Bescheinigung", sagte sie demnach.
Der Therapeut, der das Dokument ausgestellt hatte, musste ebenfalls im Prozess gegen Berrin T. und Christian L. vor Gericht erscheinen. Er hatte dem Mann eine geringe Rückfallgefahr und einen sehr guten Therapiewillen attestiert. Er habe die Bescheinigung auf Wunsch seines Patienten geschrieben. Auf die Frage, warum er das tat, sagte er: "Das wüsste ich auch gerne."
Christian L. (zweiter .v.l) und Berrin T. ( zweite .v.r) im Freiburger Landgericht (Archiv)
Foto: Patrick Seeger/ dpaL. habe im Gespräch eine "sehr positive, engagierte Veränderung" gezeigt und "Gefühle geäußert". Außerdem hatte der Psychotherapeut demnach den Eindruck, dass eine Bindung an das Kind positiv für Christian L. sein könne. Es habe keine Hinweise für Interesse an Jungen gegeben.
Wie die "Süddeutsche Zeitung" recherchierte, hätte der Therapeut das Dokument gar nicht ausstellen dürfen. Solche Berichte müssten zuerst von der Leitung geprüft werden, teilte die Forensische Ambulanz Baden mit. Man habe sich von dem heute 70-jährigen Therapeuten getrennt.
4. Ein Hinweis, dem keiner nachgeht
Das Amtsgericht befand schließlich, der Junge müsse zurück zu seiner Mutter. Im April 2017 war er wieder bei ihr. Anfang Juni meldete sich die Lehrerin des heute Zehnjährigen beim Jugendamt. Der Junge habe einem Mitschüler erzählt, dass er sich zu Hause "ausziehen und anschauen lassen" müsse.
Vor Gericht sagte ein Mitarbeiter des Jugendamtes laut "Badischer Zeitung" aus, dass man daraufhin intern konferiert habe. Ergebnis: "Wir hielten es für einen vagen Hinweis um drei Ecken", sagte der Mann. Man habe die Aussage nicht zeitlich eingrenzen können.
Der Hinweis verließ das Jugendamt nicht. Die Polizei wurde nicht informiert und auch nicht das Karlsruher Oberlandesgericht, vor dem Berrin T. gegen die Entscheidung des Amtsgerichtes vorging. Das OLG sollte kurze Zeit später darüber entscheiden, ob und unter welchen Umständen der Junge in der Familie bleiben dürfe.
Bei der Verhandlung am OLG im Juli 2017 versicherte die Mutter erneut, dass Christian L. die Wohnung nicht betreten und es keine gemeinsamen Freizeitaktivitäten mit dem Jungen geben werde - auch nicht, wenn sie dabei sei. De facto war L. längst bei ihr eingezogen.
Der Missbrauch des Kindes ging indes weiter, wie man heute weiß. Im September nahmen Spezialkräfte Christian L. vor einem Supermarkt fest, der Fall wurde im Januar 2018 öffentlich. Bei der Staatsanwaltschaft gingen inzwischen 15 Anzeigen gegen das Jugendamt und beteiligte Richter ein. Man prüfe einen Anfangsverdacht, sagte ein Sprecher.
Zusammengefasst: Im Fall des in Staufen über Jahre missbrauchten Kindes steht das Urteil gegen die Mutter des Jungen und deren Lebensgefährten bevor. Berrin T. und Christian L. müssen mit langen Freiheitsstrafen rechnen. Ihr Fall zeigt, dass der Informationsfluss zwischen Gerichten, Behörden, Polizei und Bewährungshelferin so schlecht war, dass der Missbrauch des Jungen über Jahre weitergehen konnte. Zudem wird deutlich, dass Gerichte den Beteuerungen der Mutter, sie werde auf ihr Kind aufpassen, allzu leicht Glauben schenkten.
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Staufen bei Freiburg: Hier lebte ein heute zehn Jahre alter Junge, der von seiner Mutter, ihrem Partner und fünf weiteren Beschuldigten missbraucht worden war.
Die Vorwürfe werden im Januar 2018 öffentlich. Laut dem Landeskriminalamt ist es der "schwerste Fall des sexuellen Missbrauchs, der in Baden-Württemberg von der Ermittlungsbehörde bisher bearbeitet wurde".
Die Polizei kommt den Tatverdächtigen nach einem anonymen Hinweis aus dem Internet im Herbst 2017 auf die Spur. Im September 2017 nehmen sie den Hauptverdächtigen Christian L. vor einem Supermarkt fest. Danach machen die Ermittler weitere Tatverdächtige ausfindig und nehmen sie fest. Insgesamt stehen im Zusammenhang mit dem Tatkomplex acht Beschuldigte vor Gericht.
Stadtsee in Staufen: Hier finden Polizisten eine Festplatte von Christian L. Er war einschlägig vorbestraft: Bis 2014 war er mehr als vier Jahre in Haft, weil er eine 13-Jährige missbraucht und Kinderpornos besessen hatte. Nach seiner Freilassung lernt er Berrin T. bei der Freiburger Tafel kennen. Sie ist die Mutter des Jungen. 2015 beginnen sie, den damals Siebenjährigen zu missbrauchen und bieten ihn im Darknet gegen Geld für Vergewaltigungen an.
Die Polizei findet im Februar 2017 heraus, dass Christian L. gegen seine Bewährungsauflagen verstieß, indem er ohne Anwesenheit der Mutter Kontakt mit dem Jungen hatte. Das Jugendamt des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald (im Bild) wird informiert, es gibt den Jungen im März 2017 in eine Pflegefamilie.
Das Amtsgericht Freiburg (Foto) beendet die Inobhutnahme, im April kommt der Junge zurück zur Mutter. Das Oberlandesgericht bestätigt die Entscheidung später. In beiden Verhandlungen versichert Berrin T., den Jungen von Christian L. fernzuhalten.
Bei der Zentralstelle für Internetermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt geht im September 2017 der erste Hinweis auf den Missbrauch des Jungen ein. Der Junge wird aus der Familie genommen, insgesamt acht Verdächtige werden festgenommen.
Im April 2018 beginnt der erste Prozess im Staufener Missbrauchsfall. Angeklagt ist Markus K. Er wird am 19. April zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren sowie einer Geldstrafe von 12.500 Euro verurteilt. Zudem ordnet das Freiburger Landgericht Sicherungsverwahrung an. Der Mann hatte gestanden, den aus Staufen bei Freiburg stammenden Jungen zweimal vergewaltigt und dabei gefilmt zu haben. Das Urteil ist inzwischen rechtskräftig.
Im Prozess gegen Markus K. vor dem Freiburger Landgericht sagt auch Christian L. aus. Er legt ein umfassendes Geständnis ab: Es habe von 2015 bis Herbst 2017 schätzungsweise mehr als 60 Taten gegeben, sagt L. Der Junge habe die Männer im Freien, in der eigenen Wohnung oder in angemieteten Ferienwohnungen treffen müssen. Er selbst habe sich im Schnitt ein Mal pro Woche an dem Kind vergangen, sagt L. Auch die Mutter sei beteiligt gewesen.
Vor dem Landgericht Freiburg fällt am 16. Mai das Urteil gegen den Bundeswehrsoldaten Knut S. Der 50 Jahre alte Stabsfeldwebel wird unter anderem wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs und Vergewaltigung zu acht Jahren Haft verurteilt. Auch er muss an das Kind 12.500 Euro Schmerzensgeld zahlen. Sicherungsverwahrung, wie es die Anklage und auch die Vertreterin des Jungen als Nebenkläger gefordert hatten, bekommt er nicht. Staatsanwaltschaft und Verteidigung gehen in Revision.
Das Landgericht Kiel (Foto) verurteilt einen 32 Jahre alten Mann aus Neumünster am 5. Juni wegen Vergewaltigung seiner Tochter zu sieben Jahren und drei Monaten Haft. Der Mann war aufgeflogen, weil Filmaufnahmen vom Missbrauch seiner Tochter bei Ermittlungen der baden-württembergischen Behörden gegen die anderen Verdächtigen im Staufener Missbrauchsfall aufgetaucht waren. Am Missbrauch des Jungen war der 32-Jährige nicht beteiligt.
Am 6. Juni beginnt der Prozess gegen Jürgen W. Er wird einen Monat später zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Das Landgericht Freiburg ordnet Sicherungsverwahrung an. Außerdem muss der Verurteilte 14.000 Euro Schmerzensgeld an das Opfer zahlen. Der gelernte Maurer aus dem Kanton St. Gallen hatte zugegeben, den heute zehn Jahre alten Jungen dreimal vergewaltigt und dafür Geld gezahlt zu haben.
Die Hauptangeklagten vor Gericht: Am 11. Juni beginnt der Prozess gegen Berrin T. und Christian L. Dem Paar werden unter anderem schwere Vergewaltigung und Zwangsprostitution in jeweils knapp 50 Fällen zur Last gelegt. In der mehr als hundert Seiten langen Anklageschrift gegen die Mutter und ihren Partner ist die Rede von Fesselungen, Demütigungen, Beschimpfungen, Drohungen, körperlicher Gewalt.
Der 44-jährige Daniel V. wird Ende Juni vom Landgericht Karlsruhe zu acht Jahren Haft verurteilt. Die Richter ordneten zudem die anschließende Sicherungsverwahrung für den einschlägig vorbestraften Handwerker an. Daniel V. war nach Überzeugung des Gerichts im vergangenen Jahr nach Karlsruhe gereist, um dort einen neunjährigen Jungen zu vergewaltigen. Bei seiner Festnahme wurden Fesseln gefunden. Er soll im Darknet auch angefragt haben, ob er den Jungen nach dem Missbrauch töten dürfe. Das aber soll Christian L. abgelehnt haben.
Ende Juli beginnt der letzte Prozess im Staufener Missbrauchsfall. Angeklagt ist ein 33-Jähriger aus Spanien. Das Gericht verurteilt ihn zu zehn Jahren, außerdem muss der Mann 18.000 Euro Schmerzensgeld an das Opfer zahlen.
Am 7. Juli fällt das vorerst letzte Urteil in dem Fall mit acht Beschuldigten. Berrin T. muss zwölf Jahre und sechs Monate in Haft; Christian L. wird zu einer zwölfjährigen Gefängnisstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das Paar hatte die Taten vor Gericht eingeräumt. Sie sollen insgesamt 42.500 Euro Schmerzensgeld an den Jungen sowie an ein weiteres Opfer, ein kleines Mädchen, zahlen.