Thomas Fischer

Kriminalität Strafverfolgung im Shutdown

Thomas Fischer
Eine Kolumne von Thomas Fischer
Was macht das Verbrechen in der Corona-Depression? Welche Gefahren drohen? Was sagt die Statistik? Ein Ausblick ins Ungewisse.
Polizeifahrzeug in Hamburg

Polizeifahrzeug in Hamburg

Foto: Jannis Grosse/ imago images/Jannis Große

Daten und Taten

Darf ich Sie einmal kurz von der Betrachtung der Seuchenlage und den Vorhersagen zum Überleben der Marktwirtschaft ablenken? Ich wage das, weil noch nie in der jüngeren deutschen Geschichte das Interesse breiter Bevölkerungskreise an Fragen der Statistik so groß, die Bereitschaft zur kritischen Diskussion empirischer Erhebungen so tief war wie im Moment. Die allgemeine Informiertheit über Arten und Unterarten von Mund- und Nasenschutzmasken, ihre Einsatzgebiete, Herstellungsorte, potenziellen Lieferwege und tatsächlichen Abwege ist phänomenal und wird ergänzt durch Berechnungen darüber, wie viele Masken der Bundesgesundheitsminister zu welchem Zeitpunkt nicht bestellt hat.

Ich weiß, dass Sie dieses Beispiel für geschmacklos halten. Aber Lothar H. Wieler, der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), der mit bewundernswerter Geduld erklärt, was zu erklären ist, wurde bei der Pressekonferenz am 3. April kritisch danach gefragt, ob er im Nachhinein bedauere, dass das RKI die in Deutschland bestehende Gefahrenlage vor fünf Wochen als "niedrig" und später als "mäßig" eingeschätzt habe, obwohl sich doch jetzt gezeigt habe, dass sie "hoch" sei. Wer solche Nachfragen hat, braucht sich über Twitter nicht zu beschweren.

Es dürfen heute aber einmal ein paar erfreuliche Nachrichten verkündet und gewürdigt werden. Sie sind vielleicht nicht ganz unmittelbar mit dem größten News-Ereignis des Jahrtausends verbunden, könnten es aber mit etwas Fantasie sein oder werden, und das allein macht sie wertvoll.

Unbemerkt von Livestreams und Sondersendungen ist am 24. März vom Bundeskriminalamt (BKA) die "Polizeiliche Kriminalstatistik 2019" (PKS 2019) samt Bericht der Innenministerkonferenz (IMK) veröffentlicht worden. Sie weist die niedrigsten Fallzahlen seit 2005 auf. Normalerweise teilt der Bundesinnenminister alljährlich mit, die Lage sei gut, aber ernst, die Polizei erfolgreich, aber tief besorgt, das Verbrechen auf dem Rückzug, aber weiter gefährlich. Im Hintergrund Raunen über den angeblichen Zusammenbruch der öffentlichen Sicherheit.

Und nun das: Gewaltdelikte gesunken, sexueller Missbrauch erneut gesunken; Straßenkriminalität, Diebstahl, Raub und Einbruch ebenfalls! Auch beim Angrapschen aus Gruppen (Paragraf 184j StGB) geht es nicht voran: Magere 32 Anzeigen, bei denen sich gerade einmal elf verdächtige Personen auftreiben ließen - obwohl doch, wie wir hörten, Hunderttausende von illegalen maghrebinischen Antänzern fast nichts anderes tun. Was die Lage der Natur außerhalb der Mikrobenebene betrifft, ist mitzuteilen, dass im vergangenen Jahr 126 Fälle der Luftverunreinigung (Paragraf 325 StGB) registriert (95 "aufgeklärt") wurden. Von 53 Tatverdächtigen wurden überdies 58 Mal Abfälle unbefugt in die Welt ausgeführt, was in 48 Fällen in dem Sinn aufgeklärt wurde, dass ein Verdächtiger benannt wurde. Man darf davon ausgehen, dass es sich in den meisten dieser Fälle um eher kleine Fische handelte. Umweltmäßig ist Deutschland, wie wir jährlich aus der PKS lernen, seit jeher praktisch verbrechensfrei.

Schlechte Zeichen für Apokalyptiker, auch wenn wie immer gesagt werden muss, dass die PKS Anzeigen und Verdächtige zählt, nicht bewiesene Taten und überführte Täter. Und dass zwar diese Kriterien über die Jahre gleich sind, ihre praktischen Anwendungen aber nach Zeit, Ort und kriminalpolitischem Schwerpunkt sehr unterschiedlich ausfallen: Wer stark nach etwas Bestimmtem sucht, findet meist auch viel.

Man fragt sich: Was wird Covid-19 mit der Kriminalstatistik machen? Werden die "kriminellen Clans" die Macht übernehmen? Werden kinderreiche Immigranten als Sieger aus dem Beatmungskrieg hervorgehen? Müssen Polizeieinheiten gegen Toilettenpapierplünderung, Desinfektionsmittelraub und Sterbehilfe aufgestellt werden? Ermuntern Mittelstands- und Hoteliervereinigungen, Bäckermeister und freiberufliche Schauspieler die Bürger zu Umsturz und Bildung bewaffneter Haufen?

Wir halten das für unwahrscheinlich. Eher könnten wir uns vorstellen, dass die Zahl der Insolvenzstraftaten ein wenig steigen könnte: der betrügerische Bankrott etwa (Paragraf 283 StGB) oder die Verletzung der Buchführungspflicht (Paragraf 283b). Man könnte auch höchst vorsorglich an die Gründung von Taskforces gegen betrügerische Beantragungen von Corona-Hilfen denken, an Razzien wegen Wuchers oder Kreditbetrugs, an Strukturverfahren zum Subventionsbetrug durch Vortäuschen von Corona-Folgen.

Das Schlimmste

Auf besondere Weise verbunden werden Coronakrise und Kriminalstatistik in der Diskussion über die Zunahme sogenannter häuslicher Gewalt im virenverursachten Ausnahmealltag. Damit ist eine Mischung von objektiven und subjektiven Faktoren gemeint: längeres, enges Zusammensein von Familien- und häuslichen Gemeinschaften; Konfrontation mit Anforderungen, Wünschen und Eigenarten von Personen, denen man sonst selten begegnet oder ausweicht (Lebenspartner, Kinder); Langeweile und Sinnleere; Sorge um Arbeitsplätze, Wohlstand, Zukunft im Allgemeinen; möglicherweise sogar Furcht vor Erkrankung. Letzteres spielt freilich in den zahllosen Lagebeschreibungen eine durchweg geringe Rolle. Im Vordergrund steht die Herausforderung des Zusammenseins auf (angeblich) engem Raum ohne das übliche Maß zerstreuender und auflockernder Außenaktivitäten.

Die Anforderungen der Kontaktbeschränkung erhöhen nach verbreiteter Ansicht die Gefahr von persönlichen Konflikten und von Gewalttätigkeiten; zur Illustration werden Analogien von endlosen Weihnachtsfesten und verregneten Campingurlauben verwendet. Das mag im Grundsatz zutreffen. Man könnte sich allerdings wundern, wie wenig im coronafreien Alltag gegen diese Ursachen von häuslicher Gewalt getan wird und mit welch begeisterter Hoffnung sich die Bevölkerung immer wieder aufs Neue in die Verzweiflung der Weihnachtsdepression, des Alkoholismus und der sozialen Depravation stürzt.

Es ist, wie man weiß, zwischen Möglichkeiten, Prognosen, Tatsachen und deren Folgen im Leben jeweils ein empirischer Schritt zurückzulegen. In einem Kommunikationsumfeld, in welchem die Schlagzeilen über die katastrophalen Folgen einer Meldung schon entworfen werden, bevor diese Meldung selbst veröffentlicht ist, sind aber viele versucht, die Zwischenschritte zu überspringen. Daher verging auch hier zwischen Meldungen, jemand habe vor der Möglichkeit einer Zunahme von häuslicher Gewalt gewarnt, und der Schlagzeile, die Zahl der für zusätzliche Fälle in Berlin angemieteten Hotelzimmer sei viel zu niedrig angesichts explodierender Opferzahlen, gerade einmal ein Tag.

Seit 22. März galt in Berlin eine (erste) Verordnung zur Coronakrise; sie enthielt Ausgangsbeschränkungen. Am 26. März teilte die Polizeipräsidentin mit, vom 1. bis 24. März habe man einen "leichten Anstieg" häuslicher Gewalt festgestellt; valide Zahlen lägen aber nicht vor. Am 2. April wurde mitgeteilt, es sei ein Anstieg von 11 Prozent für den Zeitraum vom 14. bis 31. März festgestellt worden; Angaben zu Ursachen könnten nicht gemacht werden. Das "Kummer-Telefon" verzeichne 20 Prozent Anstieg der Anrufe von Kindern und Eltern; Grund hierfür könne allerdings die massive öffentliche Werbung dafür sein.

Alle Artikel zum Coronavirus

Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

Die übliche Definition des Begriffs "häusliche Gewalt" unterstellt, könnte es sich um etwa 50 Fälle ("Anzeigen") mehr als im Vorjahreszeitraum handeln; umfasst sind Anzeigen wegen Gewaltausübung gegen Kinder, Frauen und Männer, von Männern untereinander, Frauen untereinander sowie von Frauen und Männern gegen Kinder. Ob es sich um Strafanzeigen nach der StPO handelt, ist unklar, auch ob die Anzeigen berechtigt waren, ob es sich um Anzeigen von Betroffenen, Dritten oder um Einschreiten von Amts wegen handelte und so weiter. Was im Einzelnen als "häusliche Gewalt" definiert wird, ist auch je nach Blickwinkel und Aufgabe von Institutionen unterschiedlich. Die genannten Unsicherheiten stellen nicht das Phänomen als solches infrage; sie sind nicht geeignet, tatsächlich eingetretene Einzelfälle zu verharmlosen, das Unrecht und die Folgen von Gewalttaten zu verkleinern. Sie sind aber wichtig, um Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Verarbeitung solcher und ähnlicher Probleme zu verstehen und zu bewerten.

Ein paar Schlaglichter auf die Nachrichtenlage: "Es sind Demütigungen, Schläge und andere körperliche Attacken bis hin zum Mord. Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt wird wegen der verhängten Corona-Maßnahmen dramatisch steigen. Davor warnt Laura Kapp vom Netzwerk der brandenburgischen Frauenhäuser." ("BZ", 25.3.) "Die Wohnung ist eng, der Lebenspartner gewalttätig: Für viele Frauen und Kinder ist das eigene Zuhause in der Corona-Krise kein Schutz-, sondern ein Angst-Raum ... Die Landesregierung ... schafft neue Schutzplätze für Frauen und Kinder." ("BZ", 2.4.) "Corona-Isolation treibt häusliche Gewalt nach oben ... 'Aus den Ländern bekommen wir unterschiedliche Rückmeldungen. Es gibt offensichtlich ein Stadt-Land-Gefälle', sagt Bundesfamilienministerin Franziska Giffey." (dpa, 3.4.). Der Bundesvorsitzende des Weißen Rings, Jörg Ziercke, zur häuslichen Gewaltlage: "Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen." (Weißer Ring, 28.3.). Und die Journalistin Anette Dowideit ("Welt") hatte am 5.4. im ARD-"Presseclub" das Schlimmste schon eingearbeitet: "Wir sehen einen massiven Anstieg häuslicher Gewalt."

Gern wüsste man, welche Länder auf welche Anfrage welche Rückmeldungen gegeben haben und wie es gelang, binnen wenigen Tagen Auswertungen wie "Stadt-Land-Gefälle" und Ursachenanalysen zustande zu bringen. Und gern wüsste man, wo genau Frau Dowideit den massiven Anstieg gesehen hat. Allerdings stimuliert jede Andeutung von Zweifeln am Schlimmsten den empörten Reflexvorwurf, Leiden von Opfern sollten verharmlost werden. Wenn die Guten beschlossen haben, dass man ein umso besserer Mensch sei, je mehr man das im Dunkel stets drohende Schlimmste verabscheue, lassen sie sich dieses schöne Gefühl nur ungern verderben.

Folgen und Verantwortungen

Tatsächlich geht es mir um etwas anderes. Die inzwischen als "Jahrhundertkrise" bezeichnete Epidemie hat Folgen verschiedenster Art. Man sollte vermuten, im empathischen Bewusstsein stünden die konkreten Folgen für Leben und Gesundheit von Millionen Betroffenen im Vordergrund. Stattdessen ergeht sich die Öffentlichkeit in Rekordlisten und Grafiken über Totenzahlen und komatöse Beatmete und räsoniert über Fehlerquellen in amtlichen Mitteilungen und Maßnahmen. Wer nach Luft ringt, hat andere Sorgen. Der Rest ringt die Hände prophylaktisch, mittelbar und ohne Lungenentzündung.

Seit der Anordnung von Beschränkungen wird vor einer dramatischen Zunahme schwerer depressiver Erkrankungen und Suizide bei in Isolation und Insolvenz getriebenen Menschen gewarnt. Dazu weisen Ärztevereinigungen und Verwaltungen auf Hilfsangebote hin. In der Öffentlichkeit der Foren und Blogs scheint es eher so, als stünden weniger tatsächliche Leiden Dritter im Mittelpunkt des Interesses als vielmehr für die Zukunft fantasierte eigene Behelligungen, deren Vermeidung und Abwendung man überwiegend von öffentlichen und staatlichen Institutionen einfordert. Ob das Familienministerium in Stadt und Land angefragt hat, wie sich seit 14. März die Suizidzahlen entwickelt haben, ist mir unbekannt, aber unwahrscheinlich.

Es könnte nun sein, dass dies kein Zufall und auch keine übersensible Wahrnehmung ist. "Jedes Opfer ist uns gleich lieb und wert", ist ein Credo von überwältigender Schönheit, aber leider bedrückender Unwahrhaftigkeit. In diesem speziellen Fall dürfte es nicht nur um die - teils verdienstvolle, teils sozialpsychologisch bedenkliche - Dramatisierung von Opferperspektiven gehen. Diese ist bekanntlich schon deshalb entlastend, weil damit oft eine stellvertretende Identifikation mit dem Opfer und die Übernahme einer Sachwalterrolle verbunden ist. Das ermöglicht eine flexible Handhabung von Unterlegenheits- und Dominanzgefühlen, Opferrolle und Verfolgerfantasie. Es wirkt stressmindernd, indem es reale Machtlosigkeit durch fantasierte Macht ersetzt.

Bei der vorbeugenden Bekämpfung der Gewaltexzesse des "Corona-Kollers" ("Die Leidtragenden werden Frauen und Kinder sein", ahnte der Dichter von Schirach bei n-tv am 2. April) geht es somit auch darum, aktive Gestaltungsmacht durch Zuschreibung von unbezweifelbarer Schuld zu gewinnen. Denn am Virus ist ja niemand "schuld", und weder die Eliten noch "die Politik" kann man glaubhaft verantwortlich machen für Langeweile vor dem Fernseher und Insolvenz von Kreuzfahrtreedern. Da trifft sich gut, dass das Böse immer im Dienst ist und die Empörungsskala keine Begrenzungen zur Zukunft, zur Fantasie und zum Selbst aufweist. Vor drei Wochen standen Plünderungen bevor, vor zwei Wochen Massensuizide, jetzt bekämpft man vorerst die Gewaltexzesse, von denen man schwer träumt. Ich bin mir da nicht so sicher.

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