Streitfall Notwehr "Ich habe noch nie so viel Angst gehabt"

Sven G. wurde an einer U-Bahn-Haltestelle von Jugendlichen attackiert, in Notwehr stach er einen Angreifer nieder. Richter schickten ihn deshalb fast vier Jahre ins Gefängnis - doch der Bundesgerichtshof hob die Entscheidung auf. Jetzt wird der Fall neu aufgerollt.
Gewalt an öffentlichen Haltestellen (Symbolbild): Wann wird Notwehr zum Angriff?

Gewalt an öffentlichen Haltestellen (Symbolbild): Wann wird Notwehr zum Angriff?

Foto: Corbis

Hamburg - Zweimal im Monat dürfen Werner und Christa G. ihren Sohn in der Münchner Justizvollzugsanstalt Stadelheim besuchen. Jeweils 30 Minuten Zeit haben sie dann für ein Gespräch, sitzen dem 31-jährigen Sven an einem langen Tisch gegenüber, umringt von anderen Gefangenen und deren Angehörigen. Auch ein Aufsichtsbeamter ist dabei. Meist ziehen die G.s für Sven Schokolade oder Getränke aus einem der Automaten.

Sven G. sitzt seit 19 Monaten in Haft. Seit dem 7. Mai 2009 darf er in der Bibliothek des Gefängnisses arbeiten, die Bücherwägen für die einzelnen Stationen zusammenstellen und Bestellungen sortieren. Rund 35 Stunden pro Woche ist er dort beschäftigt. An seinem Diplom als Informatiker arbeitet er nebenher. Nachts schläft er in einer Einzelzelle.

Das Schwurgericht hatte Sven G. am 9. Januar dieses Jahres wegen versuchten Totschlags zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Der gebürtige Münchner war von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen worden - und hatte sich heftig gewehrt. Zu heftig, wie das Oberlandesgericht entschied.

Es geht um das Recht auf Notwehr - und darum, wo Notwehr endet und das Blatt sich wendet, dass das Opfer einer Gewaltattacke damit rechnen muss, selbst auf der Anklagebank zu landen. Fast einen Monat lang verhandelte das Schwurgericht genau dieses Problem und erklärte mit seinem Urteilsspruch, dass bei der Wahl der Notwehr-Mittel stets die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben muss.

"Was schaust du?"

Der Informatikstudent Sven G. hatte am 14. März 2008 mit Freunden den Geburtstag seines jüngeren Bruders gefeiert. Auf dem Heimweg trifft die Clique gegen Mitternacht in der Nähe des Münchner U-Bahnhofes Garching auf eine Gruppe junger Serben, die kurz zuvor aus einem Freizeitheim geworfen wurde, weil die jungen Männer dort randaliert hatten. Unter ihnen der sturzbetrunkene Mergim S. Der 17-Jährige war zudem in eine Prügelei mit einem anderen Teenager verwickelt. Ganz offensichtlich ist er auf Krawall aus.

Es kommt zu einem Wortwechsel, in dessen Verlauf Mergim S. einen Freund von Sven G. mit einem Fausthieb zu Boden schlägt. Dann wendet er sich Sven G. zu und schnauzt ihn an: "Was schaust du?" Auch Sven G. - 1,85 Meter groß und 95 Kilo schwer - ist nicht mehr nüchtern, 1,8 Promille werden später ermittelt.

Mergim S. - 1,75 Meter groß und 20 Kilo leichter als Sven G. - schubst den Älteren und holt aus. "Ich habe in meinem Leben noch nie so viel Angst gehabt", beteuerte Sven G. später vor Gericht.

Er habe die Bilder der Münchner U-Bahn-Schläger vor Augen gehabt, die einen wehrlosen Rentner im Dezember 2007 fast zu Tode geprügelt hatten: "Ich habe den Eindruck gehabt, der S. und seine Freunde treten mich zusammen."

Sven G., der noch nie zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, trägt ein kleines Messer an einem Band um den Hals, ein sogenanntes Neck-Knife. Ohne Vorwarnung rammt er Mergim S. das vier Zentimeter lange Messer in den Hals.

Der Stich geht knapp an der Halsschlagader vorbei, S. überlebt nur dank sofortiger Notoperation. Zwei Zentimeter weiter und der Teenager wäre tot gewesen.

Lediglich mit dem Messer zu drohen habe er nicht in Betracht gezogen, sagte Sven G. später vor Gericht. "Ich glaube nicht, dass das kleine Messerchen abschreckend wirkt. Die hätten mich dann erst recht zusammengeschlagen." Mergim S., ein Amateurfußballer, gab an, er habe seine Profi-Träume wegen der Verletzung begraben müssen und forderte als Nebenkläger 25.000 Euro Schmerzensgeld.

Täter und Opfer seien hier vertauscht worden, erklärte Sven G.s Verteidiger zu Beginn des Prozesses. Und auch Sven G. sagte vor Gericht, er fühle sich "nicht als Täter, sondern als Opfer" - eine Aussage, die den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl sichtlich empörte. Sven G. revidierte diese Äußerung zwar im Laufe der Verhandlung, doch sie lag wie ein Schatten über dem Verfahren.

Wann besteht eine Notwehrlage - wann nicht?

Die Urteilsbegründung verdeutlichte, dass die Strafkammer den Studenten nicht als Opfer sah. Der "körperlich deutlich überlegene und zudem bewaffnete" Sven G. habe mit dem Stich "überzogen" gehandelt, erklärte die Kammer. Er habe den Jugendlichen mit keinem Wort gewarnt und auch das Messer so versteckt gehalten, dass dieser es nicht bemerkt habe. Nicht zuletzt habe G. gegen S.' Hals gezielt, nicht gegen dessen Arme oder Beine.

"Es gab zwar eine Notwehrlage", so Richter Götzl, doch der Einsatz des Messers sei unverhältnismäßig gewesen. "Sie sind über das zulässige Maß weit hinausgegangen", sagte er direkt an Sven G. gerichtet.

Sven G. habe "zielgerichtet" zugestochen, auch sein "überlegtes Verhalten" nach der Tat lasse nicht erkennen, dass er aus Angst gehandelt habe. Denn Sven G. hatte nicht etwa die Polizei informiert oder Hilfe geholt - was möglicherweise sogar als strafbefreiender Rücktritt von der Tat gewertet worden wäre - sondern flüchtete in seine Wohnung. Dort fand die Polizei am Tag nach der blutigen Auseinandersetzung am U-Bahnhof ein Butterfly-Messer, dessen Besitz strafbar ist.

Das Argument des Angeklagten, er habe auf S.' Attacke in "panischer Angst" reagiert, ließ die Kammer nicht gelten. Laut Strafgesetzbuch (StGB) wird derjenige nicht bestraft, der "aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken" die Grenze der Notwehr überschreite. Juristen sprechen in einem solchen Fall von einem "intensiven Notwehrexzess". Aus Sicht der Richter gab es dafür im Fall von Sven G. keine Anhaltspunkte.

"Ich habe einem Menschen fast das Leben genommen. Das bedaure ich sehr"

In der Gesamtschau stuften die Richter die Tat als minder schweren Fall ein. Der Ankläger hatte sogar vier Jahre und sechs Monate gefordert. Die juristische Bewertung ist eindeutig - doch wird sie dem Geschehen, den menschlichen Reaktionen der Beteiligten und insbesondere Sven G.s, wirklich gerecht?

Wie rational vermag man Aktion und Folgen gegeneinander abzuwägen, wenn man angegriffen wird? Das Schicksal des Münchner Geschäftsmanns Dominik Brunner, der im September 2009 Schüler vor einer Attacke gewaltbereiter Jugendlicher schützen wollte und das mit dem Leben bezahlte, verleiht dem Fall Sven G. eine neue Brisanz.

Sven G.s Anwälte legten Revision gegen das Urteil ein - und der Bundesgerichtshof (BGH) hob die Entscheidung über die Strafhöhe auf.

Der 1. Senat des BGH stimmte zwar zu, dass G. sein Notwehrrecht mit dem Messerstich in den Hals eindeutig überschritten hat und zu Recht wegen versuchten Totschlags verurteilt worden ist. Die Bundesrichter befanden aber auch, dass die strafmildernden Umstände zu wenig berücksichtigt wurden. Sven G. hatte sich entschuldigt und dem Opfer 12.500 Euro als Wiedergutmachung gezahlt. "Ich habe einem Menschen fast das Leben genommen", sagte G., "das bedaure ich sehr."

Im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs hätte das Schwurgericht diese außergerichtliche Konfliktschlichtung strafmildernd werten müssen. Der BGH sieht auch die Einlassung des Täters nicht genügend gewürdigt, zuerst angegriffen worden zu sein und sich als Opfer gefühlt zu haben.

Ab dem 9. November wird der Fall vor der 2. Strafkammer neu aufgerollt.

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