
Protest vor dem Bundestag Symbole im Bannkreis


Absperrungen vor dem Reichstagsgebäude, 28. August 2020
Foto: Stefan Zeitz / imago imagesRegelungsgeschichte
Im Oktober 1848 beschloss die in der Paulskirche zu Frankfurt am Main tagende Nationalversammlung, um den Sitz des Parlaments eine "Bannmeile" zu bestimmen, innerhalb derer öffentliche Versammlungen und Aufzüge (Neusprech: "Demo") bei Strafe verboten waren. In anderen Ländern gab es so etwas schon, z.B. in England aufgrund des "Seditious Meeting Act" vom 31.3.1817, mit einer Sperrzone von einer Meile rund um Westminster Hall. Auf den Ursprung in mittelalterlichen Gewerbe-Bannrechten und dem Schutz von Adelsvorrechten ("Jagdbann", "Fischbann" u.a.) kommt es für unseren Zusammenhang nicht an.
Die Bannkreisregelung wurde 1918 für kurze Zeit aufgehoben. Am 13.1.1920 versuchten bei einer Großdemonstration Mitglieder der USPD, KPD und der "Freien Gewerkschaften", in das Gebäude des Reichstags einzudringen, wo das Betriebsrätegesetz beraten wurde; die "Sicherheitspolizei" (SiPo) setzte Maschinengewehre und Handgranaten gegen die Demonstranten ein und erschoss 42 Menschen. In der Folge erging das "Reichsgesetz über die Befriedung der Gebäude des Reichstages und der Landtage" vom 8.5.1920 (RGBl S. 909), das bis 1934 galt. Versammlungen waren schon ab 1933 allgemein verboten. Erst durch das Bannmeilengesetz vom 6.8.1955 (BGBl. I S. 504) wurden wieder Schutzzonen für die Gesetzgebungsorgane in Bonn und das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingerichtet; sie wurden im Jahr 1999 - nach dem Umzug des Bundestags nach Berlin - aufgehoben (Gesetz vom 11.8.199, BGBl. I S. 1818). Zugleich wurden für Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht sog. "befriedete Bezirke" gebildet, innerhalb derer Versammlungen nur zulässig sind,
"wenn eine Beeinträchtigung der Tätigkeit des Deutschen Bundestages und seiner Fraktionen, des Bundesrates und des Bundesverfassungsgerichts sowie ihrer Organe und Gremien und eine Behinderung des freien Zugangs zu ihren in dem befriedeten Bezirk gelegenen Gebäuden nicht zu besorgen ist" (§ 5).
Der frühere Straftatbestand des § 106a StGB ("Verletzung des Bannkreises") wurde mit Wirkung ab 18.8.1999 aufgehoben. Er lautete:
(1) Wer innerhalb des befriedeten Bannkreises um das Gebäude eines Gesetzgebungsorgans des Bundes oder eines Landes sowie des Bundesverfassungsgerichts an öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel oder Aufzügen teilnimmt und dadurch Vorschriften verletzt, die über den Bannkreis erlassen worden sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft.
(2) Wer zu Versammlungen oder Aufzügen auffordert, die unter Verletzung der in Absatz 1 genannten Vorschriften innerhalb eines befriedeten Bannkreises stattfinden sollen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Stattdessen wurde in § 16 in Verbindung mit § 29a des Versammlungsgesetzes (VersG) ein Ordnungswidrigkeiten-Tatbestand eingeführt, der eine flexible Handhabung nach dem Opportunitätsprinzip gestattet (Geldbuße bis 30.000 €). Das VersG verweist dabei auf die Bannkreisgesetze der Länder. Für den Bund gilt inzwischen das "Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes" vom 8.12.2008 (BGBl. I S. 2366). Sein § 3 Abs. 1 lautet:
Öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge innerhalb der nach § 1 gebildeten befriedeten Bezirke sind zuzulassen, wenn eine Beeinträchtigung der Tätigkeit des Deutschen Bundestages und seiner Fraktionen, des Bundesrates oder des Bundesverfassungsgerichts sowie ihrer Organe und Gremien und eine Behinderung des freien Zugangs zu ihren in dem befriedeten Bezirk gelegenen Gebäuden nicht zu besorgen ist. Davon ist im Falle des Deutschen Bundestages und des Bundesrates in der Regel dann auszugehen, wenn die Versammlung oder der Aufzug an einem Tag durchgeführt werden soll, an dem Sitzungen der in Satz 1 genannten Stellen nicht stattfinden. Die Zulassung kann mit Auflagen verbunden werden.
Symbole
Am 23. Februar 1981 versuchten (Franco-treue) Teile der spanischen Armee, durch einen Putsch die demokratische Regierung Spaniens zu stürzen. Bedauerlicherweise erinnern sich in Deutschland wohl nur noch wenige an die Bilder von Antonio Tejero, Oberstleutnant der Guardia Civil, der mit gezogener Pistole am Rednerpult des spanischen Parlaments steht und die Absetzung der Regierung verkündet. Eine Mehrheit der deutschen Bürger, denen solcherlei Vorkommnisse allenfalls als Unordentlichkeiten aus fernen Welten erscheinen, neigt 40 Jahre später der Ansicht zu, die schlimmsten Bedrohungen des demokratischen Friedenszustands seien unter Kopftüchern und Infektionsschutzmasken, in Asylbewerberheimen und Familienclans, durch Eliten oder Sozialromantiker zu finden. An Herrn Tejero und seine Spießgesellen erinnern sich nur noch jene, die dem Großwildjäger und Nebenerwerbs-Geschäftsmann Juan C. aus Madrid aus verblassender Dankbarkeit für sein damaliges Verhalten einen stillen, aber friedlichen Ausklang wünschen, wenn möglich unter Rücküberweisung von 100 Millionen.
Nun verbanden sich neuerdings, am 29. August, auf bemerkenswerte Weise all diese Erinnerungen in einem neuen, symbolträchtigen Event eigener Art. Einige Hundert der sogenannten "Corona-Kritiker", von deren Mehrheit das Freundlichste, was man vermuten kann, sein dürfte, dass sie bemerkenswert gut eine eklatante Verschrobenheit imitieren, begaben sich, auf Veranlassung einer Dame namens Tamara K., zum Gebäude des Bundestags, um es - ankündigungsgemäß - zu "stürmen". Diese virologisch und verfassungsrechtlich erleuchtete Sturmabteilung war weder naiv noch geistesschwach, sondern von unerschötterlichem Glauben an das Deutsche inspiriert und von Reichskriegsflaggen umweht. Ob die drei Polizeibeamten, die sich ihnen in den Weg stellten, Helden waren (Blome) oder bloß ihren Job machten (Stokowski), ist selbst unter Kolumnisten streitig, kann aber hier dahinstehen: Gut jedenfalls, dass sie da waren und alsbald noch mehr von ihresgleichen herbeiriefen. Denn sonst hätte es wohl sein können, dass ein Mensch, den man unter der Bezeichnung "Vegankoch" kennen soll, wie einst OStL Tejero ans Rednerpunkt getreten und der Republik mit der Suppenkelle gedroht hätte, dieweil seine seitengescheitelten Freunde das Gebäude nach holländischen Brandstiftern durchsucht hätten und Frau Abgeordnete Dr. Weidel sich und ihre Wahlkampfkasse vielleicht beim virenfreien, elitearmen Volk der Eidgenossen hätte in Sicherheit bringen müssen.
Das rückt, vor allem seit Herr Bundespräsident und Herr Bundestagspräsident sich nachträglich als rettende Stents vor das Herz der Demokratie warfen, die Frage der republikanischen Symbolik wieder ins Bewusstsein. Sie war ja zuletzt ein wenig in Vergessenheit geraten. Zumindest ausländischen Staatspräsidenten hat man hierzulande die Symbolkraft gestrichen und darf sie, wenn sie einem nicht passen, überaus lustig als Ziegenficker und Kindesmissbraucher bezeichnen, damit einmal dargestellt wird, was man nicht sagen darf, wohingegen eine Bundesjustizministerin, die zum Beispiel das Justizsystem der amerikanischen Freunde der "Verrottetheit" verdächtigte, sogleich zu entlassen war. Aber das ist, wie wir wissen, eine andere Geschichte.
Es bleiben noch allerlei Symbole übrig: Deutsche Farben, Fahnen, Wappen und Hymne (§ 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB), der deutsche Bundespräsident (§ 90 StGB) und die Verfassungsorgane (§ 90b StGB), die für Deutschland ganz im Allgemeinen (§ 90a Abs. 1 Nr. 1) stehen; dazu die Symbole von Religionsgemeinschaften (§ 166 StGB). Und wer verfassungs- und staatsfeindliche Symbole und Kennzeichen zeigt, wird ebenfalls bestraft (§ 86a StGB).
Solche Symbolik gilt seit einigen Jahrzehnten, seit die "Achtundsechziger" die Weltrevolution gewonnen und die Lehrstühle erobert, durchgesessen und vererbt haben, als intellektuell unterkomplex, besser: als überflüssig. Zum Ausgleich des schmerzlichen Verlusts der Innigkeitszeichen, an denen sich ihre Väter, Mütter und Großeltern erwärmten, entdeckten die Philosophen der Eigentlichkeit zunächst den proletarischen Fußball, sodann die symbolträchtigen Etiketten der edelsten Rotweine, bevor ihre Kinder und Enkel in die Labelshops abstürzten. Hieraus hätte man schließen oder zumindest vermuten können, dass der Status der symbolfreien Endrationalität noch nicht ganz erreicht ist. So werden im Haus der Geschichte, ob tatsächlich oder imaginär, heute ein paar hessische Turnschuhe und Dachlatten, eine Sonnenblume, eine Strickjacke, eine geschälte Salatgurke und eine Raute aufgehoben, und ein jeder spürt ein feierliches Gefühl bei ihrem Anblick und singt vor jedwedem Anpfiff die Hymne. Herrn Höcke, einem Lehrer, der beschloss, Politiker zu werden, wuchs gar ein Symbol seiner Schande im Nachbarsgarten, und die Herren der Welt haben, anders als die Herren von Amerika, Russland und China, die sehr langen, sehr roten Symbole der Kraft und der Herrlichkeit von ihren Hälsen gezogen und zeigen uns die Symbole der neuen Welt mit blutigen Händen, aber symbolisch offenem Hemdknopf.
Gefühle
Der Mensch ist meistens nicht so, wie es der andere Mensch gern hätte. Allerdings ist er sehr häufig auch nicht so, wie er selbst es gern hätte. Unter anderem deshalb hängt ihm die Magie seit 20.000 Jahren am Hals, Mühlstein und Flügel zugleich. Böse Worte, grausame Flüche, verbotene Zeichen! Glückssterne, Liebesmale, Hoffnungsformeln! Symbole überall. Schwer vorstellbar, dass sie nicht auch tief verbunden sind mit Gefühlen der Heimat, der Gemeinsamkeit, der sozialen Verantwortung. Dagegen spricht nicht, dass staatliche Symbole missbraucht und entwertet werden, lügenhaft oder verdreht sind. Es kommt darauf an, was man damit macht. Und die Symbole einer demokratischen Republik stehen eben nicht für Sprachlosigkeit, Gewalt und Unterdrückung, auch wenn all dies ständig vorkommt.
Das Gebäude des Bundesverfassungsgerichts ist "durchsichtig", und das Gebäude des Bundestags ist "offen". Dabei geht es nicht um die Symbolkraft oder die moralische Vorbildlichkeit der Menschen, die dort auf Zeit Funktionen ausüben. Die gelegentlich auch peinlich angerufene "Würde des Hohen Hauses", und auch so manche "Würde des Gerichts" haben mit der gravitätischen Selbstgewissheit nichts zu tun, mit welcher sie von Protagonisten beim Namen genannt werden. Es geht um Funktionen, Programme, Systeme. Daher muss klar sein, dass Grenzen nicht in Beliebigkeiten aufgelöst werden dürfen. Es ist nicht gleichgültig, ob Feinde der Demokratie sich Redezeit im Fernsehen erpressen oder im Bundestag die Reichskriegsflagge schwenken. Es handelt sich um symbolische Angriffe auf Symbole. Sie sind wichtig, weil sie von vielen Menschen sehr wichtig genommen werden. Man kann und muss über die Symbole sprechen und streiten - das ist ja gerade ihre Kraft. Man darf sie nicht aus Faulheit, Überheblichkeit, Dummheit oder Angst zerstören lassen.
Die neu diskutierte Frage, ob Deutschland ein "Bannkreisgesetz" braucht, das unerlaubte Demonstrationen und öffentliche Versammlungen im symbolisch befriedeten Umkreis von Organen der Demokratie als kriminelle Vergehen bestraft, scheint mir zu formal und insoweit eher zweitrangig. Das sollte aber nicht auf das Argument gestützt werden, dass Deutschland ein "offenes Parlament" habe und behalten solle, wie es die Vizepräsidentin des Bundestags, Roth, formuliert hat. Weder würde die Geltung eines Bannmeilengesetzes bedeuten, dass das Parlament zur "Festung" auszubauen wäre, noch steht dessen Offenheit einem dem Symbol angemessenen Schutz entgegen. Selbstverständlich sind die Eingänge zum Bundestag und zum Bundeshaus (Paul-Löbe-Haus) auch weiterhin zu sichern. Eine grundsätzlich erhöhte Sicherheitsanforderung an öffentliche Versammlungen in unmittelbarer Nähe führt nicht zu einem "Festungs"-Charakter.
Nach meiner Ansicht bedarf es eines höheren (Straf-)Schutzes gegen Demonstrationen jedenfalls derzeit nicht. Das Ereignis vom 29. August war ein Ausnahmefall, dessen Wiederholung man mit den Mitteln des Versammlungsrechts vorbeugen kann und sollte. Die Gefahr, dass Abgeordnete durch aufgebrachte Massen von Demonstranten an der Ausübung ihres Mandats gehindert oder in ihren Entscheidungen durch Drohungen beeinflusst werden könnten, ist heute nicht naheliegend. Eine strafrechtliche Verfolgung von Bannkreisverletzungen ohne konkrete Gefahr der Eskalation sähe sich andererseits gegen den Vorwurf eines (ebenfalls symbolischen) Beigeschmacks von Gessler-Hut ausgesetzt. Im tatsächlichen Ernstfall dürfte denen, die ins Gebäude eindringen wollen, die geringfügige Strafdrohung eines Bannkreis-Straftatbestands ziemlich gleichgültig sein.
Ergebnis: Gesetzlich ist nach meiner Ansicht nichts veranlasst. Polizeitaktisch ist der Vorfall aufzuarbeiten, was gewiss geschieht. Politisch ist das Schlaglicht zur Kenntnis zu nehmen, das von dem Ereignis auf die verzweigte Welt der Symbole und Bedeutungen geworfen wurde. Denjenigen, die mit Symbolen, Fahnen und Parolen ihres jeweils ersehnten Totalitarismus die Demokratie verhöhnen wollen, kommt man mit intellektuell gelangweilter Überheblichkeit nicht bei. Ihnen sollte, wenn es denn sein muss, schlicht und ergreifend, symbolfrei und mit verhältnismäßiger Deutlichkeit gezeigt werden, wo der Hammer hängt.