Peter R. Neumann

Debatte nach Bottrop und Essen Terror, Amok, Hassverbrechen - wovon sprechen wir eigentlich?

Peter R. Neumann
Von Peter R. Neumann
Für die einen war der Amokfahrer von Bottrop und Essen ein Rechtsterrorist, für die anderen ein verwirrter Einzeltäter. Doch in Wahrheit schließt sich beides nicht aus.
Essen: An dieser Bushaltestelle wurde Silvester eine Frau gezielt angefahren

Essen: An dieser Bushaltestelle wurde Silvester eine Frau gezielt angefahren

Foto: Roland Weihrauch/ dpa

Über kein Thema haben Terrorismusforscher so viel geschrieben wie über die Definition ihres Forschungsgebiets. Und dennoch gibt es keinen Konsens. Im Gegenteil: Mit Terrorgruppen, die sich als Staat bezeichnen, und psychisch labilen Einzeltätern, die im Internet Anschluss an radikale Gruppen finden, sind die Grenzen schwammiger denn je.

Die oftmals hysterische Debatte, die sich Ereignissen wie in Bottrop und Essen anschließt, ist da wenig hilfreich. Wer Terrorismus nicht als politischen Kampfbegriff, sondern konsequent und annähernd objektiv verwenden will, sollte sich stets vier Fragen stellen.

Zum Autor
Foto:

DPA

Peter R. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London und Autor von »Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört« (Rowohlt, 2022, 336 Seiten, 24 Euro).

Erstens: Ist der Anschlag politisch motiviert? Trotz aller Kontroversen sind sich Forscher weitgehend einig, dass Terrorismus zur Durchsetzung politischer Ziele dient. Nicht der Gewaltakt selbst, sondern seine Motivation ist der wesentliche Unterschied zwischen Terrorismus und "gewöhnlicher" Kriminalität.

Das Verständnis von Politik muss dabei nicht besonders komplex sein. Nicht alle Terroristen sind gleichzeitig Ideologen oder haben sich jahrelang mit theoretischen Debatten auseinandergesetzt. Doch im Gegensatz zu "gewöhnlichen" Verbrechern ist ihre Absicht gesellschaftliche Veränderung. So absurd es klingen mag, aber sie verstehen sich als Kämpfer für eine gute Sache.

Die Grenzen sind manchmal unscharf. Andreas Baader, Mitbegründer der Roten Armee Fraktion, war ein Ganove und Draufgänger. Fürs Lesen begann er sich erst zu interessieren, als er im Gefängnis saß. Niemand weiß, wie wichtig ihm die Weltrevolution wirklich war. Doch keiner bezweifelt, dass er von der politischen Bedeutung seines Handelns überzeugt war.

Hiermit hängt die zweite Frage zusammen: Gibt es eine Strategie? Hinter terroristischen Anschlägen steckt in der Regel eine Logik. Wer konkret zum Opfer wird, ist zwar oft Zufall. Aber die Auswahl potenzieller Opfer ist nicht vollkommen wahllos. Ziel von Terroristen ist es, das Verhalten einer weiteren, über die eigentlichen Opfer hinausgehenden Gruppe zu manipulieren - etwa, eine Gesellschaft zu spalten oder bestimmte Bevölkerungsgruppen in Angst und Schrecken zu versetzen. Einfach ausgedrückt: Terrorismus versucht zu terrorisieren.

Wenn sich Neonazis betrinken und anschließend Ausländer verprügeln, ist das nicht zwangsläufig der Fall. Es kommt darauf an, was sie damit bezwecken. Geht es ausschließlich darum, den eigenen rassistischen Animus zu befriedigen, wäre die korrekte Bezeichnung Hassgewalt. Existiert ein darüber hinausgehendes Ziel - also zum Beispiel die Absicht, Flüchtlinge am selben Ort einzuschüchtern und von dort zu vertreiben -, wird aus der Prügelattacke eine Form von Terror.

Drittens: Ist der Attentäter psychisch gesund? Für viele Menschen ist die Vorstellung beruhigend, dass Taten, die so verwerflich und unbegreifbar sind wie das Töten Unschuldiger, von Leuten begangen werden, die psychisch krank sind. Aber nicht jeder, der zum Terrorist wird, ist isoliert, ausgegrenzt oder durchgeknallt. Bis vor ungefähr zehn Jahren waren sich Forscher sogar einig, dass Terroristen nicht mehr oder weniger "verrückt" sind als der Rest der Bevölkerung.

Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Verschiedene Studien haben festgestellt, dass es besonders bei Einzeltätern einen stark überproportionalen Anteil psychischer Erkrankungen gibt. Das gilt für Rechtsextreme genauso wie für Dschihadisten.

Doch nicht alle psychischen Vorbelastungen machen einen Täter unzurechnungsfähig. Und nicht jede Art von Persönlichkeitsstörung ist gleichbedeutend mit einer schweren Psychose. Wie bei anderen Verbrechen ist es wichtig, jeden Fall für sich zu beurteilen.

Anzeige
Neumann, Peter R.

Die neuen Dschihadisten: ISIS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus

Verlag: Econ
Seitenzahl: 256
Für 15,63 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

30.03.2023 16.55 Uhr

Keine Gewähr

Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier

Viertens: Gibt es Verbindungen zu einer Organisation oder zu einem Netzwerk? Wenn Attentäter Teil einer Gruppe sind, treten individuelle Motivationen in den Hintergrund. Besonders bei extremistischen Gruppen definieren sich Mitglieder mehr und mehr über die gemeinsame Identität. Sie verstehen sich als "Soldaten" oder als Teil eines Kollektivs, dessen Willen größer und wichtiger ist als sie selbst. Wenn sie im Namen der Gruppe töten, dann ist es Terrorismus - selbst wenn ihnen persönlich die Bedeutung der eigenen Handlung nicht vollständig bewusst war.

Auch hier ist die Beurteilung schwieriger geworden. Mithilfe des Internets ist es möglich, sich als Teil einer Gruppe zu begreifen, ohne sich ihr jemals angeschlossen zu haben. Terrororganisationen wie der "Islamische Staat" ermuntern ihre virtuellen Anhänger dazu, auf eigene Faust Anschläge zu verüben - die dann anschließend von der Gruppe für sich reklamiert werden. Rechtsextreme sprechen bereits seit den frühen Neunzigerjahren vom "führerlosen Widerstand".

Die Frage "Was ist Terrorismus?" ist in vielen Fällen heutzutage schwieriger zu beantworten denn je. Anschläge wie in Bottrop und Essen bedürfen einer genauen Beurteilung, keines vorschnellen Urteils. Dass der Täter ein Fremdenfeind war, scheint klar. Doch ob er mit seiner Tat einen "terroristischen" Zweck verfolgte, bedarf einer genaueren Analyse. Genauso wie die Frage, ob seine psychischen Vorbelastungen so schwer waren, dass er die Konsequenzen seines eigenen Handels nicht mehr verstand. Die Grenzen sind häufig fließend.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren