Rechter Terror in Hanau "Ich hätte ihm die Tür aufgemacht"

#WirsindHanau: Gedenken an die Opfer auf dem Marktplatz der hessischen Stadt
Foto: Patrick Scheiber/ imago imagesDie Mutter weint bitterlich. "Meine Tochter ist gestorben", sagt die ältere Dame ungläubig. Sie trauert um Mercedes K., die am Mittwochabend in Hanau getötet wurde. Die 35-Jährige saß gerade in der Bar Arena und aß zu Abend, als Tobias Rathjen um kurz nach 22 Uhr in das Lokal stürmte und das Feuer eröffnete.
Zwei Tage nach dem Attentat hat sich vor der Arena-Bar eine Menschentraube gebildet. Journalisten aus der ganzen Welt sind gekommen. Nachbarn und Trauernde haben vor dem Laden Blumen niedergelegt. Ein Anwohner sagt: "Wir haben hier immer ruhig zusammengelebt. Der Unfriede ist von außen gekommen." Er könne das alles nicht verstehen. Der Attentäter habe doch alles gehabt, ein Haus, Autos.
Neun Menschen mit offenbar sechs verschiedenen Nationalitäten erschoss Tobias Rathjen in Hanau. In seinem Elternhaus tötete er in Anwesenheit seines Vaters seine pflegebedürftige Mutter und sich selbst. Weitere Anschlagsopfer liegen zum Teil noch mit schweren Verletzungen im Krankenhaus.
#WirsindHanau
Vieles spricht dafür, dass Rathjen nur auf seine Opfer zielte, weil er Menschen hasste, bei denen er einen Migrationshintergrund vermutete. Es sind Menschen mit türkischer, rumänischer, bulgarischer, afghanischer, bosnisch-herzegowinischer und auch mit deutscher Staatsbürgerschaft, die Rathjen attackierte. Doch er traf damit auch das Leben unzähliger Angehöriger und Freunde der Opfer.
Auf dem Marktplatz von Hanau haben sich am Freitag Dutzende Menschen zu einem großen Kreis aufgestellt. Sie halten sich an den Händen. In der Mitte steht ein Mann mit einem Schild: "#WirsindHanau". Es gehe darum, ein Zeichen gegen den Hass zu setzen, sagt er.
Im Keller versteckt
Etwas abseits, ein junger Mann. Er ist 19 und will anonym bleiben. Er hat ein gerahmtes Foto von einem Bekannten dabei, der ermordet wurde. "Gerade ausgedruckt", sagt er. Dann erzählt er, dass er seit einem Monat in dem Laden des Ermordeten gearbeitet habe, der Shishabar Midnight, dem ersten Ziel des Attentäters in der Hanauer Innenstadt. Er sei während des Angriffs dort gewesen. Eine Heizung habe ihm wohl das Leben gerettet, sagt der hochgewachsene Bursche im Trainingsanzug und kämpft mit den Tränen. Ein Kollege habe ihm an dem Abend gesagt, er solle helfen, Heizungen in den Keller zu tragen. Im Fernsehen sei Fußball gelaufen, das habe er eigentlich sehen wollen. "Doch dann dachte ich mir: Mach‘ es jetzt, dann hast du es hinter dir." Als sie dabei gewesen seien, den zweiten Heizkörper wegzubringen, habe er die Schüsse gehört. Ein Kollege sei in den Keller gestürmt und habe gerufen, sie sollten sich hier verstecken, oben schieße jemand um sich.
Sie hätten sich unten verschanzt und seien nach ein paar Minuten geflüchtet, über den Hinterausgang. Auf dem Rückweg habe er schon die erste Leiche gesehen. Dann habe er die Tür des Midnight geöffnet. "Ich sah meinen Chef tot am Boden", sagt er. Der junge Mann ringt mit den Worten: "Irgendwie versucht man, das zu verarbeiten. Aber ich hab es noch gar nicht realisiert."
Der türkische Blumenhändler Enver Simsek wird in Nürnberg erschossen. Das ist der Beginn einer beispiellosen Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Polizei und Verfassungsschutz erkennen jahrelang nicht, dass die Täter aus dem rechtsextremen Milieu kommen. Bis zu seinem Auffliegen 2011 ermordet der NSU zehn Menschen, verübt 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle.
In Kesselstadt, nicht weit von der Arena-Bar, trauern Frauen um Gökhan Gültekin. Der 36-Jährige arbeitete in der Bar, als Rathjen dort eindrang und um sich schoss. Hüsna, seine Mutter, hat eines ihrer beiden Kinder verloren. Sie sitzt nun in ihrer Wohnung in einem weißen Sessel, ein Tuch aus dicker Wolle um die Schultern geschlungen und drückt ein Foto ihres Sohnes an die Brust. "Oh Gökhan, mein Gökhan", ruft sie. "Du wirst nie wieder zu uns kommen." Manche der Frauen, die in dem kleinen Wohnzimmer auf dem Boden hocken, schluchzen laut, anderen laufen still die Tränen über die Wangen. Auf einem Regal an der Wand stehen gerahmte Familienbilder. Auf einem ist Gökhan zu sehen, Arm in Arm mit seinem Bruder, beide lachen in die Kamera. "Warum wollte uns jemand so etwas antun?", fragt eine der Frauen. "Warum?"
Wie geht es Momo?
Muhammed B. liegt in einem blauen Kittel im Krankenhausbett. Der Attentäter hat ihn in der Arena-Bar in die Schulter geschossen, der 20-Jährige hat überlebt. "Man kann das alles nicht fassen", sagt Muhammed B. Er ist umringt von Freunden und Bekannten. Sie stehen um sein Bett herum oder sitzen auf Stühlen. Mehr als ein Dutzend Männer haben sich in das kleine Zimmer im Hanauer Sankt-Vinzenz-Krankenhaus gezwängt. Sie wollen wissen, wie es "Momo" geht, das ist sein Spitzname, ihm gute Besserung wünschen.
Auch auf dem Flur ist viel los. Mehr als 30 Menschen stehen dort. Viele von ihnen haben kurdische Wurzeln. Alle haben sie das Bedürfnis darüber zu sprechen, was passiert ist, für das Unfassbare Worte finden. "Wir kennen uns alle, wir wollen Momo und seine Familie unterstützen", sagt ein Freund von ihm.
Auch Muhammeds B.s Vater, Mahmut, ist da. Er kam einst als Gastarbeiter aus Ostanatolien nach Deutschland. Mahmut sitzt auf der Fensterbank vor dem Krankenhauszimmer. "Mein Sohn hat nur überlebt, weil er sich auf den Boden geworfen hat, erzählt er. "Andere sind auf ihn gefallen, das hat ihn wahrscheinlich gerettet. Es ist alles so schrecklich."
Die Nachbarin sagt: "Ich habe Angst"
Unter der Tat, dem wahnsinnigen Furor gegen vermeintliche Migranten, leiden auch sehr viele Menschen, die in der Nacht zum Donnerstag nicht vor den Lauf seiner Pistole geraten sind. Nicht nur in Hanau, aber dort besonders. Vier Häuser neben dem Reihenhaus, in dem Tobias Rathjen und seine Mutter am Donnerstagmorgen tot aufgefunden wurden, wohnt eine Familie mit pakistanischen Wurzeln. Beide haben seit vielen Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft und sich eine Existenz aufgebaut, ein kleines Taxiunternehmen. Ihren Namen wollen sie nicht veröffentlicht sehen. "Ich habe Angst", sagt die Frau.
Im vergangenen Sommer ist das Paar in das Reihenhaus nach Kesselstadt gezogen. Eigentlich eine Siedlung, in der Menschen aus vielen Nationen gut und friedlich zusammenleben, so glaubten sie. Aber mit dem Vater von Tobias Rathjen habe es sofort Unstimmigkeiten gegeben, berichten die beiden. Er sei unfreundlich gewesen, habe sich bei anderen Nachbarn beklagt, dass schon wieder Menschen fremdländischen Aussehens in die Nachbarschaft zögen.
Auch Tobias Rathjen hätten sie hin und wieder gesehen, erzählt das Paar. Zuletzt am Mittwochabend, nur wenige Stunden vor der Tat. Rathjen habe das Haus verlassen, offenbar um Zigaretten zu kaufen. Er sei leicht bekleidet gewesen, nur mit Shorts und T-Shirt. Im Februar.
Später am Abend muss Rathjen in seinen schwarzen BMW gestiegen sein, der oft vor den Garagen der Reihenhäuser stand, um Menschen zu töten. Das Nachbars-Ehepaar bekam mit, wie die Polizei um 3 Uhr morgens die Haustür der Familie Rathjen sprengte und später den Vater von Tobias Rathjen abführte.
Seitdem kommen die Nachbarn nicht mehr zur Ruhe. Die Angst werde sie noch lange begleiten, sagt das Paar. "Ich denke immer darüber nach, was passiert wäre, wenn er nicht in den Shishabars auf andere Menschen geschossen hätte, sondern hier bei uns", sagt die Ehefrau. "Er hätte nur klingeln müssen, er war ja unser Nachbar. Ich hätte ihm dann selbstverständlich die Tür aufgemacht."