Prozessauftakt in Magdeburg "Ich wollte ja keine Weißen töten"

Der Angeklagte Stephan Balliet wird in Magdeburg in den Gerichtssaal geführt
Foto: ArcheoPix/ imago images/Christian GrubeEs ist der erste Verhandlungstag im größten Saal des Magdeburger Landgerichts, als Stephan Balliet, ehemaliger Chemiestudent aus Benndorf nahe Halle, zum ersten Mal im echten Leben wissentlich denjenigen Menschen begegnet, die er nach eigenem Bekunden für die Wurzel allen Übels, vor allem seines eigenen Übels, hält: Juden.
Überlebende seines Anschlags auf die Synagoge von Halle sitzen ihm im Verfahren vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Naumburg gegenüber, viele junge Menschen sind darunter. Einige lesen in Gebetsbüchern, bis der selbst ernannte Verteidiger des weißen Europas den Saal betritt. 52 Menschen waren in der Synagoge, als Balliet mit seinen acht selbst gebastelten Schusswaffen und diversen Sprengsätzen an der stabilen Holztür des Gotteshauses scheiterte. 23 Nebenklage-Anwälte sind im Saal, darunter die Vertreter der Angehörigen der beiden Toten Jana L. und Kevin S. und auch die beiden Brüder, in deren "Kiez-Döner" Stephan B. "Musels" töten wollte, nachdem ihm der Massenmord in der jüdischen Gemeinde nicht gelungen war.
Balliet sitzt sehr aufrecht zwischen seinen beiden Verteidigern, den Kopf kahl rasiert, so wie bei seinem Feldzug, den er mit einer Helmkamera filmte und live ins Netz stellte, nach eigenem Bekunden, um Nachahmer zu gewinnen. Dazu ein Pamphlet mit der Aufforderung: "Kill all Jews". Unverwandt schaut er in die Kameras der Reporter. Für die Menschen, die er so sehr hasst, hat er kaum einen Blick.
Die Tat hatte international Aufsehen erregt: ein Deutscher, der in Kampfmontur eine Synagoge überfällt, um möglichst viele Juden zu töten - die "New York Times" hat einen Prozessbeobachter entsandt, Tageszeitungen wie "Israel Hayom", das "Algemeen Dagblad", die "Neue Zürcher Zeitung", das Schweizerische Radio. Das Justizministerium hat 300.000 Euro für dieses Verfahren bereitgestellt, 43 Nebenkläger werden vertreten von 21 Anwälten, alles wird für Nebenkläger simultan gedolmetscht, auf Russisch, Polnisch, Türkisch und Englisch - auch eine Rabbinerin und ein Rabbiner aus den USA waren unter den Synagogenbesuchern.
Bundesanwalt Kai Lohse braucht 45 Minuten, um die Anklage vorzulesen: Zweifacher Mord und versuchter Mord in neun Fällen, mit insgesamt 68 Betroffenen. Hinzu kommen: Friedensgefährdende Hetze, Holocaustleugnung, gefährliche Körperverletzung, Volksverhetzung, räuberische Erpressung, Gefährdung im Straßenverkehr. Nach einem Feuergefecht mit der Polizei streifte Balliet in einem geraubten Taxi einen Passanten, stieß mit einem anderen Taxi zusammen und knallte schließlich frontal in einen Lastwagen. Ende der Verfolgungsjagd, gut anderthalb Stunden, nachdem er zum ersten Mal an der Synagogentür gerüttelt hatte.
Balliet will vor Gericht reden, daran lässt er keinen Zweifel. Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens stellt die erste Frage: "Erzählen Sie uns etwas über Ihr Leben, damit wir Sie kennenlernen. Wie war Ihre Kindheit?" – "Das ist unwichtig", herrscht Balliet sie an. "Ob das unwichtig ist oder nicht, liegt in meinem Ermessen", sagt Mertens und fährt unbeirrt fort. Widerstrebend gibt der Angeklagte Informationen preis: ein einzelgängerisches Leben mit den Eltern und der Schwester auf dem Dorf, ein unbeliebter, mittelmäßiger Schüler ohne Freunde, in der Bundeswehr überfordert, da unsportlich. Ein abgebrochenes Studium, schuld daran ist dem Angeklagten zufolge eine schwerwiegende Darmkrankheit. Sein einziges Interesse: das Internet - und in den letzten Jahren das Waffenbauen.
Richterin Ursula Mertens
"Irgendwann ging es Ihnen wieder besser", sagt Mertens. "Wieso haben Sie sich keine neuen Ziele gesucht?" - "Ich wollte nichts mehr für diese Gesellschaft tun, die mich durch Neger und Muslime ersetzt."
"Herr Balliet, ich möchte keine Beschimpfungen im Saal", hakt die Vorsitzende sofort ein. "Ich dulde nicht, dass Sie hier Menschen beleidigen." Fortan sagt der Angeklagte nicht mehr "Neger", sondern "Schwarze", wenn er über seine Theorien zum Bevölkerungsaustausch redet.
"Die Juden waren die Organisatoren", trägt Balliet im Stakkato vor. "Millionen von Arabern" seien im Jahr 2015 ins Land geströmt, "Die führen sich hier auf wie die Eroberer."
Angeklagter Stephan Balliet
"Auf welche Weise konkret haben denn Flüchtlinge in Benndorf Ihr Leben beeinträchtigt?", will die Richterin wissen. Der Angeklagte bleibt im Ungefähren: "Ich bin eine Person, die am unteren Rand der Gesellschaft steht. Wenn da Millionen nachkommen, dann rücken Leute wie ich aus der Gesellschaft raus."
"Sie waren doch schon vorher aus der Gesellschaft raus", hält Mertens ihm vor. "Sie hockten im Kinderzimmer, guckten in den Computer, und die Mama hat für das Essen gesorgt."
Darauf fällt dem Angeklagten erst mal nichts ein.
Richterin Ursula Mertens
"Sie haben damals ein Gewehr gekauft. Wozu?", fragt Mertens. "Als Selbstverteidigungswaffe" - "Gegen...?" - "Muslime und Schwarze".
Die Sache ist allerdings: Die beiden Menschen, die Stephan Balliet vor seiner laufenden Helmkamera ermordet hat, sind weder Muslime noch dunkelhäutig. Jana L., 40 Jahre alt, passierte die Synagoge, als Balliet vergeblich Sprengsätze geworfen hatte und wütend gegen die Türe trat. Sie sagte: "Muss das sein, wenn ich hier vorbeigehe", und kehrte ihm schon den Rücken zu. Da schoss er, vier Schuss. Jana L. fiel auf den Bauch und blieb reglos liegen. "Ich kann ja nichts dafür, dass sie mich beleidigt", rechtfertigt sich Balliet vor Gericht. "Und dann haben Sie noch mal geschossen", sagt Mertens. Eine Salve, elf Schuss. "Zur Sicherheit", sagt Balliet. "Sie hätte ja aufstehen und mich entwaffnen können." Und dann? Habe er sie noch als "Schwein" beleidigt, als er abdrückte.
"Haben Sie kein Mitleid?" - "Es tut mir leid, dass ich sie erschossen habe, ich bereue das auf jeden Fall, ich wollte ja keine Weißen töten", sagt Balliet. "Das war wirklich nicht geplant." Ebenso wenig wie der Tod von Kevin S., 20 Jahre alt, geboren in Merseburg. Ihn erschoss er im "Kiez Döner", der zweiten Etappe seines Feldzugs. Kevin S. kauerte im Imbiss in Todesangst hinter einem Kühlschrank, als Balliet zum ersten Mal abdrückte: "Der hatte schwarze Haare, ich bin der Meinung gewesen, das ist ein Muslim." Er war schon wieder draußen, da kehrte er noch mal um, um zu prüfen, ob sein Opfer wirklich tot war: "Da hat der noch Töne von sich gegeben. Das hätte nicht passieren dürfen". Dann kam der tödliche Schuss.
Die Vorsitzende Richterin hält ihm vor, wen er noch alles verletzte
Beim Ermittlungsrichter habe er zum ersten Mal die Namen des Toten gehört: "Was ging da in Ihnen vor?", fragt Mertens. "Man hört ja im Video, wie Herr S. um sein Leben bettelt." - "Deswegen schreckt man nicht zurück", redet Balliet sich in Fahrt, "das ist der Weg, wie man verliert!" Der Bevölkerungsaustausch, überall Muslime, selbst in der Justizvollzugsanstalt, er echauffiert sich: "Wo soll ich denn noch hingehen?"
Die Vorsitzende Richterin hält ihm vor, wen er noch alles verletzte: Eine Renterin traf ein Nagel aus einem Sprengkörper am Fuß, einen Mann in einem Vorgarten, der ihm sein Auto nicht für die Flucht herausrücken wollte, schoss er in den Hals, dessen Lebensgefährtin ins Gesäß. Alles Weiße. "Das tut mir auch wirklich sehr leid", sagt Balliet.
"Fühlen Sie sich als Versager?", fragt Mertens. "Fühlen?", Balliet lacht auf. "Das ist offensichtlich so." Pause. "Ich habe alles gefilmt, und dann versage ich grandios." Nachdem er an der Synagogentür gescheitert war, sei sein Plan gewesen: "Möglichst viele Muslime und Schwarze töten, bis die Polizei kommt, und dann werde ich erschossen." - "Sie haben damit gerechnet, erschossen zu werden?", vergewissert sich Mertens noch einmal. "Das war eingeplant", antwortet Balliet: "Entweder gewinnen oder sterben."