Terrorprozess gegen »Gruppe S.« Freiheit für den »Bruder im Geiste«

Angeklagte im Gerichtssaal in Stammheim (im April): Der Erste von ihnen wurde nun aus der U-Haft entlassen
Foto: Pool / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Pünktlich zu Beginn der zweiten Sommerferienwoche in Baden-Württemberg könnte Michael B. mit seinen beiden Töchtern nun in den Urlaub fahren. Wenn auch nicht zu weit weg von Stuttgart-Stammheim. Dort hat der 49-Jährige die vergangenen Monate verbracht – als Angeklagter im Prozess gegen die mutmaßlich rechtsextremistische »Gruppe S.«, bei der er Mitglied gewesen sein soll.
Er ist der erste von elf inhaftierten Angeklagten, der nun aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, weil der Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht die Haftbefehle einiger Angeklagter abgeändert hat. In einem rechtlichen Hinweis gehen die Richter weiterhin davon aus, dass sich mit der »Gruppe S.« eine terroristische Vereinigung gegründet hat, die einen Bürgerkrieg anzetteln und ein Staats- und Gesellschaftssystem nach ihren menschenverachtenden Vorstellungen etablieren wollte.
Auf freiem Fuß
Nach Ansicht des Generalbundesanwalts taten sich die Männer am 28. September 2019 am Grillplatz »Hummelgautsche« im Naturpark Schwäbisch-Fränkischer Wald zusammen; der Senat sieht nach den bisherigen Verhandlungstagen aber ein Treffen im nordrhein-westfälischen Minden am 8. Februar 2020 als Gründungszeitpunkt.
Diese Verschiebung von rund vier Monaten wirkt sich nun auf einige Haftbefehle aus: Einige Angeklagte werden somit nicht mehr als Gründer, sondern nur noch als Unterstützer der Vereinigung eingestuft. So auch Michael B., der deshalb nun aus der Untersuchungshaft entlassen wurde.
Dem Hinweis zufolge könnte sich B. wegen Beihilfe zur rädelsführerschaftlichen Gründung einer terroristischen Vereinigung und wegen Verstößen gegen das Waffengesetz strafbar gemacht haben. Wie der Angeklagte Paul U., der als Informant der Ermittler fungierte, darf B. nun auf freiem Fuß bleiben, muss aber weiterhin an der Hauptverhandlung teilnehmen.
Michael B. kommt aus Kirchheim unter Teck. Beim Auftakt des Terrorprozesses hatte er sich nicht vor den Kameras und Fotoapparaten versteckt. Erhobenen Hauptes, als stehe er zu der ausgeprägten Islamfeindlichkeit, die ihm der Generalbundesanwalt attestiert, betrat er den Hochsicherheitstrakt in Stammheim. Er sei »zu allem bereit« gewesen, heißt es in der Anklage. B. soll demnach versprochen haben, »bei Kriegsbeginn« neben dem mutmaßlichen Anführer Werner S. »in der ersten Reihe« zu stehen, hasserfüllt und gewaltbereit.
Nachtragender Rädelsführer?
S. soll B. »blind« vertraut und ihn für qualifiziert gehalten haben, Schusswaffen zu bearbeiten und zu modifizieren. B. soll als Laserschweißer gearbeitet und zeitweise ein Unternehmen geleitet haben, das sich auf Polier- und Schweißtechnik im Werkzeug-, Prototyp- und Formenbau spezialisiert hatte. In seiner Wohnung fanden Ermittler eine Ceská Zbrojovka, zwei Signalpistolenkartuschen, einen geladenen Revolver und Munition.
Mit der Entlassung aus der Untersuchungshaft nach eineinhalb Jahren tritt ein Mann in Freiheit, der dem mutmaßlichen Rädelsführer S. Nachrichten schickte, die er mit »B.i.G.« unterschrieb – für »Brüder im Geiste«.
Die Bundesanwaltschaft ist davon überzeugt, dass Michael B. wusste, dass S. eine Gruppierung gründen wollte, die bereit war, der vermeintlichen Übernahme Deutschlands durch Andersgläubige und Geflüchtete bewaffnet entgegenzutreten. Zu einem geplanten Treffen im Dezember 2019 allerdings wollte B. nicht erscheinen. Sein »B.i.G.« sagte die Verabredung schließlich ab – und war nachtragend.
Eine Charaktereigenschaft, die B. nun zugutekommen könnte: Denn S. lud Michael B. zum nächsten Treffen im Februar 2020 in Minden nicht ein. Somit ist B. bei dem vom Senat ausgemachten Gründungstermin nicht anwesend gewesen – und hat nach Ansicht der Richter eine Gründung nur billigend in Kauf genommen. In Minden nämlich soll S. alle Anwesenden konkret gefragt haben, ob sie bereit seien, sich an Anschlägen zu beteiligen.
Thomas N., der für das Treffen sein Haus in Minden zur Verfügung stellte, bleibt wie die anderen in Haft. Sein Verteidiger Daniel Sprafke begrüßt den rechtlichen Hinweis dennoch und sagt, der Strafsenat zeige damit, dass er »zu jeder Zeit den Boden des Rechtsstaats fest unter seinen Füßen spürt«. Zur Beurteilung der Schuldfrage sei allein erheblich, ob eine terroristische Vereinigung existierte und welche Menschen sich an einer solchen beteiligten; nicht aber, ob einzelne Angeklagte fremdenfeindliches Verhalten zeigten. »Deshalb wurden alle Haftbefehle aufgehoben und durch solche ersetzt, die dem bisherigen Verlauf der Hauptverhandlung Rechnung tragen; die Tatvorwürfe sieht der Senat in zeitlicher Hinsicht weitgehend entkräft.«
In Karlsruhe wollte sich niemand äußern. Die Bundesanwaltschaft kommentiere grundsätzlich keine Entscheidungen in laufenden Verhandlungen, sagte eine Sprecherin dem SPIEGEL.