Tilman Jens über Missbrauch an der Odenwaldschule "Auch die sexuelle Revolution hat ihre Kinder gefressen"

Odenwald-Schulleiter Becker, Schüler in den siebziger Jahren: "Falscher Friede"
Foto: ddp"Warum haben wir den Mund nicht aufgemacht?" Von 1972 bis 1974 war Tilman Jens Schüler in der hessischen Odenwaldschule, später leistete an der Schule seinen Zivildienst ab. Seine damaligen Erlebnisse schildert der heute 55-Jährige nun in einem Beitrag für den SPIEGEL - und er fragt sich und seine ehemaligen Mitschüler, warum sie damals geschwiegen haben über die sexuelle Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern.
Auch er habe schon damals von den "Duschorgien" des Schulleiters Gerold Becker "mit seinen ihm anvertrauten Knaben" gewusst. Es sei ebenfalls allgemein bekannt gewesen, dass der "Musiklehrer H." mit "vier erwählten Jungs in einer abgeriegelten Wohngemeinschaft lebte".
In diesen Jahren habe in der Schule ein Klima "des Umbruchs" geherrscht, "in denen die Spießermoral zum Teufel gejagt wurde". Aber, so schreibt der Autor im SPIEGEL: "Auch die sexuelle Revolution hat ihre Kinder gefressen."
Tilman Jens, Sohn der Tübinger Publizisten Walter und Inge Jens, berichtet auch über heterosexuelle Verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern. Eine Englischlehrerin habe eine Affäre mit einem 17-Jährigen unterhalten, ein anderer gleichaltriger Schüler habe eine Beziehung mit der Frau seines Lehrers gehabt. Durch die Enthüllungen über die Missbrauchsfälle werde nun in der Odenwaldschule "der falsche Friede aufgekündigt".
Schuldbekenntnis des ehemaligen Schulleiters
Erst vor wenigen Tagen hatte der ehemalige Schulleiter Gerold Becker sexuelle Übergriffe auf Schüler zugegeben. Die heutige Schulleiterin Margarita Kaufmann bestätigte am Freitag den Eingang eines entsprechenden Schreibens von Becker. "Schüler, die ich in den Jahren, in denen ich Mitarbeiter und Leiter der Odenwaldschule war (1969-1985), durch Annäherungsversuche oder Handlungen sexuell bedrängt oder verletzt habe, sollen wissen: Das bedauere ich zutiefst und ich bitte sie dafür um Entschuldigung", heißt es in dem Schreiben. "Diese Bitte um Entschuldigung bezieht sich ausdrücklich auch auf alle Wirkungen, die den Betroffenen erst später bewusst geworden sind." Um Entschuldigung bittet Becker zudem "Personen und Institutionen, mit denen ich in den vergangenen 40 Jahren zusammengearbeitet habe und die durch mein Verhalten beschädigt worden sind".
Bisher haben sich 33 ehemalige Schüler als Opfer von Übergriffen zwischen den Jahren 1966 bis 1991 gemeldet. Beschuldigt werden acht Lehrer. Becker steht im Zentrum der Kritik, zumal es bereits 1999 erste Vorwürfe gegen ihn gab. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt ermittelte damals, stellt jedoch das Verfahren wegen Verjährung ein. Jetzt wird gegen Lehrer neu ermittelt, da es nach Angaben der Behörde auch jüngere Vorkommnisse geben könnte.
Die Odenwaldschule im südhessischen Heppenheim gilt als eine der bekanntesten deutschen Reformschulen. Vor 100 Jahren vom Pädagogen Paul Geheeb (1879-1961) gegründet, stellt sie bis heute das Lernen in Gemeinschaft in den Vordergrund.