"Todesengel" aus der Charité "Ich bereue nichts"

Krankenschwester Irene Becker tötete auf der Intensivstation der Berliner Charité fünf Patienten. Jetzt ließ sie sich von dem Kriminalpsychologen Thomas Müller fürs Fernsehen zu den Morden befragen. Die 58-Jährige zeigte sich auskunftsfreudig - und uneinsichtig.

Hamburg - Irene Becker hat ihre graumelierten, dünnen Haare zurückgesteckt. Zu ihrem apricotfarbenen Pullover trägt sie einen grünen Schal, schwere Tränensäcke geben ihrem bebrillten Gesicht einen melancholischen Ausdruck.

Irene Becker arbeitete 35 Jahre lang als Krankenschwester auf Intensivstationen, zuletzt auf der Station 104.i der Kardiologie der Berliner Charité. Die Klinik, die sie schließlich als "Todesengel" verließ.

All die Jahrzehnte gilt Irene Becker als gewissenhaft und pflichtgetreu. Zwischen 2005 und 2006 häufen sich jedoch die Todesfälle auf ihrer Station. Acht Menschen sterben auf unerklärliche Weise. Ein Pfleger findet schließlich eine Ampulle mit einer ungewöhnlichen Medikation. Die Spur führt zu Irene Becker.

Im Oktober 2006 wird sie in ihrer Wohnung in Berlin-Reinickendorf festgenommen, im Juni 2007 wegen fünffachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Die ehemalige Pflegerin erlangt traurige Berühmtheit als "Todesengel aus der Charité", "Schwester Tod" oder "Die Todspritzerin".

Seither sitzt Irene Becker in einer neun Quadratmeter großen Einzelzelle des Frauengefängnisses Berlin-Pankow, die sie "Stube" nennt. Auf dem in blau-weiß-karierter Wäsche bezogenen Bett hat sie ihre Glücksbringer, zwei Stofftiere, platziert. In einer Ecke stapeln sich Bücher aus der Bibliothek. Sie hat Albert Camus' "Die Pest" ebenso wie andere literarische Klassiker gelesen, leiht sich ständig neue Bücher und Zeitungen aus.

Von 8 bis 15 Uhr nimmt sie in einer Werkstatt täglich Computer auseinander, die nach Afrika geschickt werden. Die restliche Zeit vertreibt sich Irene Becker, schon vor ihrer Inhaftierung kulturell interessiert, mit Lesen und Radiohören, meist Deutschlandfunk oder Klassikradio; sie spielt in der Theatergruppe mit, macht Yoga und besucht einen Schriftstellerkurs.

Der renommierte Kriminalpsychologe und Profiler Thomas Müller hat die Serienmörderin im Rahmen der sechsteiligen Sat.1-Dokumentation "Urteil Mord - Spurensuche hinter Gittern"* in der Justizvollzugsanstalt besucht und insgesamt fünf Stunden mit ihr gesprochen.

"Mein Gegenüber war ja hilflos, konnte sich ja nicht wehren"

Er habe Irene Becker als "kooperative, freundliche und vor allem wissbegierige Person wahrgenommen", sagt Müller SPIEGEL ONLINE. "Ich empfand Frau Becker als tiefgründig, teils an vielen 'Definitionen des Lebens' zweifelnd, aber nicht enttäuscht, vor allem aber als sehr müde."

Offen spricht der österreichische Kriminalpsychologe mit der 58-Jährigen über ihre Taten. In dem Moment, in dem sie getötet habe, habe sie an "so eine Sache, eine Straftat, oder was mit mir passieren könnte, nicht gedacht", sagt Irene Becker. "Mein Gegenüber war ja hilflos, konnte sich ja nicht wehren. Ich hatte die Macht zu gestalten."

Was bringt eine Krankenschwester dazu zu töten, statt Leben zu retten? Auch der erfahrene Profiler Müller stellt sich diese Frage: "Ein Krankenhaus ist üblicherweise ein Ort der Hilfe und der Pflege und des Vertrauens. Was muss eigentlich passieren, dass jemand dieses Vertrauen ausnutzt und in der pflegenden Situation mehrere Menschen tötet?"

Nach der Begegnung mit Irene Becker kommt Müller zu folgendem Resümee: "Ich maße mir nicht an, das Milieu von Irene Becker beurteilen zu können, zweifelsohne hat sie aber während ihres Lebens zahlreiche Situationen extremer Kälte und Gleichgültigkeit erlebt." Vor allem den Tod beider Eltern habe Becker nicht als Zeit des friedvollen Abschiednehmens erlebt - vielmehr seien diese Erfahrungen "von großer Ungewissheit und Unwissenheit geprägt" gewesen, so Müller.

Irene Becker arbeitete 35 Jahre lang auf Intensivstationen. "Sie hat in diesen Jahren Sachen gesehen und erlebt, die verkraften manche Menschen nicht nach einem einmaligen Anblick", sagt ihr Anwalt Mirko Röder SPIEGEL ONLINE.

Irene Becker tötet in immer kürzeren Abständen

Die stete Konfrontation mit Leid, Qualen und dem Tod hinterlassen bei Irene Becker Spuren. Sie wirkt bei der Arbeit angestrengt, Kollegen registrieren extreme Stimmungsschwankungen. Angebote, die Arbeitszeit zu kürzen oder die Station zu wechseln, lehnt sie vehement ab. Im Gegenteil: Freiwillig kümmert sie sich um die schwersten Fälle, deren Betreuung tiefe psychologische Belastung bedeutet.

Doch statt ihre Patienten zu pflegen, tötet die Krankenschwester in immer kürzeren Abständen.

Sechs Tage nach dem Mord an Hannah B. bringt Irene Becker Hans K. um, der nach mehreren Reanimationsversuchen im Koma liegt. Sie injiziert ihm das stark blutdrucksenkende Mittel Nitropussid-Natrium (NPN). Kurz darauf stirbt Gerhard A., eingeliefert mit Verdacht auf Herzinfarkt. Irene Becker spritzte ihm die hundertfache Dosis NPN. Daran wäre auch ein vollkommen gesunder Mensch sofort gestorben.

Wie konnte es so weit kommen, dass eine geschätzte Pflegekraft fähig zum Morden wird? Für Profiler Müller liegen mögliche Gründe in dem Sterbeprozess ihrer Eltern, in Beckers Unfähigkeit, sich anderen Menschen anzuvertrauen, Nähe aufzubauen, und "Verschiebung des Selbstwertgefühles fast ausschließlich in den Bereich der ostentativen Hilfsbereitschaft ohne Rückzugsmöglichkeiten" - diese Aspekte seien vor allem ausschlaggebend gewesen. Als Müller Irene Becker fragt, warum sie das Töten auf der Station nicht einstellte, antwortet die ehemalige Krankenschwester: "Na ja... bisher hat es geklappt, warum soll es nicht wieder klappen?"

"Irene, willst du etwas sagen?" - "Nein"

Irene Becker fällt es scheinbar immer leichter, ihre eigenen Todesurteile an den Patienten zu vollstrecken. Ihr merkwürdiges Verhalten bleibt nicht unbemerkt. Im Gespräch mit Müller sagt die Pflegerin: "Ich glaube, es ist aufgefallen, denn ich sah wohl sehr traurig aus. Ein Arzt hat mich angesprochen. Er sagte: 'Irene, willst du etwas sagen?" Und ich habe nur gesagt: 'Nein.'"

Sich mitzuteilen, war Irene Becker unmöglich. "Das ging doch gar nicht, das wäre gegen meine Person gegangen, gegen alles, was ich bisher gemacht habe", sagt sie.

Die Ermittlungen gegen Becker wurden aufgenommen, nachdem ein Krankenpfleger die Klinikleitung von seinem Verdacht informierte. Am 29. Juni 2007 spricht das Berliner Landgericht Irene Becker in fünf von acht angeklagten Fällen für schuldig - wegen Mordes muss sie lebenslang in Haft. Sie habe aus niederen Beweggründen gehandelt und in den Tötungen ihrer Machtbesessenheit Ausdruck verliehen, heißt es im Urteil. Bis heute wehrt sich die Krankenschwester gegen den Vorwurf des Mordes. "Das ist für mich kein Mord, da stelle ich mir etwas anderes, etwas ganz Brutales vor... Aber vielleicht war auch das brutal, was ich gemacht habe."

Regelmäßig spricht Irene Becker über das, was sie getan hat - meist mit ihrem Anwalt. Mirko Röder, Strafverteidiger aus Berlin, besucht seine Mandantin noch immer jeden Donnerstag, jeweils für eine Stunde, obwohl es juristisch nichts mehr zu regeln gibt. "Ich bin ihr Kontakt zur Außenwelt", sagt der 45-Jährige. Ihre Verbrechen seien fast immer Thema. "Meist kommt es bruchstückhaft, ohne Ansage. Sie will darüber reden, sie muss es, mal intensiver, mal weniger."

Irene Becker gebärde sich - wie auch im Prozess - als starke Persönlichkeit. "In Wahrheit ist sie eine weiche, sensible Frau." Dass sie bis 2021 im Gefängnis sitzen muss, gehe nicht spurlos an ihr vorüber. Manchmal überkämen sie Tiefs, doch sie fange sich schnell wieder und bemühe sich, in den kleinen Freuden des Knastalltags Ablenkung zu finden. Zu Ostern habe er ihr eine kastanienbraune Haartönung ins Gefängnis gebracht, sagt Röder. "Das hat ihr große Freude bereitet."

Vor laufender Kamera sagt Irene Becker, sie bedauere, was sie den Angehörigen der Patienten angetan habe. "Und ich bedaure auch sehr, dass ich den Berufsstand so in Missgunst gebracht habe...aber ich bereue nichts."


Urteil Mord - Spurensuche hinter Gittern 11. April 2010, 22.15 Uhr, Sat.1

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