TV-Appell der Familie B. "Der Täter tickt nicht so wie du und ich"

Die Polizei steht vor einem Rätsel, die Sendung "Aktenzeichen XY...ungelöst" soll helfen
Foto: DDPHamburg - Was das ZDF am Mittwochabend in seinem traditionsreichen Format "Aktenzeichen XY...ungelöst" seinen Zuschauern bot, war schwer zu ertragen. Mit einem dramatischen Appell wandte sich die Familie der im baden-württembergischen Heidenheim entführten Maria B. in der Fernsehsendung an die unbekannten Täter und flehte sie an, "unsere Mama" freizulassen oder einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort zu geben.
Der Ehemann sowie Sohn und Tochter der Entführten saßen dicht aneinandergedrängt und sichtlich aufgewühlt vor der Kamera. Die Tochter geriet im Laufe des Aufrufs völlig außer sich und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, auch Vater und Sohn konnten zuletzt die Fassung nicht bewahren.
"XY"-Moderator Rudi Cerne schien zu ahnen, dass man den Zuschauern damit womöglich zu viel zugemutet, den Beobachter quasi in die Rolle eines Voyeurs gedrängt hatte und betonte eindringlich, die Familie habe selbst darum gebeten, diesen Appell übermitteln zu dürfen.
Doch wie effektiv sind solche Aktionen im Fernsehen überhaupt? Und was bewirken sie bei den Tätern?
Entführung in Heidenheim: Familie von Maria B. appelliert an Entführer
"Öffentliche Appelle machen mehr Sinn für die Angehörigen als für die Ermittler", sagt der Kriminalpsychologe und Experte für Entführungsfälle Christian Lüdke SPIEGEL ONLINE. Für die Familie, die sich dem Geschehen hilflos ausgeliefert fühle, sei es wichtig, sich auch aktiv an der Suche nach dem oder der Verschwundenen beteiligen zu können. "Die Angehörigen stehen zwischen Hoffen und Bangen Todesängste aus und fühlen sich unendlich machtlos", sagt der Psychotherapeut, der auch die Opferschützer vom "Weißen Ring" berät.
Der Vorstoß der Familie B. kam genau eine Woche nach der Entführung, in einem Moment, als die Ermittlungen stockten. Nach einer misslungenen Lösegeldübergabe hatte man alle Hoffnungen auf einen angeblich wichtigen Zeugen gesetzt. Doch der gesuchte Hausierer entpuppte sich bei seiner Befragung als wenig hilfreich. Von der 54-jährigen Bankiersgattin fehlt weiter jede Spur. Auch die 100.000 Euro Belohnung scheinen bisher kein Anreiz für mögliche Mitwisser zu sein, sich mitzuteilen.
Höchste Einschaltquote seit elf Jahren für "Aktenzeichen XY...ungelöst"
Dem Format "XY" bescherte die Videobotschaft der Familie B. die höchste Einschaltquote seit elf Jahren. Auch die direkte Resonanz war am Mittwochabend beträchtlich, brachte jedoch die Ermittler bislang nicht weiter. Nach der Sendung seien 71 Hinweise eingegangen, teilte die Polizei mit. Sieben seien noch am Abend überprüft worden. Einer bezog sich auf den im Hof des Klosters Neresheim geparkten Mercedes der Entführten, die anderen auf die Ablagestelle des Geldes an der A 7 zwischen den Anschlussstellen Heidenheim und Aalen-Oberkochen. Ein Hinweis auf den Aufenthaltsort der 54-Jährigen war nicht dabei.
"Wir haben lange mit den Angehörigen und den leitenden Ermittlern diskutiert, ob wir den Appell senden sollen", sagt Ina-Maria Reize, Redaktionsleiterin von "Aktenzeichen XY ungelöst", SPIEGEL ONLINE. Der Ehemann von Maria B. habe sich mit der dringenden Bitte an sie gewandt, im Fernsehen auftreten zu dürfen. "Alle drei Familienmitglieder wollten unbedingt vor die Kamera - ich wollte ihnen dieses Forum nicht verweigern", erklärt Reize.
Doch Aktionen wie die Videobotschaft bergen auch Gefahren, warnt Psychotherapeut Lüdke. "Der Täter zerfließt nicht vor lauter Mitleid, wenn er solche Bilder sieht", weil er "nicht so tickt wie du und ich". Ein öffentlicher Aufruf gebe ihm vielmehr ein Machtgefühl, steigere seinen Tatrausch, die Überzeugung, alles richtig gemacht zu haben.
Dennoch dürfe man die Wirkung eines TV-Appells auf keinen Fall unterschätzen. Gerade mit einem sehr dramatischen Auftritt wie dem der Familie B. erreiche man viele Menschen und dies erhöhe die Chance, Hinweise zur Aufklärung der Straftat zu erlangen. "Wenn es gelingt, eine emotionale Beziehung zwischen Täter, Mittäter oder auch Handlanger und ihrem Opfer aufzubauen, dann steigt automatisch die Hemmung, die Geisel zu töten." Manchmal reiche da schon ein "intensiver Blickkontakt".
"Man muss die Medien nutzen, die Täter tun es auch", so Lüdke. Die Mehrzahl der Entführer informiert sich demnach in Fernsehen und Internet, liest die regionale Presse, um den Stand der Ermittlungen zu kennen. So soll der Drahtzieher der Entführung des Publizisten , Thomas Drach, die Pressemeldungen ebenso aufmerksam verfolgt haben wie zum Beispiel der Kaufhauserpresser alias "Dagobert".
Nachrichtensperre oder Kooperation?
89 Fälle von erpresserischem Menschenraub gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2009 in Deutschland, mehr als 84 Prozent davon konnten aufgeklärt werden. Vermehrt versuchen sich Gutbetuchte in Deutschland nicht nur mit Personenschutz vor Straftaten zu wappnen, auch Kidnapping-Versicherungen im Wert von bis zu zweistelligen Millionenbeträgen werden immer öfter nachgefragt - für im Ausland operierende Großunternehmer, aber auch deutsche Mittelständler.
Spätestens seit dem Geiseldrama , bei dem 1988 drei Menschen ums Leben kamen, ist die Rolle der Medien in Entführungsfällen umstritten. Damals hatten Journalisten Live-Interviews mit den Tätern geführt, einer von ihnen, der damalige "Express"-Reporter und spätere "Bild"-Chefredakteur Udo Röbel, stieg sogar zu ihnen ins Fluchtauto. Im Fall von Jan-Philipp Reemtsma hingegen hielt sich die Presse im Frühjahr 1996 an eine von den Ermittlern verhängte Nachrichtensperre, so dass die Öffentlichkeit erst nach der Befreiung des Multimillionärs von der Entführung erfuhr.
Im Fall des saarländischen Brauereibesitzers Gernot Egolf führte genau diese Strategie zu einer Katastrophe: Der im Jahr 1976 in Homburg entführte Unternehmer wurde von seinen Entführern in einem Bunker gefangen gehalten. Wochenlang hielt die Polizei das Verbrechen geheim, erst als sie an die Öffentlichkeit ging, konnte der Täter gefasst werden. Am selben Tag fand man Egolfs Leiche, angekettet, in einer Wasserlache liegend. Die Freundin eines Täters hatte sich der Kriminalpolizei anvertraut - zu spät.