Ungeklärter Mord vor Gericht "Das mit dem Postboten - das war ich nicht"
Osnabrück - Helmut Schmidt war Bundeskanzler, Deutschland Fußballweltmeister und die RAF eine real existierende Terrororganisation, deren Filmwerdung sich die braven Bundesbürger noch nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten - und vermutlich auch nicht wollten. Als Jahr des "Deutschen Herbstes" ist 1977 in die Geschichtsbücher eingegangen.
Doch die Geschichte lebt - nicht nur in der Aufarbeitung der RAF-Vergangenheit. An diesem Donnerstag haben sich in Saal 272 des Osnabrücker Landgerichts fast zwei Dutzend Juristen daran gemacht, eines der großen kriminalistischen Rätsel aus dem Jahr 1977 zu lösen. Vor der 6. Großen Strafkammer müssen sich von heute an bis ins nächste Jahr drei Männer wegen Mordes verantworten: Klaus Uwe E., 60, Reinhard L., 58, und Klaus W., 65, sind angeklagt, am 13. Mai 1977 den Postbeamten Johannes G. beraubt und ermordet zu haben.
Ehe die Verhandlung am Vormittag mit der Verlesung der Anklageschrift beginnen kann, hagelt es bereits Befangenheitsanträge gegen die Kammer. Der Vorsitzende Richter Wolfgang Kirschbaum sowie seine beiden Beisitzer seien voreingenommen und nicht in der Lage, ein faires Verfahren zu führen, so die Verteidiger Karl R. Runge und Burkhard Wahler. Die Richter ziehen sich daraufhin zur Beratung zurück - und vertagen den Prozess schließlich auf Dienstag.
Den Zuschauern im Saal bleibt somit noch unklar, was die Staatsanwaltschaft dem Trio konkret vorwirft - und vor allem, wie sie dessen Schuld beweisen will. Ein Sprecher der Behörde hatte zwar vor Verhandlungsbeginn erklärt, im Zuge einer Routineüberprüfung ungeklärter Gewaltdelikte sei man zu dem Entschluss gekommen, den Mordfall G. nach 31 Jahren nun doch vor Gericht bringen zu können. Das klang aber allenfalls pflichtschuldig überzeugt.
Tatsächlich zeigt sich bei einem Blick in die Anklageschrift, die am kommenden Dienstag verlesen werden soll und SPIEGEL ONLINE bereits vorliegt, dass die Polizei in den vergangenen 28 Jahren keine wesentlichen neuen Beweise hat zusammentragen können. Seinerzeit waren die Ermittlungsverfahren gegen die nun neuerlich Angeklagten in der Sache G. eingestellt worden. Noch immer fehlen allerdings DNA-Spuren, Fingerabdrücke und Zeugenaussagen, die das Trio belasten.
"Die Anklage strotzt vor Fehlern, Lücken, Nachlässigkeiten"
Laut Anklage - 53 Seiten ist sie stark - haben Klaus Uwe E., Reinhard L. und Klaus W. am 13. Mai 1977, es war kurz nach halb sieben, den Wagen des Postbeamten Johannes G. an einer Baustelle in Hilter bei Osnabrück gestoppt. Sie sollen sich dazu als Polizisten ausgegeben haben. Daraufhin hätten sie den jungen Mann, der seine Lehre gerade beendet hatte, überwältigt und seien in ein Waldstück gefahren.
Dort öffnete das Trio dem Dokument zufolge den Tresor des Transporters, nahm drei Geldkassetten mit insgesamt 42.500 Mark an sich und erschlug den Postbeamten.
Dessen Leiche wurde schließlich am 3. Juni 1977 viele Kilometer entfernt in einem Waldstück im nordrhein-westfälischen Tecklenburg entdeckt. Seinen gelben Mercedes Transporter mit der Werbeaufschrift "Marktkauf" hatte man bereits am 14. Mai, einen Tag nach der Tat, auf dem Parkplatz des dortigen Krankenhauses gefunden.
Nach Meinung der beiden Verteidiger des inzwischen in Wuppertal wohnenden Klaus Uwe E., der den Ermittlern als Kopf des Trios gilt, "strotzt die Anklage nur so vor Fehlern, Lücken und Nachlässigkeiten", wie die Anwälte Runge und Wahler SPIEGEL ONLINE sagten. So sei zunächst schon einmal vollkommen unklar, wo der Überfall auf G. überhaupt stattgefunden habe.
Die Staatsanwaltschaft stütze ihre Annahme, es sei im niedersächsischen Hilter geschehen, einzig und allein auf die Spur eines Lasterreifens auf einem Waldweg. Es sei aber nicht geklärt, ob diese überhaupt von dem Postauto stamme, so die Rechtsanwälte. Im Übrigen seien ein Gipsabdruck der Reifenspur ebenso wie 176 weitere Hinweise inzwischen auf ungeklärte Art und Weise aus den Akten verschwunden.
"Die Sache mit dem Postboten - das war ich nicht"
"Es ist unfassbar, dass sich die Staatsanwälte sich an ein Indiz klammern, das es gar nicht mehr gibt", so Rechtsanwalt Runge. Viel wahrscheinlicher erscheine es ihm, dass G. im nordrhein-westfälischen Tecklenburg getötet wurde. Das Problem daran wäre für die Osnabrücker Behörden jedoch, dass dann die Kollegen aus Münster den Fall übernehmen müssten. Halten die Ankläger deshalb am Tatort Hilter und an der verschwundenen Reifenspur fest?
Unbestritten ist jedenfalls, dass Klaus Uwe E. und Reinhard L. sowie Karl-Heinz N. am 3. Mai 1977 - also nur zehn Tage vor dem Überfall auf den Postbeamten G. - auf einem Rastplatz an der Autobahn 1 den Handelsvertreter Reinhold S. überfielen und ihn später auch erdrosselten, um dessen VW Passat zu stehlen.
Dazu hätten sie falsche Polizeimarken und eine Pistole vom Kaliber 9 Millimeter eingesetzt, sagte E. SPIEGEL ONLINE. "Ich schäme mich für das, was ich damals getan habe. Ich war ein Arschloch, nur auf schnelles Geld aus. Aber die Sache mit dem Postboten - das war ich nicht."
Der damals 27-jährige E., der im westfälischen Warendorf ein Rollladengeschäft aufgebaut hatte, befand sich 1977 in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten. L. und dessen Schwager Klaus W. waren bei ihm angestellt. Mit dem gestohlenen VW des Handlungsreisenden wollten die Männer einen Supermarkt überfallen, doch der Coup wurde kurzfristig abgeblasen.
Für den Mord an dem Handelsvertreter, der erdrosselt und mit gebrochenem Schädel in einem Erdloch gefunden worden war, verurteilte das Landgericht Münster E. und L. 1978 zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Seit mehreren Jahren befinden sich beide nun wieder auf freiem Fuß.
Anwälte vs. Staatsanwältin: "Es gab da Probleme"
Die Staatsanwaltschaft sieht laut Anklageschrift Parallelen in beiden Mordfällen:
- Die Taten lagen zeitlich und räumlich nah beieinander.
- Die Opfer wurden in ihren Autos überfallen.
- Ihre Leiche deponierten die Täter in Waldstücken.
- Beide hatten Schädelbrüche.
- Bei beiden fehlten die Brieftaschen.
- Bei beiden wurden die Autos nicht in der Nähe der Leiche gefunden.
Doch sind das tatsächlich Beweise, die gegen E., L. und W. sprechen?
Zumal sich manche scheinbare Parallelitäten bei näherer Betrachtung gar nicht als solche erweisen könnten. So sei Handelsvertreter S. erwürgt, Postbote G. jedoch erschlagen, der eine vergraben, der andere nur mit Laub bedeckt worden, argumentiert Anwalt Runge. Und für die Behauptung der Staatsanwaltschaft, Postbote G. sei von falschen Polizisten angehalten worden, fehle jeder Beleg. Man werde daher weitere Beweisanträge stellen, um die Sache endlich aufzuklären.
Derweil wird in der Sache mit dem Aktenzeichen 710 Js 14809/06 auch hinter den Kulissen mit allen Mitteln gekämpft, wie SPIEGEL ONLINE erfuhr. So erstattete Rechtsanwalt Runge gegen die zuständige Staatsanwältin Anzeige wegen Rechtsbeugung. Diese wiederum revanchierte sich mit einer Beleidigungsklage. Beide Verfahren sollen eingestellt worden sein.
Ein Behördensprecher bestätigte auf Nachfrage lediglich, dass "es da Probleme gegeben hat".