Unterbesetzte Polizei im Einsatz "Manchmal ist es die Hölle"

Eine Stadt in Deutschland: 600.000 Einwohner, alle neun Minuten eine Straftat, dazu Ordnungswidrigkeiten, Unfälle und die Hilferufe Verwirrter, Einsamer oder Verzweifelter. Wie können 36 Polizisten hier für Sicherheit sorgen? Gar nicht, sagen die Beamten.
Polizeieinsatz in Deutschland: Vier Beamte für 100.000 Menschen

Polizeieinsatz in Deutschland: Vier Beamte für 100.000 Menschen

Foto: DDP

Kurz nach drei Uhr, die Finsternis drückt schwer durch die Scheiben des Streifenwagens und nur ganz allmählich kriecht der Sonntagmorgen heran. Blaulicht zuckt in der Nacht, draußen stehen, ineinander verkeilt, zwei zerbeulte Autos auf der Straße. Die Fahrer telefonieren, eine junge Polizistin schreibt ein Protokoll. "VU ohne", meldet sie, keine Verletzten heißt das, nur ein Blechschaden.

Das Funkgerät knarzt, wie immer ist es kaum zu verstehen. "Uralttechnik, die gibt es sonst nur noch in Albanien", murmelt Ralf*, Polizeikommissar, Haudegen, "frustrierter Bulle", wie er über sich sagt.

Die Zentrale meldet einen "Trunkenheitsfahrer" auf der städtischen Autobahn, Schlangenlinien ziehend, wild hupend, "einen schwarzen Nissan Almera", es gab schon mehrere Anrufe deshalb, jemand muss ihn endlich aufhalten. "Kein Fahrzeug verfügbar", ruft der Dienstgruppenleiter des zuständigen Reviers. Zentrale: "Na, dann sammelt ihr ihn eben später ein."

Ralf schüttelt den Kopf.

Nicht die ganze Wahrheit

Diesen Artikel, und das ist traurig genug, dürfte es eigentlich gar nicht geben, bricht er doch mit den Gepflogenheiten zwischen Presse und Polizei. Will ein Journalist nämlich über deren Arbeit berichten, muss er das bei der Behördenleitung beantragen. Die präsentiert dann zumeist beflissene Beamte - hilfsbereit, engagiert, ehrgeizig - und einen Haufen harmloser Fälle. Im Privatfernsehen lässt sich das fast täglich beobachten. Die Wahrheit ist das natürlich nicht, jedenfalls nicht die ganze.

Ralf will das ändern, den "Wahnsinn einmal ungefiltert zeigen", und klar ist dabei: "Wenn das rauskommt, ziehe ich die Uniform für immer aus."

Der 40-Jährige ist ein mutiger Mann, ein ratloser auch, einer, der es nicht mehr aushält, das Chaos, das die Polizei nur noch verwaltet und nicht mehr bekämpft, die schlechte Presse, seine "unfähigen" Vorgesetzten, die schwadronierenden Politiker, die durchgeknallten Typen auf der Straße, die schon ausflippen, wenn man sie bloß nach dem Führerschein fragt, diese ganze Gewalt, die Hoffnungslosigkeit und Verwahrlosung, das Elend in seiner Stadt. "Es ist zum Kotzen", sagt Ralf.

Statistiken lassen sich frisieren

Deutschland ist ein sicheres Land, heißt es immer, und die Braven unter den Bürgern sind geneigt, das zu glauben. Doch stimmt das wirklich? Statistiken, so weiß man, lassen sich frisieren, und warum sollte das bei den Kriminalstatistiken anders sein?

Diese bunten Tabellen, Grafiken und Diagramme, jährlich veröffentlicht, sind bestimmt nicht ganz falsch, aber sie sind wahrscheinlich auch nicht ganz richtig. Das Absurde an ihnen ist jedenfalls, dass das Land sicherer erscheint, wenn weniger ermittelt wird - dann nämlich sinkt die Zahl der Straftaten automatisch.

Die Stadt, in der Ralf lebt und Dienst tut, hat etwa 600.000 Einwohner. Im vergangenen Jahr wurden hier - laut Statistik - fast 60.000 Straftaten begangen, das waren durchschnittlich fast sieben in der Stunde, gerade einmal jede zweite konnte die Polizei aufklären. Hinzu kamen mehr als 5000 versuchte Delikte, zahllose Ordnungswidrigkeiten, Unfälle und Abertausende Hilferufe verwirrter, einsamer, verzweifelter Menschen.

"Manchmal ist es die Hölle", sagt Ralf.

"Es darf nichts passieren"

In dieser Samstagnacht, und sie scheint alles andere als untypisch zu sein, sind in der Stadt 36 Beamte auf der Straße, in 18 Streifenwagen. Von Ralfs Revier, zuständig für fast 100.000 Menschen, fahren vier Beamte hinaus. Zwei Kollegen müssen auf der Wache bleiben: Einer bedient den Funk und koordiniert die Einsätze, der andere nimmt Anzeigen auf und kümmert sich um die "Laufkundschaft".

Vier für 100.000. "Es darf halt nichts passieren", sagt Ralf.

Nichts Außergewöhnliches, meint er. Mit der Routine nämlich sind seine Kollegen in den Streifenwagen, zwei Männer, zwei Frauen, sehr gut ausgelastet - wie ein Auszug aus dem Protokoll ihrer Schicht zeigt:

22.50 Uhr: Ruhestörung

23.02 Uhr: Randalierer

23.12 Uhr: Ruhestörung

23.29 Uhr: Verdächtige Person

23.51 Uhr: Ruhestörung

0.10 Uhr: Sachbeschädigung

0.26 Uhr: Streitigkeiten

1.35 Uhr: Ruhestörung

"Heute ist es ruhig", sagt Ralf und hackt schnell einen Bericht in den uralten Computer. Nach nicht einmal zehn Minuten stürzt der Rechner ab.

Ralf gibt Gas

Es geht wieder hinaus auf die Straße, in die Nacht. Wagen 23 gleitet vorbei an Solarien, China-Imbissen und Handy-Shops. Die Beamten schauen müde aus den Fenstern, bloß böse Blicke erntend. "Wenn ich jetzt einen von denen nach dem Ausweis frage", sagt Ralf und nickt in die Richtung einiger junger Männer vor einem türkischen Kulturverein, "dann haben wir hier richtig Stress." Seine Kollegen sind 20 Minuten entfernt. Ralf gibt Gas.

Kurz vor zwei Uhr nachts, die Polizisten sausen vorbei an saufenden Kindern vor einem Supermarkt, einem offenkundig betrunkenen Fahrradfahrer ohne Licht und einem wild streitenden Pärchen. "Dafür haben wir keine Zeit", sagt Ralf und schaut stur geradeaus, "damit wären wir doch sonst wer-weiß-wie-lange beschäftigt." Der nächste Einsatz, die nächste Schlägerei, Wagen 23 stoppt nur noch, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt.

In der Theorie darf ein Polizist nicht darüber entscheiden, welche Straftaten er verfolgt und welche nicht, Legalitätsprinzip nennt sich dieser Grundsatz. In der Praxis jedoch, sagt Ralf, habe man gar keine andere Chance als wegzugucken und weiterzufahren. Sich Zeit zu nehmen, nachzufragen, aufzuklären und Straftäter aufzuspüren - das sei häufig schon ein unmöglicher Luxus. "Eigentlich lassen wir doch alle in Ruhe", sagt er.

"Kein Fahrzeug frei"

Ein 15-Jähriger wird vermisst, die Zentrale ruft. "Wir haben kein Fahrzeug frei", antwortet der Dienstgruppenleiter. Kurze Zeit später wird eine "hilflose Person" in einem Auto gemeldet, wieder rauscht es aus dem Funkgerät: "Negativ, wir haben keinen Wagen." Man wird diese Wendung noch häufig hören, bevor der Morgen graut, und auch, wie die Betroffenen über die langsame Polizei schimpfen und die Polizisten auf die Politik. Und schon bald werden die Politiker wieder betonen, wie sicher Deutschland ist.

"Irgendwie geht es ja meistens noch gut", sagt Ralf. "Aber ich frage mich jeden Tag, wie lange noch?" Nächste Woche will er sich krank melden, zurzeit die einzige Chance, einen freien Tag zu bekommen. "Dann müssen die halt gucken, wie sie mit noch weniger Leuten klarkommen." Das sei wirklich nicht sein Problem.

* Alle Angaben, aus denen sich Rückschlüsse auf Ralfs Identität ziehen lassen könnten, wurden zu seinem Schutz verändert.

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