Urteil in Hamburg Wenn ein Fußballfan auf den Schiri losgeht

Ein Mann stürmt bei einem Landesligaspiel in Hamburg aufs Feld und verprügelt den Schiedsrichter. Jetzt hat ihn ein Amtsgericht verurteilt. Eine Geschichte aus dem Alltag im Amateurfußball.
Opfer Mike F.

Opfer Mike F.

Foto: Johannes Arlt/ DER SPIEGEL

Mike F. war es gewohnt, beleidigt zu werden. Es interessierte ihn nicht, er ist seit fünf Jahren Schiedsrichter, Landesliga Hamburg, Amateurfußball. Seit dem 4. September vergangenen Jahres ist das anders, seither fällt es ihm schwer, Beschimpfungen zu überhören, sie könnten wieder ein Warnsignal sein.

An diesem Abend pfiff Mike F. den Bramfelder SV gegen Dersimspor, ein hektisches, spannungsgeladenes Punktspiel mit Heimvorteil für Bramfeld. In der vorletzten Spielminute Foul an der Mittellinie, Mike F. riss die rechte Hand hoch: Rote Karte für Dersimspor.

90 Sekunden später Abpfiff. 2:1 für den Bramfelder SV. Die Fans vom Gegner hatten sich 90 Minuten in Rage gebrüllt. Jetzt stürmten einige von ihnen aufs Spielfeld, es kam zur Rangelei zwischen Fans und Spielern.

Täter Murat T.

Täter Murat T.

Foto: Johannes Arlt/ DER SPIEGEL

Mike F. sah zu, dass er vom Platz kam. Schon in der Halbzeit hatte einer seiner beiden Assistenten gesagt, dass die Beleidigungen gegen sie, die drei Unparteiischen, heftiger seien als sonst. Persönlicher.

Mike F. lief zur Kabine. Murat T. rannte auf ihn zu. "Ihr Wichser, Missgeburten! Ihr seid das schlechteste Schiri-Gespann, das ich je gesehen habe", soll Murat T. geschrien haben. "Ich warte auf euch vor dem Platz und dann bekommt Ihr auf die Fresse."

Mike F. schob den einen Assistenten nach vorn, in Sicherheit. Da trat ihm Murat T. schon in die linke Kniekehle, beim zweiten Tritt in die Wade sackte Mike F. zu Boden. Zwei Schläge ins Gesicht, an mehr kann sich Mike F. nicht erinnern, ein Rettungswagen brachte ihn ins Krankenhaus.

Mike F. sitzt in Raum E 0.10 des Amtsgerichts Hamburg-Barmbek. Ein großer Mann mit kurzem hellblondem Haar, Hemd und Turnschuhen, 24 Jahre alt, von Beruf Tischler. An Murat T., der rechts auf der Anklagebank sitzt, schaut er angestrengt vorbei.

Er ignoriert ihn so wie die Mail, die Murat T. ihm am Tag nach dem Angriff via Facebook schrieb. Murat T. entschuldigte sich darin. Aber für derartige Fouls hat Mike F. kein Verständnis. Damals nicht und heute noch viel weniger. Seine Mutter und seine Schwester, ebenfalls Schiedsrichterin, sitzen in der ersten Zuschauerreihe.

Murat T., 31, ist wegen Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung angeklagt. Er trägt ein dunkelblaues Hemd über dem muskelbepackten Oberkörper, Bart und Haare sind markant frisiert. Er ist ohne Anwalt gekommen, er will sich selbst verteidigen. Er hat Einspruch eingelegt gegen den Strafbefehl von 120 Tagessätzen. Er will sich entschuldigen, sich erklären.

Zum Spiel Jack Daniels aus Dosen

Murat T. ist in Cuxhaven geboren, er wohnt in Hamburg. Vor Gericht sagt er, er komme aus Dersim, der heutigen Provinz Tunceli in der Türkei, in der viele Armenier nach dem Völkermord Zuflucht fanden. Murat T. sagt, eine Nachricht aus Dersim habe ihm an jenem 4. September zugesetzt: Zwei Bekannte seien von Guerillas getötet worden.

Er habe nicht nur während des Spiels Jack Daniels aus Dosen getrunken, sondern schon den ganzen Tag über, um den Schock zu verarbeiten. "Wenn man stark alkoholisiert ist, fühlt man sich schnell abgewertet", sucht Murat T. nach Worten. Er versucht, seine Tat zu verharmlosen, spricht von "Bein stellen" und "Ohrfeige". "Es tut mir sehr leid, auch wenn man das nicht entschuldigen kann."

Matthias H., 48, nimmt im Zeugenstand Platz. Ein Mann mit kurzen Hosen und rotem Kopf. Er ist Ligamanager beim SV Bramfeld, eine Art sportlicher Leiter. Er stellte sich nach der Attacke an jenem 4. September Murat T. in den Weg, wollte ihn aufhalten. Murat T. rannte an Matthias H. vorbei, schlug mit seinem Ellenbogen gegen H.s Kinn. "Ich bin zu Boden, war ohnmächtig, klassisches K.o.", sagt Matthias H. im Gericht. "Ich hatte ein ganz schönes Horn."

Am nächsten Tag sei er noch einmal zum Notarzt, aber nichts Dramatisches. Und seine Brille sei futsch. Matthias H. klingt versöhnlich. "Wir sind ja beide auch keine schmalen Kinder", sagt er mit Blick zum Angeklagten.

Der Ellenbogen auf Kinnhöhe sei aber wohl auch keine normale Sprintbewegung, sagt Staatsanwalt Bryde. "Nö, aber ob er das mit Absicht gemacht hat, kann ich echt nicht sagen." Murat T. entschuldigt sich bei Matthias H. "In Ordnung", sagt der. "Ich hätte es nur gut gefunden, wenn du das schon auf dem Platz gesagt hättest."

Mike F. macht es Murat T. nicht so leicht. Er blickt stur auf die Amtsrichterin, schenkt dem Angeklagten keinen Blick. Zu lange bangte er nach der Tat um sein rechtes Auge, es bestand die Gefahr einer Netzhautablösung. Inzwischen ist Mike F. wieder gesund, geht aber auch zivilrechtlich gegen Murat T. vor und fordert Schadensersatz.

Murat T. bleibt der Verhandlung fern

Am zweiten Verhandlungstag vor dem Amtsgericht Barmbek beschreibt einer der beiden Schiedsrichterassistenten noch einmal, wie Murat T. am 4. September mit der Faust zuschlug. Mike F. habe da längst am Boden gelegen. Murat T. kann sich an diesem Prozesstag nicht erklären, er ist einfach nicht erschienen.

In Abwesenheit verurteilt ihn die Richterin zu 120 Tagessätzen je 30 Euro, gemessen an Murat T.s Gehalt eine adäquate Strafe. Er muss zudem die Brille des Ligamanagers ersetzen und die Kosten des Verfahrens übernehmen.

Schlimmer dürfte ihn die Strafe des Sportgerichts getroffen haben: Murat T. darf fünf Jahre lang keinen Sportplatz betreten und nie wieder bei einem Hamburger Verein Fußball spielen. Es ist so etwas wie die Höchststrafe am Sportgericht. Seinem Verein Dersimspor wurden nach dem Übergriff außerdem drei Punkte abgezogen.

Staatsanwalt Bryde betont in seinem Plädoyer, wie besonders unfair es doch sei, wenn Fans ausgerechnet gegenüber den Unparteiischen auf dem Platz ihre Wut ausleben. Für das Spiel Bramfeld gegen Dersimspor bekam Mike F. damals 32 Euro, seine Assistenten bekamen 21 Euro.

Mike F. ist vom SC Schwarzenbek zum Tus Berne gewechselt und steht wieder auf dem Platz. Sein erstes Spiel absolvierte der Referee auf eigenen Wunsch beim SV Bramfeld. Nur eine Partie von Dersimspor will er nie wieder pfeifen. "Dabei ist das eigentlich ein freundlicher Verein", sagt Mike F.

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