Urteile in Madrider Terrorprozess Ende der Ohnmacht
Hamburg - Das Urteil steht. Die Begründung ist 600 Seiten dick, bis ins letzte Detail schildert sie noch einmal den Schrecken der Terroranschläge vom 11. März 2004. Zu welchem Schluss das Tribunal darin kommt - darüber sind sich Beobachter und Experten schon vor der Verkündung an diesem Mittwoch einig: Alle gehen davon aus, dass sich die Richter an den Forderungen der Staatsanwaltschaft orientieren werden. Diese hält alle 28 Angeklagten für schuldig. Und hat im Schlussplädoyer insgesamt 311.865 Jahre Haft gefordert.
Das Urteil wird im Fernsehen live übertragen und das Ende eines Mammutprozesses sein - und für Überlebende und Angehörige der Toten eine Art Schlussstrich nach Jahren der Ohnmacht. Nach 57 fast unerträglichen Verhandlungstagen, in denen ihnen das Attentat vom 11. März 2004 immer wieder ins Gedächtnis gerufen wurde.
An jenem Tag hatten islamistische Extremisten in vier Madrider Vorortzügen zehn Bomben gezündet. Sie rissen 191 Menschen in den Tod, 1824 weitere wurden verletzt. Es war der bislang schwerste islamistische Terroranschlag auf europäischem Boden - laut den Ermittlern begangen von 19 Immigranten arabischer Herkunft und von neun Spaniern. Weitere mutmaßliche Mitglieder der Terrorzelle sprengten sich drei Wochen nach den Anschlägen im Madrider Viertel Leganés in die Luft, als die Polizei ihre Wohnung stürmen wollte.
Kugelsicherer Käfig, schwere Waffen: Das Gericht als Festung
Der Prozess, zum Teil live im Fernsehen übertragen, ist der größte in der spanischen Justizgeschichte. Seit dem 15. Februar wurden 309 Zeugen und 107 Experten gehört. Das dreiköpfige Tribunal unter dem Vorsitz des Richters Javier Gómez Bermúdez arbeitete sich akribisch durch den 93.000 Seiten starken Ermittlungsbericht.
Das Verfahren fand in Madrid unter massiven Sicherheitsvorkehrungen statt: Schwerbewaffnete Polizisten bewachten mit Hunden und Hubschraubern das Gerichtsgebäude. Die Angeklagten wurden in einem gepanzerten Bus mit einer riesigen Polizeieskorte in den Saal gebracht. Dort mussten sie auf Bänken in einem kugelsicheren Käfig aus Panzerglas Platz nehmen. An jedem Prozesstag rechnete die Polizei mit einer Attacke durch Terroristen - das Gerichtsgebäude glich einer Festung.
Viele Überlebende und Angehörige waren von Psychologen auf den Prozess vorbereitet worden und saßen an jedem Verhandlungstag den Tätern gegenüber. Dramen spielten sich ab - am ersten Tag klagte Laura Jimenez, ihr Schmerz sei immer noch zu frisch, fast drei Jahre nach dem Attentat. Die Spanierin verlor bei dem Anschlag ihr Baby, sitzt selbst gelähmt im Rollstuhl.
Bis zum Schluss kein Zeichen der Reue
Wie sie haben alle Betroffenen bis zum Ende vergeblich auf Anzeichen von Reue gewartet. Hartnäckig leugneten die Angeklagten, an den Anschlägen beteiligt gewesen zu sein - so erdrückend die Beweise auch sind. Einige traten aus Protest gar kurzzeitig in Hungerstreik.
Auch in politischer Hinsicht hat das Urteil Brisanz. Drei Tage nach dem Attentat fanden 2004 in Spanien Wahlen statt. Die Konservativen unter der Führung des damaligen Ministerpräsidenten José María Aznar verloren. Monatelang hatten sie als sichere Wahlsieger gegolten, doch unmittelbar nach dem Anschlag verbreiteten sie, dass statt Islamisten auch die baskische Terrororganisation ETA hinter dem Anschlag stecken könne. Schon damals kam rasch der Verdacht auf, dass die Öffentlichkeit mit dieser These gezielt in die Irre geführt wurde - um davon abzulenken, dass Spanien wegen der Beteiligung am Irak-Krieg ins Visier von Islamisten geraten war. Wie gezielt die konservative Regierung damals desinformierte, hat der Prozess bewiesen: Die Ermittler hatten demnach schon Stunden nach dem Attentat Spuren in die islamistische Szene.
Die Terrorexperten der spanischen Polizei wussten seinerzeit zwar, dass das Land zum Ziel islamistischer Terroristen geworden war - trotzdem beobachteten nur 150 Polizisten die Szene. Das hat sich geändert. Heute sind mehr als 1000 Beamte auf die Abwehr islamistischer Terrorattentate spezialisiert.