SPIEGEL ONLINE

Verbrannter Ouri Jallow Wie die Justiz um Wahrheit ringt

Warum starb der Asylsuchende Ouri Jallow in einer Dessauer Polizeizelle? Und wer trägt die Schuld dafür? Das Landgericht Magdeburg muss sich nun mit dem hochumstrittenen Fall beschäftigen. Es ist eine mehr als schwierige Aufgabe.

Ouri Jallow

Die Richterin Claudia Methling, die der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Magdeburg vorsitzt, ist eine zierliche Frau. Was sie aber zu bewältigen hat - nämlich den Tod des Asylsuchenden aus Sierra Leone aufzuklären - verlangt die Fähigkeiten eines Übermenschen. Denn worüber in den kommenden Wochen und Monaten in Magdeburg zu verhandeln sein wird, sprengt alles, was man für möglich halten kann.

Die Geschichte beginnt damit, dass sich mehrere Frauen von der Dessauer Stadtreinigung am Morgen des 7. Januar 2005 von dem stark angetrunkenen Jallow belästigt fühlen, der von ihnen ein Handy haben will, da seines offenbar nicht funktionierte. Sie weisen ihn ab, er lässt nicht locker. Darauf rufen die Frauen die Polizei.

Die Beamten nehmen Jallow mit, da sich seine Identität vor Ort nicht klären lässt. Jallow protestiert, wehrt sich, schlägt und tritt. Auf dem Revier randaliert er und verletzt sich durch Schläge mit dem Kopf gegen die Wand selbst. Nur mit Mühe gelingt es einem Arzt, ihm eine Blutprobe zu entnehmen. Man stellt 2,98 Promille fest. Da der Mediziner ihn für "gewahrsamstauglich" hält, wird Jallow in eine Art Ausnüchterungszelle im Untergeschoss gesperrt, in der es keinerlei Mobiliar gibt, sondern nur einen gefliesten, beheizten Betonblock, auf dem eine Matratze liegt. Der Tobende wird, auf dem Rücken liegend mit Hand- und Fußfesseln an vier Halterungen fixiert.

Fotostrecke

Der Fall Ouri Jallow: Tauziehen vor Gericht

Foto: Jens Wolf/ picture alliance / dpa

Zwischen 9.30 und 11.45 Uhr kontrollieren Beamte diese Zelle Nr. 5 viermal. Gegen 12 Uhr gibt der an der Zellendecke befestigte Rauchmelder erstmals Alarm. Das Signal wird in das Zimmer im Obergeschoss des Gebäudes übertragen, in dem sich der Dienstgruppenleiter mit einer Kollegin aufhält. Später durchgeführte Versuche ergeben, dass das Signal spätestens 90 Sekunden nach der Entzündung eines Feuers ausgelöst worden sein muss. Zehn Sekunden später meldet ein zweites Alarmsignal Rauch. Beide Male unterdrückt der damalige Dienstgruppenleiter und jetzt angeklagte Andreas Sch., 50, die Warntöne.

Statt sich sofort an Ort und Stelle zu begeben, um den fixierten Jallow zu retten, ruft Sch. erst einmal bei seinem Vorgesetzten an mit der Bitte, mit ihm zusammen in den Gewahrsamstrakt zu gehen. Dann nimmt er den Zellenschlüssel, und als der Rauchmelder erneut anspringt, unterdrückt er auch diesen dritten Alarm.

Nach wenigen Schritten in Richtung Untergeschoss kehrt er um, weil er den neben dem Eingang zum Dienstzimmer in einem Blechkasten hängenden Schlüssel für die Fußfesseln vergessen hat. Auf dem Weg zu Jallow weist er einen telefonierenden Kollegen an, ihn zu begleiten. Als man dann endlich bei Zelle 5 ankommt, dringt bereits Qualm aus den Ritzen. Und als Sch. die Tür aufschließt, schlägt ihm und seinem Kollegen beißender, undurchdringlicher schwarzer Rauch entgegen.

Es war zu spät

Sch. ruft nun dem anderen Beamten zu, er soll Hilfe holen. Doch es ist längst zu spät. Der an der Matratze fixierte Jallow hat vermutlich die ersten zwei Minuten nach Ausbruch des Brands nicht überlebt, da sich an der Brandstelle etwa 800 Grad heiße Gase entwickelt haben.

Ein erster Prozess gegen Sch. und den ihn begleitenden Kollegen vor dem Landgericht Dessau wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Amt endete im Dezember 2008 in einem von öffentlicher Empörung und Protestdemonstrationen begleiteten Debakel. Das Gericht sprach beide Angeklagte frei - nicht, weil ihre Unschuld festgestellt worden wäre oder die Beweise für schuldhaftes Unterlassen einfach nicht gereicht hätten.

Der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff beklagte in der Urteilsverkündung vielmehr ein "Ende, das aus formalen Gründen sein musste". Das Gericht habe nicht die Chance gehabt, "das, was man ein rechtsstaatliches Verfahren nennt, durchzuführen". Polizisten hätten als Zeugen "bedenkenlos und grottendämlich" falsch und unvollständig ausgesagt. Wie frustriert und erbost das Dessauer Gericht gewesen sein muss, lässt sich an den Worten ablesen, die der Vorsitzende öffentlich sagte, als er die Verhandlung schloss: "Ich habe keinen Bock, zu diesem Scheiß noch irgendwas zu sagen."

Was wird also auf die Vorsitzende Methling zukommen?

Bitterböse Behauptung und kein einziges Indiz

Sie wird mit einer Nebenklage zu tun haben, die behauptet, Jallow habe das Feuer nicht selbst gelegt. Wer aber dann? Über die Brandentstehung wurde und wird spekuliert: War Jallow nicht gründlich genug durchsucht worden? Oder hatte er, als er in die Zelle gebracht wurde, einem Beamten ein Feuerzeug entwenden können? Fiel einem Polizisten das Feuerzeug, dessen Reste man später im Brandschutt fand, aus der Hemdtasche, als er Jallow festband? Dieser Beamte soll ein starker Raucher gewesen sein. Und er soll später sein Feuerzeug vermisst haben.

Für die Nebenklage, vertreten durch die Anwälte Gabriele Heinecke und Philipp Rapp, gibt es nur eine Antwort auf die Frage nach der Brandentstehung, und die heißt "Fremdverschulden". Das Feuer - oder das Mittel, das den Brand möglich machte - müsste demnach von außen in die Zelle gebracht worden sein. Weil die sachsen-anhaltinischen Polizisten allesamt Rassisten sind? Weil sie mal einen Schwarzen brennen sehen wollten?

Der erste Prozess brachte kein einziges Indiz für eine solche bitterböse Behauptung. Der Versuch einer Rekonstruktion der Brandentstehung ergab, dass Jallow ein Feuerzeug aus der Hosentasche hätte ziehen und ein Loch in den schwer entflammbaren Matratzenbezug hätte schmoren können. Und anschließend hätte er die brennbare Füllung der Matratze herausziehen können.

Körperlicher Schaden

Die Verteidigung hingegen, Attila Teuchtler und Hans-Jörg Böger, setzt unter anderem auf Ergebnisse von Untersuchungen, die den Schluss nahelegen, selbst wenn Sch. wie der Blitz ins Untergeschoss gefahren wäre, hätte Jallow nicht mehr gerettet werden können. Und sie setzen auf die Feststellungen des freisprechenden Dessauer Gerichts, es sei nicht erwiesen, dass Sch. mit dem Vorsatz einer zumindest bedingten Körperverletzung gehandelt habe: Er habe nicht damit gerechnet, dass Jallow körperlichen Schaden erleiden würde. Sch. habe nicht pflichtwidrig gehandelt.

Das klingt in den Ohren vieler Menschen, vor allem der Angehörigen, wie Hohn. Sagt nicht schon ein Sprichwort "Wo Rauch ist, da ist auch Feuer"? Und Feuer in einer verschlossenen und verriegelten Zelle bedeutet für einen gefesselten Insassen stets Lebensgefahr. Kann es tatsächlich sein, dass ein Mensch im Gewahrsam des Staates verbrennt - und sich niemand etwas hat zuschulden kommen lassen?

Dass in Gefängnissen Notrufknöpfe mutwillig gedrückt werden mit der Folge, dass das Personal bisweilen nachlässig oder entnervt reagiert - oder nicht reagiert - kommt vor. Sch. soll eine Fehlfunktion des Rauchmelders angenommen und gesagt haben: "Nicht schon wieder das Ding!" Genügt das für einen Freispruch?

Zelle Nr. 5

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH), der genau fünf Jahre nach Jallows Tod den Freispruch Sch.s aufhob, stieß in der Urteilsbegründung des Dessauer Gerichts auf zahlreiche Lücken in der Argumentation. So verhielten sich die damaligen Richter zum Beispiel nicht zu der Frage, ob Sch. nicht schon durch das laute "Herumschreien" Jallows hätte Verdacht schöpfen müssen, dass etwas nicht stimmt. Denn die Zelle Nr. 5 war über eine Gegensprechanlage mit dem Dienstzimmer verbunden.

Es liege schließlich nahe, so der BGH, "dass ein Mensch, der in einer Zelle einen Brand legt, um die Lösung der Fesseln zu erreichen, sich frühzeitig durch Rufen bemerkbar macht und Schmerzenslaute von sich gibt, wenn er beim Legen eines Brandes Verbrennungen erleidet".

Sch. schweigt vor Gericht. Er ist inzwischen ein schwerkranker Mann, den die Ereignisse von vor sechs Jahren wohl nicht loslassen. Die Polizeizeugen, die in diesem neuen Prozess nun wieder geladen sind, werden sich vermutlich kaum mit dem Hinweis auf ein schwaches Erinnerungsvermögen aus der Affäre ziehen können. Denn wer dabei war, als Ouri Jallow so erbärmlich zu Tode kam, dem haben sich diese Bilder im wahrsten Sinn des Wortes ins Gedächtnis eingebrannt.

Die Frage, ob der Fall überhaupt noch aufzuklären ist, hängt also allein von der Bereitschaft der Zeugen ab, endlich die Wahrheit zu sagen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten