
Verfahren in New York Fall Strauss-Kahn wird zum US-Justizdebakel
Bevor es beginnt, nutzt die Gerichtsstenografin die Wartezeit noch aus. Sie ruckelt an ihrem Stuhl, richtet ihren Schreibautomaten, zupft die rosa Strickjacke über ihrem froschgrünen Sommerkostüm zurecht und trägt Lipgloss auf. Dann setzt sie eine Hornbrille auf und wartet.
Unter ihrem Tisch steht die Tüte eines Öko-Supermarkts, aus der die Frühausgabe des Boulevardblatts "New York Post" herauslugt. Schlagzeile: "Paukenschlag im Fall DSK."
Es ist tatsächlich ein Paukenschlag, der wenige Minuten später von hier aus, dem Saal 1324 des New Yorker Supreme Courts, bis nach Frankreich zu hören ist. Richter Michael Obus hebt den Hausarrest für Dominique Strauss-Kahn auf. Grund: Neue Erkenntnisse hätten die Glaubwürdigkeit des Zimmermädchens, das den Ex-Chef des Internationalen Währungsfonds ( IWF) der versuchten Vergewaltigung bezichtigt, schwer erschüttert.
Obwohl sich Verteidigung und Staatsanwaltschaft bereits zuvor entsprechend verständigt hatten, scheint der Angeklagte überwältigt. "Vielen Dank, Euer Ehren", murmelt Strauss-Kahn - und lächelt müde.
Die Stenografin hat nicht viel zu tun: Sieben Minuten dauert das Prozedere. Sieben Minuten, die einen der spektakulärsten Kriminalfälle der Geschichte völlig auf den Kopf stellen - und somit nicht nur auf Amerikas Justizsystem einen Schatten des Zweifels werfen, sondern auch auf eine Gesellschaft voller Sensationslust und Hang zur Vorverurteilung.
Klassenhass in den Schlagzeilen
Wohlgemerkt: Alle Vorwürfe und die Anklage gegen Strauss-Kahn, 62, bleiben vorerst bestehen. "Ich gehe davon aus, dass das Verfahren weitergeht", sagt Richter Obus.
Doch das Eingeständnis der Justiz, sie habe Probleme mit ihrer einzigen Kronzeugin, ist eine dramatische Wende zugunsten des Angeklagten. Es ist der Anfang vom Ende dieses Sensationsfalls - und ein Debakel für Oberstaatsanwalt Cyrus Vance. Denn ohne eine verlässliche Belastungszeugin hat er wenig in der Hand. Vor US-Gerichten geht es schließlich weniger um die Wahrheit als darum, wer die glaubwürdigere Geschichte erzählt.
Die turbulenten Ereignisse bringen das gesamte Rechtswesen und die Medien Amerikas in Misskredit. Zwar rühmen sich die USA des Prinzips der Unschuldsvermutung. Doch der Fall rührte an tiefe Vorurteile - gegen Reiche, gegen Ausländer, gegen Franzosen - und brachte zugleich einen unterschwelligen Klassenhass zutage, transportiert durch die hämischen Schlagzeilen gegen Strauss-Kahn.
Sie nannten ihn "pervers" und "schweinisch", erregten sich über seine teuren Anwälte und seine luxuriöse Behausung. Bei Berichten über US-Angeklagte ist so etwas selten ein Thema. "Nichts in Strauss-Kahns stratosphärischer Karriere hätte ihn darauf vorbereiten können", kritisiert James Wolcott in "Vanity Fair" die Medien.
Umso größer ist jetzt die Genugtuung. "Heute war ein gigantischer Schritt in die richtige Richtung", freut sich Strauss-Kahns Staranwalt Ben Brafman - und prophezeit: "Der nächste Schritt wird zur vollständigen Aufhebung der Vorwürfe führen."
Lügen und Widersprüche, Drogengeschäfte und Geldwäsche
Die völlig unerwartete Justizvolte deutete sich erstmals am Donnerstagabend an. Da meldete die "New York Times" (NYT), der die Staatsanwaltschaft exklusive Details gesteckt hatte, dass der Fall Strauss-Kahn "vor dem Zusammenbruch" stehe: Das Zimmermädchen des Hotels Sofitel, in dem sich der Franzose an der Frau vergangen haben soll, habe sich in Lügen und Widersprüche verstrickt und sei außerdem in Drogengeschäfte und Geldwäsche verwickelt.
Trotz des langen Feiertagswochenendes - am Montag ist US-Unabhängigkeitstag - treffen sich alle Seiten deshalb in der Kammer von Richter Obus, um das "Schlamassel", wie ein Insider es nannte, zu lösen. Staatsanwältin Joan Illuzzi-Orbon sagte, es gebe zwar eindeutige Beweise "für Geschlechtsverkehr" zwischen Strauss-Kahn und der 32-jährigen Frau aus Guinea. Doch Ermittlungen hätten neue Erkenntnisse über den "Hintergrund" der Klageführerin ergeben, die die "Stärke des Falls" beeinträchtigten. Man werde das Verfahren weiterführen, empfehle aber eine bedingte Aufhebung des Hausarrests.
Besagte Erkenntnisse führte die Staatsanwaltschaft in einem dreiseitigen Brief an die Verteidigung aus. So habe die Frau in ihrem Asylantrag aus dem Jahr 2004 gelogen. Demnach gab sie an, ihr Ehemann sei in Guinea ermordet worden - was offenbar nicht stimmt. Auch habe sie sich US-Steuervergünstigungen erschlichen.
Nach "NYT"-Informationen soll sie außerdem am Tag nach dem mutmaßlichen Vorfall mit einem inhaftierten Drogendealer telefoniert und in den vergangenen zwei Jahren rund 100.000 Dollar von mehreren Unbekannten überwiesen bekommen haben. Diese Angaben kamen allerdings weder in dem Brief noch am Freitag vor Gericht zur Sprache. Ken Thompson, der Anwalt der Frau, spricht erbost von "Lügen".
Warnung vor "voreiligen Rückschlüssen"
"So wie ich es verstehe, haben sich die Umstände des Falls aus Sicht aller Parteien tiefgreifend verändert", sagt Richter Obus nun bei der Sitzung, "und ich stimme dem zu." Er hebt Strauss-Kahns Hausarrest unter der Auflage auf, dass sein Reisepass einbehalten wird. Er darf sich also innerhalb der USA frei bewegen, kann aber nicht nach Frankreich zurückkehren. Trotzdem warnte Obus alle Beteiligten, aus der Wendung "voreilige Rückschlüsse zu ziehen".
Als alles gesagt und getan ist, dreht sich Strauss-Kahn - der eine festlich-silberblaue Krawatte trägt - zu seiner Frau Anne Sinclair um, die in einem weißen Sakko in der ersten Reihe sitzt. Sie verlassen hintereinander den Saal, ohne sich direkt anzublicken, geschweige denn zu umarmen oder auch nur anzufassen.
Kurz darauf entspinnt sich draußen vor dem Gericht ein groteskes Gefecht um die öffentliche Meinung. Hunderte Reporter haben sich aufgebaut und Dutzende Mikrofone an einen wackligen Ständer gebunden. Drei Helikopter schweben niedrig über der Szenerie, der Lärm ist ohrenbetäubend.
Als erstes treten Strauss-Kahns Verteidiger vor. "Dies ist ein glücklicher Tag für Dominique Strauss-Kahn", sagt Anwalt William Taylor. Ben Brafman sekundiert: Er habe immer schon vor überstürzten Urteilen gewarnt, "jetzt verstehen Sie sicher, warum". Er halte es für "höchst angebracht", dass all dies am Vorabend des Unabhängigkeitstages geschehe.
Wut auf die Staatsanwaltschaft
Ken Thompson, der Anwalt der Frau, nimmt seine Mandantin vehement gegen die Vorwürfe in Schutz. Er kündigt an, dass sie sich demnächst persönlich der Presse stellen werde. Es bleibe dabei, das Strauss-Kahn versucht habe, sie zu vergewaltigen: "Es stimmte an dem Tag, als es passierte, und es stimmt heute noch." Widersprüche in ihren Aussagen seien mit Angst und Verwirrung zu erklären.
Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Brief an Strauss-Kahns Anwälte erklärt, dass die Frau eingeräumt habe, vor der Grand Jury gelogen zu haben. Ursprünglich hatte sie behauptet, sie sei in das Treppenhaus geflüchtet und habe dort gewartet. Erst als der Franzose das Stockwerk verlassen habe, sei sie zu ihrem Chef gegangen und habe von einer versuchten Vergewaltigung berichtet, so ihre erste Aussage.
"Die Klägerin hat zugegeben, dass diese Angaben falsch waren, dass sie nach dem Vorfall in Suite 2806 einen nahe gelegenen Raum säuberte und dann zur Suite zurückkehrte und begann, auch diese zu putzen", heißt es in dem Brief. Erst dann habe sie ihren Chef informiert.
Thompson wirft der Staatsanwaltschaft vor, den Fall und seine Mandantin aufzugeben, aus Angst das Verfahren zu verlieren. Er erinnert an einen aktuellen Vergewaltigungsprozess, den Vance gegen zwei Polizisten angestrengt hatte: Die Cops wurden freigesprochen, weil die Geschworenen das mutmaßliche Opfer und Belastungszeugin als unglaubwürdig ablehnten.
"Bedenken an der Glaubwürdigkeit der anklagenden Zeugin"
Oberstaatsanwalt Vance, der seine Reputation an diesen Fall geknüpft hat, lässt sogar ein Pult mit seinem Amtssiegel vors Gerichtsgebäude auf die Straße schleppen, um seinen Worten Gewicht zu geben. Es gebe "Bedenken an der Glaubwürdigkeit der anklagenden Zeugin", räumt er ein. Sein Team werde aber weiter ermitteln, bis "alle relevanten Fakten" aufgedeckt seien: "Die Verteidigung der Rechte von Opfern sexueller Straftaten zählt zu den höchsten Prioritäten dieses Büros."
Ein frommer Wunsch, der Fall dürfte bald komplett kollabieren. Selbst wenn die Frau die Wahrheit sagt - ihre Aussage wird vor einem Geschworenengericht wenig zählen, wenn sie anderweitig als Lügnerin dargestellt werden kann.
Als Strauss-Kahn Anfang Juni angeklagt wurde, demonstrierten vor dem Gericht noch Hunderte Zimmermädchen: "Schäm dich! Schäm dich!" Ihre Rufe hallten bis in den Verhandlungssaal im 13. Stock hoch. Diesmal war da kein Laut zu hören: Niemand demonstrierte mehr.