Verteidiger im Mordfall Lübcke
Die erfundene Täterschaft des Markus H.
Der mutmaßliche Mörder Stephan Ernst hat drei Versionen präsentiert, wie Walter Lübcke zu Tode gekommen sein soll. Zu zwei Versionen wurden nun seine Anwälte vor Gericht befragt. Es waren ungewöhnliche Auftritte.
Angeklagter Stephan Ernst zwischen seinen Verteidigern Kaplan (l.) und dem inzwischen entpflichteten Hannig: "Rechte Subkultur"
Foto: Boris Roessler/ DPA
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, heißt es. Vor Gericht bedeutet das, dass nach der Enttarnung eines Lügners zumindest seine weiteren Aussagen mit offenkundiger Skepsis und Misstrauen beäugt werden. So auch im Fall Stephan Ernst, der drei Geständnisse ablegte: In Version 1 gab er an, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke allein getötet zu haben. In Version 2 war er angeblich Komplize von Markus H., der den CDU-Politiker erschossen habe. Und in Version 3 will er gemeinsam mit Markus H. am Tatort gewesen sein, aber selbst geschossen haben.
Die Bundesanwaltschaft hält Stephan Ernst, 46, für den Haupttäter: Für den, der in der Nacht zum 2. Juni 2019 Walter Lübcke mit einem Rossi Revolver Kaliber .38 auf dessen Terrasse getötet hat. Sie hat Ernst wegen Mordes angeklagt und seinen Kumpel Markus H. wegen Beihilfe zum Mord, weil er Ernst aufgehetzt haben soll. Die Spurenlage belegt bislang nicht, dass Markus H. am Tatort im hessischen Wolfhagen-Istha war.
Bei jeder seiner drei Einlassungen war Stephan Ernst von einem Anwalt beraten. Um herauszufinden, welche Tatversion nun stimmt und welche Rolle Markus H. tatsächlich spielt, kommt es im Oberlandesgericht Frankfurt am Main nun zu einem ungewöhnlichen Vorgang: Der Staatsschutzsenat bittet Mustafa Kaplan in den Zeugenstand - der Kölner Rechtsanwalt verteidigt Ernst im aktuellen Verfahren und unterliegt der Schweigepflicht. Sein Mandant hat ihn extra davon entbunden.
Kaplan zieht seine schwarze Robe aus und setzt sich im weißen Hemd mit weißer Krawatte in den Zeugenstand. Er schildert, wie es zu Geständnis Nummer 2 kam: Am fünften Verhandlungstag, dem 3. Juli, erhielt er von dem inzwischen entpflichteten Anwalt Frank Hannig um 8.42 Uhr eine WhatsApp-Nachricht mit dem Foto eines Zettels und dem Hinweis: "Wir lassen Ernst heute was sagen. Ich bringe ihm diesen Zettel, aber er spricht frei."
"Ich habe es erfunden"
Auf dem Blatt Papier stand, dass Ernst in der Justizvollzugsanstalt einen Anruf von seiner Ehefrau erhalten habe, die ihn gefragt habe, warum er so lange brauche, um zu gestehen. "Sag doch einfach, was passiert ist." Und Ernst sollte dem Gericht noch mitteilen: "Ich kann und werde alles erzählen. Das bin ich der Familie Lübcke schuldig. Ich muss darüber nachdenken. Bitte verstehen Sie, dass ich Zeit brauche."
Kaplan habe seinen Kollegen gefragt, ob es solch ein Telefonat tatsächlich gegeben habe. Hannig habe verneint. "Ich habe es erfunden", soll der Anwalt gesagt haben. Und zwar so, wie er auch das Geständnis Nummer 2 erfunden habe.
Staunen im Saal 165. Der Vorsitzende Thomas Sagebiel rutscht auf seinem Stuhl nach vorne, lehnt sich auf die Richterbank: "Hat Ihnen Herr Hannig gesagt, welche Elemente seine Erfindung sind?" - "Ja", sagt Kaplan, "die Erfindung sei, dass Markus H. die Waffe in der Hand gehabt und sich aus Versehen ein Schuss gelöst habe." – "Auch, dass Herr H. am Tatort war?", hakt Sagebiel nach. – "Das war keine Erfindung." – "Also, er hat Herrn H. nicht komplett dorthin erfunden?" – "Nein, das nicht."
Das würde bedeuten: Rechtsanwalt Hannig kannte Version 3 (Stephan Ernst erschießt Walter Lübcke im Beisein von Markus H.) und konstruierte daraus Version 2 (beide Angeklagte am Tatort, aber Markus H. ist der Schütze). Aber warum? Hannig habe damit eine Aussage von Markus H., der bislang schweigt, provozieren wollen, sagt Kaplan.
Kaplan sagt, er habe sich gewundert, dass Hannig die Lüge "so eingeräumt" habe. "In einem Strafverfahren darf man lügen", habe Hannig gesagt. "Der Angeklagte, ja, aber nicht der Anwalt", habe Kaplan erwidert. Stephan Ernst trug letztendlich nichts von dem Zettel vor. Kaplan sagt, er habe es verhindert. Die Idee mit dem Zettel, die erfundene Täterschaft des Markus H. – das dürfte den Umstand beschleunigt haben, der sich wenige Wochen später realisierte: die Entpflichtung Hannigs als Verteidiger. Er soll demnächst ebenfalls als Zeuge gehört werden.
Der erste Verteidiger bekam einen anonymen Anruf
Wie es zu Geständnis Nummer 1 kam, dazu befragt der Senat an diesem Verhandlungstag wiederum Ernsts ersten Verteidiger: Dirk Waldschmidt, 55, einst einer der führenden Aktivisten der hessischen NPD und stellvertretender Landesvorsitzender. Ein Mann, der aussieht wie seine eigene Karikatur und der zu den bundesweit bekannten Szeneanwälten gehört. Waldschmidt - von kleiner Statur, mit Brille und breitem Kreuz - verdient sein Geld hauptsächlich damit, durch die gesamte Republik zu tingeln, um Rechtsextremisten zu verteidigen. Er erscheint im karierten Anzug und im Beisein eines Anwalts.
Riet er Ernst zu einem falschen Geständnis? Drängte er ihn, Markus H. nicht zu belasten? Versprach er Ernst im Gegenzug finanzielle Unterstützung für die Familie?
Stephan Ernst behauptet, Waldschmidt habe ihm Geständnis Nummer 1 empfohlen: Er solle die ganze Schuld auf sich nehmen und Markus H. bewusst außen vor lassen. Im Gegenzug würde seine Familie geschützt werden. In einer Befragung im Auftrag der Bundesanwaltschaft sagte Waldschmidt, er habe Ernst nie zu einem Geständnis geraten. Im Gegenteil: Er will aus dem Radio davon erfahren haben, obwohl er ihn am Tag vor dem Geständnis, das Ernst ohne anwaltlichen Beistand ablegte, noch in der Justizvollzugsanstalt besucht hatte.
"Rechte Subkultur"
Ernst behauptet auch, Waldschmidt habe ihm eingebläut, dass er sich mit den Falschen angelegt habe: Man werde ihn fertig machen, ihn "verrotten" lassen. Ernst, dessen DNA an Walter Lübckes Hemd sichergestellt wurde, habe nur eine Chance: den Ehrenkodex einhalten – und Markus H. raushalten. Dann würden ihn Leute, mit denen Waldschmidt in Kontakt sei, unterstützen, sich um seine Familie und das noch nicht abbezahlte Haus kümmern. Auch das bestreitet Waldschmidt.
Vor Gericht geht es zunächst darum, wer Waldschmidt überhaupt beauftragte, Stephan Ernst zu verteidigen. Waldschmidt spricht von einem anonymen Anruf. Danach habe er einen sogenannten Sprechschein für ein Anbahnungsgespräch beantragt, sich ins Auto gesetzt und sei 170 Kilometer in die JVA Kassel gefahren.
Der Senat interessiert sich für den Anrufer. Waldschmidt kann nur einen Hinweis geben: "Niemand, den ich in der rechten Subkultur einordnen würde, das würde nicht von der Sprache passen."
Waldschmidts Ausführungen, ins Blaue hinein, ohne Aktenkenntnis zu einem potenziellen Mandanten zu fahren, der zum damaligen Zeitpunkt offiziell einen Pflichtverteidiger beigeordnet hatte, ergeben wenig Sinn. Ebenso die Ausführungen Stephan Ernsts, die er Waldschmidt gegenüber gemacht haben soll: Ernst habe seine Unschuld beteuert, einen Alibizeugen benannt und den Verfassungs- oder Staatsschutz im Verdacht, seine DNA absichtlich am Tatort platziert zu haben. Beim Mord um Walter Lübcke sei es zudem "um Immobiliengeschäfte mit der albanischen Mafia" gegangen.
"Ich bin stolz auf meinen Papa"
Der Senat vertagt die Befragung Waldschmidts nach einer Stunde in den November, bis dahin soll auch Stephan Ernsts Ehefrau ihn von der Schweigepflicht entbinden.
Der Tag endet mit dem von Markus H. gedrehten Handyvideo, das im Gerichtssaal vorgespielt wird. Es zeigt Walter Lübcke am 14. Oktober 2015 im Bürgerhaus von Lohfelden bei Kassel, als er über die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in einem leer stehenden Baumarkt informiert. Der CDU-Politiker spricht von einer "weltweit großen Unruhe" und einer "globalisierten Welt", in der politisch verfolgte Menschen Zuflucht suchen. Man hört im Video, wie Stephan Ernst ruft: "Wer erarbeitet das? Wer bezahlt das?"
Es ist die Veranstaltung, nach der die rechtsextreme Szene Walter Lübcke zum "Volksverräter" erklärte. Seine Familie sitzt im Gerichtssaal und muss ertragen, wie der Vater und Ehemann für einen kurzen Moment zum Leben erwacht. Als der Wachtmeister wieder das Licht einschaltet, drückt Jan-Hendrik Lübcke den Knopf seines Mikrofons und sagt mit ergriffener Stimme: "Ich bin stolz auf meinen Papa. Und mit allem, was er gesagt hat, hat er recht."