Vorfall in Volkmarsen "Ein trauriger Tag"

Einsatzkräfte in Volkmarsen
Foto: ELMAR SCHULTEN/ AFPSchon als Kind war ich auf dem Rosenmontagsumzug in Volkmarsen. Die ganze Kleinstadt lebt den Karneval. Hier ist man stolz auf den eigenen Karnevalsruf "Schurri". In der närrischen Zeit herrscht hier einfach nur der Ausnahmezustand.
Eigentlich lebe ich seit vielen Jahren nicht mehr in Nordhessen. Aber ich bin in Breuna aufgewachsen, fünf Kilometer von Volkmarsen entfernt. Noch immer verbinden mich viele Freundschaften mit dieser Region, meine Eltern leben hier. Ich bin oft zu Besuch.
Auch an diesem Rosenmontagnachmittag bin ich zufällig in Volkmarsen. Ich will eigentlich nur kurz in die Apotheke, eine Salbe kaufen. Auf dem Hinweg überholt mich plötzlich ein Krankenwagen nach dem anderen, wir fahren in die gleiche Richtung. Ich weiß noch nicht, was passiert ist. Dass gerade ein Auto während des Rosenmontagsumzugs in eine Menschenmenge gerast ist. Dass rund 30 Menschen verletzt wurden, darunter viele Kinder. (Lesen Sie hier, was bislang über den Vorfall in Volkmarsen bekannt ist.)
Als ich am Tatort ankomme, ist das Schreckliche gerade erst einige Minuten her. Die Polizei errichtet einen Sichtschutz um den Tatort. Hubschrauber kreisen über der kleinen Innenstadt. Es treffen weitere Krankenwagen ein.
Narren hinter Flatterband
An der Ecke zum Rewe stehen kostümierte Volkmarser hinter Flatterband. Der Schock ist ihnen ins Gesicht geschrieben, sie haben ihre Narrenkappen mit den bunten Federn tief in ihre Gesichter gezogen. Die Gruppe der Medienvertreter wird mit jeder Minute größer und reicht bald schon bis an das Absperrband. Überall auf dem Boden verstreut liegen die Reste des Karnevalsumzugs, Konfetti, Kostümfetzen, ein kaputter Bollerwagen.
Ich hatte mich, wie alle anderen hier, auf ein paar fröhliche Tage gefreut. Ich bin, wie alle anderen hier, nicht auf so einen Tag vorbereitet. In der vergangenen Woche saß ich in der Redaktion im Newsroom von SPIEGEL.de, als die schrecklichen Meldungen aus Hanau eintrafen und die Kollegen nach Hessen geschickt wurden, um darüber zu berichten. Nun passiert ein schlimmes Unglück direkt vor der Haustür meiner Eltern und Freunde.
"Ich wollte nur feiern"
Nach wenigen Minuten ist der Akku meines Handys leer. In einer wenige Meter vom Tatort entfernten Pizzeria finde ich ein Ladegerät und treffe auf bekannte Gesichter aus meinem Heimatdorf. Die rund 30 Menschen hier sind alle kostümiert. Sie sitzen zusammen an den Tischen und reden über das Unbegreifliche. Die meisten sind keine unmittelbaren Augenzeugen des Geschehens und fühlen sich doch irgendwie so. "Ich wollte heute nur feiern, jetzt sitzen wir hier. Wie kann man so etwas nur machen?", fragt eine Besucherin. "Ich habe gehört, die ganze Stadt ist abgeriegelt. Sie lassen niemanden mehr rein und raus." In der Pizzeria ist der Schrecken groß. Immer wieder bekommen die Besucher neue Informationen über Verletzte und den mutmaßlichen Täter über WhatsApp geschickt.
Schnell macht ein Foto des potenziellen Täters die Runde. Handys werden herumgereicht. Das Foto zeigt einen jungen Mann. Er soll selbst aus Volkmarsen stammen. Eigentlich kennt hier jeder jeden, wie das in einer Kleinstadt so ist. Aber diesen Mann kennt hier niemand. Eine junge Frau, die als Biene Maja verkleidet ist, erzählt mir, dass sie gesehen habe, wie der silberne Mercedes ganz bewusst die Polizeiabsperrung umfahren habe und dann mit hoher Geschwindigkeit in die Menschenmenge gerast sei. Aber die meisten sahen das Auto wohl erst im allerletzten Moment, da alle in die entgegengesetzte Richtung blickten - dorthin, wo der Festumzug stattfinden sollte.
Karneval ohne "Schurri"
Dann sei alles ganz schnell gegangen. Passanten sollen versucht haben, die Türen des Wagens zu öffnen und den Täter aus dem Auto zu ziehen.
In den anderen Kneipen des Ortes zeigt sich ein ähnliches Bild. Aus den Boxen dudeln Karnevalhits, doch tanzen will hier niemand mehr. Viele sind betrunken. Aber nicht aus Freude. "Schurri" ruft hier heute keiner. Am Abend bekomme ich die Nachricht, dass auch eine mir bekannte Frau aus meinem Heimatdorf unter den Opfern sein soll. Es ist ein trauriger Montag für Volkmarsen.