Mordfall Walter Lübcke Ein rechtes Rätsel

Der mutmaßlich rechtsextrem motivierte Mord an Walter Lübke beschäftigt die Republik. Ermittler suchen nach möglichen Komplizen. Was ist bekannt über die Tat und die Hintergründe? Ein Überblick.
Mordopfer: Porträt von Walter Lübcke bei der Trauerfeier in Kassel

Mordopfer: Porträt von Walter Lübcke bei der Trauerfeier in Kassel

Foto: Swen Pförtner/Pool/AFP

Ein mutmaßlicher Neonazi soll den CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet haben. Die offenbar tiefe Verstrickung des Tatverdächtigen in rechtsextreme und militante Kreise wirft viele Fragen auf, die weit über den Kriminalfall hinausreichen. Was ist der Stand der Ermittlungen, wie reagieren Politiker und Sicherheitsbehörden? Der Überblick.

  • Die Tat

Ermittlern zufolge wurde Walter Lübcke in der Nacht zum 2. Juni gegen 0.30 Uhr aus nächster Nähe niedergeschossen. Der Regierungspräsident von Kassel wurde wenig später mit einer Schusswunde am Kopf auf der Terrasse seines Wohnhauses im hessischen Wolfhagen-Istha entdeckt. Der 65-Jährige kam in ein Krankenhaus, wo er wenig später starb.

Die Ermittler gehen davon aus, dass Lübcke aus rechtsextremen Motiven heimtückisch ermordet wurde. Der als liberal geltende CDU-Politiker war in den vergangenen Jahren mehrfach Anfeindungen von rechts ausgesetzt (mehr darüber erfahren Sie hier).

  • Das Opfer

Walter Lübcke war CDU-Politiker und zuletzt Chef des Regierungspräsidiums in Kassel - einer Behörde mit etwa 1200 Beschäftigten, die zwischen Landkreis und Landesregierung angesiedelt ist und im wesentlichen Entscheidungen der Wiesbadener Landesregierung ausführt.

Liberaler CDU-Politiker: Walter Lübcke (Archivfoto)

Liberaler CDU-Politiker: Walter Lübcke (Archivfoto)

Foto: Uwe Zucchi/DPA

Einiges deutet darauf hin, dass Lübcke wegen seiner Haltung in Fragen der Asylpolitik zum Opfer wurde. Der CDU-Politiker hatte sich 2015 auf einer Informationsveranstaltung gegen Schmährufe gewehrt und für Menschlichkeit geworben: "Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen", sagte er.

In den Wochen und Monaten danach wurde Lübcke zum Ziel zahlreicher Anfeindungen, zwischenzeitlich stand der Regierungspräsident seinem Sprecher zufolge unter Polizeischutz. Die Hetze ebbte schließlich ab - bis die frühere CDU-Abgeordnete Erika Steinbach, die heute der AfD nahesteht, im Februar dieses Jahres auf Facebook einen Blogeintrag postete, der Lübckes Äußerungen aus dem Jahr 2015 thematisierte.

Zum dritten Mal wurde Lübcke schließlich in den vergangenen Wochen zum Ziel von Wut und Entrüstung: Nach seinem Tod gab es im Internet hasserfüllte und hämische Reaktionen von Rechten.

  • Der Tatverdächtige

Hauptverdächtiger in dem mutmaßlichen Mordfall ist Stephan E., 45. Der Deutsche, der bis zu seiner Festnahme am vergangenen Samstag mit Frau und Kindern in einem Wohngebiet in Kassel lebte, ist laut Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang bereits seit den Achtzigerjahren im rechtsextremen Milieu aktiv. 1993 soll er mit einer Rohrbombe eine Asylbewerberunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenroth angegriffen haben.

Unscheinbares Wohnviertel: Das Haus der Familie E. im Osten von Kassel

Unscheinbares Wohnviertel: Das Haus der Familie E. im Osten von Kassel

Foto: Uwe Zucchi/DPA

Nach SPIEGEL-Informationen war er zudem im Umfeld der hessischen NPD aktiv - und hatte Kontakt zu Neonazis aus der militanten Gruppierung "Combat 18", die unter anderem in Verbindung mit "Blood and Honour" stand - jenem Netzwerk, das auch dem "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) half. E. war überdies Thema im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss, der die regionale Szene beleuchtete. Das Gremium führte ihn als "gewaltbereiten Rechtsextremisten".

Darüber hinaus fiel E. mehrfach wegen Gewaltdelikten, Verstößen gegen das Waffengesetz, Eigentumsdelikten sowie gemeingefährlicher Straftaten auf. Wegen einer Attacke von Rechtsradikalen auf eine Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Dortmund im Jahr 2009 wurde er wegen Landfriedensbruchs zu sieben Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

E., der laut Angaben von Anwohnern mit seiner Familie seit etwa 14 Jahren ein Haus im Osten von Kassel bewohnt, galt in seinem Umfeld als unscheinbarer Nachbar. In dem Schützenklub, dem E. seit zehn Jahren angehört haben soll, erlebte man ihn als "ganz ruhigen, unauffälligen Typ". E. war dem Vereinsvorsitzenden zufolge für die Bogenabteilung zuständig, habe aber keine Waffenbesitzkarte und keinen Zugriff auf die Waffen des Vereins gehabt - von denen fehle auch keine.

"Ein ganz ruhiger Typ": Vereinsheim des Schützenclubs 1952 Sandershausen in Niesetal

"Ein ganz ruhiger Typ": Vereinsheim des Schützenclubs 1952 Sandershausen in Niesetal

Foto: ARMANDO BABANI/EPA-EFE/REX

Nach Angaben des Bundesamts für Verfassungsschutz war E. in den vergangenen Jahren weniger deutlich als früher als Rechtsextremist aufgefallen. Seit den Achtziger- und Neunzigerjahren sei er auf dem Radar des Verfassungsschutzes gewesen, zuletzt sei er aber "eher in den Hintergrund der Beobachtung getreten".

  • Die Ermittlungen

Zwei Wochen nach der Tat zog am Montag die Bundesanwaltschaft den Fall an sich. Die verfolgt in der Regel Taten terroristischer Vereinigungen - islamistische Terrorzellen etwa, oder die "Gruppe Freital", den NSU. Ermittlungen gegen Einzeltäter wie Stephan E. kann die Behörde dann übernehmen, wenn dem Fall eine "besondere Bedeutung" zukommt. Das ist hier der Fall.

Video: Statement der Bundesanwaltschaft

SPIEGEL ONLINE

Der Bundesanwaltschaft zufolge sicherten die Polizisten im Haus der Familie E. umfangreiches Beweismaterial, darunter Computer, Smartphones und Unterlagen. Ob die Auswertung dieser Gegenstände neue Erkenntnisse ergeben hat, ist nicht bekannt. Zu den aktuellen Vorwürfen hat sich E. bislang nicht geäußert.

Die Hintergründe seien noch nicht vollends aufgeklärt, und die Behörden ermittelten in alle Richtungen, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Man müsse davon ausgehen, dass es sich um einen rechtsextremen Täter und um einen rechtsextremen Hintergrund der Tat handele. Das lege die Biografie des Verdächtigen nahe.

Die Tatwaffe wurde dem Bundeskriminalamt (BKA) zufolge bislang nicht gefunden. Die Erkenntnisse über Stephan E. seien zudem älterer Natur und stammten nicht aus jüngerer Vergangenheit, sagte BKA-Präsident Holger Münch. Verfassungsschutzpräsident Haldenwang sagte, als Tatmotiv könne derzeit nichts ausgeschlossen werden. "Ob er allein gehandelt hat oder Teil eines Netzwerks ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar."

Zuletzt war bekannt geworden, dass es Hinweise auf mögliche Komplizen gibt. Unter anderem soll laut Berichten von "Süddeutscher Zeitung", NDR und WDR im Haftbefehl gegen Stephan E. von Hinweisen auf mögliche Mittäter die Rede sein. Über konkrete Personen, die als Mitwisser oder Unterstützer in Betracht kommen könnten, ist bislang nichts bekannt.

  • Die Konsequenzen

Seehofer wertete den Fall als Zeichen für einen moralischen Verfall in der Gesellschaft. Der Rechtsextremismus sei eine "erhebliche Gefahr für unsere freiheitliche Gesellschaft." Sein Ministerium habe einen "intensiven Blick darauf", sagte Seehofer, und weiter: "Ein rechtsextremer Anschlag auf einen führenden Repräsentanten unseres Landes ist ein Alarmsignal und richtet sich gegen uns alle."

Video: Innenminister Seehofer über den Fall Lübcke

SPIEGEL ONLINE

Selbstkritisch äußerte sich Verfassungsschutzpräsident Haldenwang. "Angesichts der Dimension der Bedrohung des Rechtsextremismus können wir noch nicht sagen, dass wir die Bedrohung beherrschen", sagte er.

Vor einer unveränderten Bedrohungslage warnen auch Wissenschaftler. "Die nächsten 12 bis 18 Monate werden besonders gefährlich", sagte etwa der Rechtsextremismusforscher Gideon Botsch dem "Tagesspiegel". Als Risikofaktor nannte Botsch eine von Frust geprägte rechte Szene, da die Aufmerksamkeit für Protestbewegungen wie Pegida gesunken sei.

Es sei "wahrscheinlich, dass mit dem Abflauen der Aufmerksamkeit für solche Gruppen die terroristischen Akte zunehmen werden", sagte Botsch. Bis Mitte 2018 hätten diese Gruppen einen politischen Umsturz propagiert. Das habe nicht funktioniert, und der Frust darüber könne nun einige Zellen weiter radikalisieren: "Da hat die AfD deutlich mitmarkiert, da hat Pegida mitmarkiert. All diese Kräfte, die sich offiziell von Gewalt distanzieren, haben sehr deutlich zur Hetze beigetragen."

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund forderte Meldestellen für angefeindete Mandatsträger - auch um mögliche rechtsextreme Netzwerke aufzudecken. "Von dieser Meldestelle aus soll dann eine zentrale Verfolgung in Gang gesetzt werden", sagte Geschäftsführer Gerd Landsberg der "Neuen Osnabrücker Zeitung": "Wer sich für die Allgemeinheit einsetzt und damit Verantwortung für unser Land und die Demokratie übernimmt, sollte auch besonders geschützt werden."

Politiker aus allen im Bundestag vertretenen Parteien verurteilten die Tat und forderten eine konsequente Aufklärung des Falls. Die Vorsitzende des Innenausschusses stellte eine Sondersitzung in Aussicht, zu der Vertreter des Innenministeriums, des BKA, des Verfassungsschutzes sowie des Generalbundesanwalts erwartet würden, sagte die CSU-Politikerin Andrea Lindholz der "Rheinischen Post".

Im hessischen Landtag beantragten die Fraktionen von SPD und FDP ebenfalls eine solche Sondersitzung. "Wir sind sehr irritiert darüber, dass wir alles der Presse entnehmen und nicht die Informationen direkt vom Innenminister erhalten", sagte die SPD-Innenpolitikerin Nancy Faeser. Die Fraktionen wollen herausfinden, welche Informationen zum Tathintergrund vorlagen und ob Stephan E. den Verfassungsschutzbehörden bekannt war.

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