Prozess um Lübcke-Mord
Und wenn noch jemand aus dem Haus gekommen wäre?
Im Prozess um den Mord an Walter Lübcke stellt der Anwalt der Hinterbliebenen dem mutmaßlichen Mörder Fragen. Sie setzen Stephan Ernst zu, in einem Punkt bleibt er aber erschreckend kalt.
Angeklagter Ernst mit Verteidigern: Fragen der Hinterbliebenen beantwortet
Foto: POOL / REUTERS
Blasser als an den bisherigen Verhandlungstagen kann Stephan Ernsts Miene nicht sein. Und doch betritt er an diesem Tag den Gerichtssaal mit auffallend aschfahlem Gesicht, als sei ihm noch elender zumute als ohnehin schon. Es ist der Tag, an dem die Familie Lübcke hofft, Stephan Ernst werde "reinen Tisch" machen. Er werde ihnen Antworten geben auf Fragen, was genau in der Nacht auf den 2. Juni vergangenen Jahres passiert ist. So hat es ihr Sprecher Dirk Metz formuliert.
In jener Nacht wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen-Istha mit einem Kopfschuss getötet. Stephan Ernst, wegen Mordes vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main angeklagt, hat im Prozess eingeräumt, den CDU-Politiker erschossen zu haben. Das sei "falsch, feige und grausam" gewesen, sagte Ernst, bereits im Juli habe er über seinen Verteidiger Mustafa Kaplan dem Anwalt der Familie, Holger Matt, ausrichten lassen, er werde alle "ungeklärten, offenen Fragen" beantworten.
Hinterbliebene Irmgard Braun-Lübcke mit den Söhnen Jan-Hendrik und Christoph sowie Anwalt Holger Matt
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Die Familie hat viele Fragen. Holger Matt sitzt zwischen der Witwe Irmgard Braun-Lübcke und den Söhnen Christoph und Jan-Hendrik. Alle vier blicken geradeaus, direkt zur Anklagebank. Vorn sitzt Markus H., angeklagt wegen Beihilfe zum Mord. Schräg hinter ihm Stephan Ernst, seine Unterarme ruhen auf dem Tisch, seine rechte Hand umschlingt das Mikrofon.
Matt fragt zunächst im Stakkato: Wurde die Tat bereits im April 2019 gemeinsam geplant? Wurde konkret und gemeinsam vorbereitet, man werde Walter Lübcke in Istha, zur Nachtzeit, bei Dunkelheit, während der Kirmes überfallen? Hat man zur Erfüllung des gemeinsamen Tatplans falsche Kennzeichen und andere Vorbereitungen getroffen? Ja, sagt Stephan Ernst. Ja. Ja.
Ob es weiterhin sein Standpunkt sei, dass die Tat "falsch, feige, grausam" gewesen sei, fragt Matt. Ja, sagt Stephan Ernst, auf jeden Fall. Hat er sich vor der Tat nie Gedanken gemacht, was der Tod Walter Lübckes für die Familie bedeuten würde, welcher Verlust es wäre für die Kinder, die Enkelkinder, die Ehefrau? Stephan Ernst wirkt angezählt, er schluckt. Nein, habe er sich nicht gemacht, sagt er.
Hat er sich Gedanken gemacht, dass Walter Lübcke selbst als Mensch, als Vater, als Ehemann das Leben noch leben wollte? Stephan Ernst erstarrt. Sekundenlange Stille im Saal. Er drückt den Knopf am Mikrofon, mit Tränen in der Stimme fragt er, ob er kurz mit seinem Anwalt sprechen könne. Kurz darauf räuspert sich Stephan Ernst: "Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht."
Die Befragung dauert fast zwei Stunden. Holger Matt stellt auf die Beihilfe des Mitangeklagten Markus H. ab: Wie hat er Stephan Ernst manipuliert, radikalisiert, aufgehetzt?
Überlebenstrainings und Bewaffnung
Die Manipulation sei mit den Waffen einhergegangen, sagt Stephan Ernst. Markus H. schleppte ihn demnach zum Schießen in den Wald und schürte die Angst vor einem Bürgerkrieg, der nur eine Frage der Zeit sei. Dabei habe man über die "Zustände in diesem Land" gesprochen, wem man sie zu verdanken habe ("den Politikern") und das man "aktiv" werden, "was machen" müsse. Nicht nur einmal habe man darüber gesprochen, Walter Lübcke aufzuhängen oder ihm eine Kugel in den Kopf zu schießen.
Die Radikalisierung beschreibt Ernst als eine Mischung aus alten Ansichten, als er noch in der rechten Szene Kassels mitmischte - System verändern, Regierung stürzen, neues "Drittes Reich" gründen -, gepaart mit Überlebenstrainings und Bewaffnung, um "dieses Land vor der vermeintlichen Überfremdung zu schützen".
Die Familie des ermordeten Regierungspräsidenten folgt Ernsts Antworten regungslos. In der Reihe hinter ihnen: die Vertreter des Generalbundesanwalts, der Ernst und Markus H. vorwirft, sie wollten durch die Ermordung Walter Lübckes "ein öffentlich beachtetes Fanal gegen die gegenwärtige staatliche Ordnung" setzen.
"War Frau Merkel ein Hassobjekt für Sie beide, kann man das so sagen?"
Anwalt Matt zu Angeklagtem Ernst
Auch darauf zielen viele Fragen der Familie ab. Markus H. soll zu Schießübungen eine Zielscheibe mit Angela Merkels Konterfei mitgebracht haben. "War Frau Merkel ein Hassobjekt für Sie beide, kann man das so sagen?", fragt Anwalt Matt. Ja, das könne man so sagen, antwortet Stephan Ernst. "Hat das auch mit Hass auf die Flüchtlingspolitik von Frau Merkel zu tun und mit Hass auf Flüchtlinge?" Flüchtlinge hätten sie als "Teil der Politik" gesehen, der Deutschland zerstören und die nationale Opposition aufbringen sollte, sagt Ernst.
Es geht um den ersten rechtsterroristisch motivierten Mord an einem Politiker in der Bundesrepublik, und es wird einmal wieder deutlich, dass Walter Lübcke, der sich in der Flüchtlingskrise 2015 für die Unterbringung von Asylsuchenden einsetzte, für Rechtsextremisten wie die beiden Angeklagten ein Symbol war für eine Politik, die sie verabscheuten und die sie anwiderte.
Stephan Ernst gibt zu, dass Merkels Politik, aber auch Lübckes Einsatz nahezu täglich Thema für ihn gewesen sei: bei der Arbeit, in Chatgruppen, bei AfD-Stammtischen. In seinen und Markus H.s Plan, Walter Lübcke zu überfallen, will er niemanden eingeweiht haben. Ob es über Markus H. Mitwisser gebe, wisse er nicht, sagt Ernst.
Im Schutz der Kirmes
Walter Lübcke saß an jenem Abend in Freizeitkleidung in einem Gartenstuhl, rauchte eine Zigarette und las in seinem Smartphone. Lärm und Musik der Kirmes im Ort wehten auf die Terrasse vor dem frei stehenden Haus. Die perfekte Geräuschkulisse für einen Überfall mit Schusswaffe ohne Schallschutzdämpfer - woher aber wussten die Täter, dass sie zu später Abendstunde den Politiker dort antreffen würden?
Das sei Zufall gewesen, behauptet Stephan Ernst. Sie hätten weder Informanten gehabt noch gewusst, ob die Familie einen Hund hat, der möglicherweise bei ungebetenem Besuch anschlägt. Auch wussten sie angeblich nicht, wer außer Walter Lübcke nebst Ehefrau in dem Haus lebte.
Damals wohnte dort auch einer der Söhne mit seiner schwangeren Frau. Matt, der Anwalt der Familie, fragt: "Was wäre gewesen, wäre jemand aus dem Haus auf die Terrasse gekommen? "Die Befürchtung hatten wir schon", gibt Stephan Ernst zu. "Das Risiko sind wir eingegangen, es sollte ja alles schnell gehen."
Matt lässt nicht locker. "Was hätten Sie denn gemacht? Hätten Sie den- oder diejenige auch erschossen?" Stephan Ernst bleibt erschreckend kühl. "Das kann ich nicht sagen, was wir dann gemacht hätten."
Für die Familie sei dieser Prozesstag "sehr schmerzlich" gewesen, gibt der Sprecher der Lübckes am Nachmittag bekannt. Erneut seien die schrecklichen Details aus der Tatnacht zur Sprache gekommen, dennoch seien die "vertiefenden Erläuterungen des Geständnisses" relevant für das Verfahren. Für die Familie stehe nun fest, dass die beiden Angeklagten die Tat "aus ihrem Hass heraus seit Langem gemeinsam geplant" haben.