

Weihnachten 2020 Oh, Verzeihung!


Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet
Foto: Henning Kaiser / dpaEntschuldigung!
Jetzt ist Weihnachten. Das große gemeinsame Ziel des Jahres ist erreicht. Oder war es das etwa gar nicht? Immerhin 28.000 Mitbürger haben es nicht erreicht, die an der Seuche Covid-19 gestorben sind, begleitet vom Geschwätz einiger Hunderttausend Menschenfreunde, die ihnen nachriefen, irgendwann müsse halt jeder sterben, man solle nicht so am Leben hängen, 82 Jahre seien doch genug, an Darm- und Brustkrebs stürben ja noch mehr, an Influenza seien auch schon viele gestorben, und man müsse halt auch einmal Opfer bringen. Besonders das Letztere scheint gerade die nicht zu überzeugen, die es besonders laut sagen.
Am 23. Dezember nun hat Herr Laschet aus Düsseldorf angefangen, sich bei mir und Ihnen zu entschuldigen. Er hat gesagt, dass die Politik viele Fehler gemacht habe. Dafür möchte er sich gern bei allen Bürgern entschuldigen, ganz besonders vielleicht bei den Delegierten des CDU-Parteitags vom Januar. Man weiß nicht so recht, ob und wann die Politik Herrn Laschet erlaubt hat, sich für ihre Fehler zu entschuldigen, und wenn ja, für welche, und wer die Politik eigentlich ist. Vielleicht meint Herr Laschet einen Fehler, den er selbst gemacht hat; das könnte ja sein. Gerade der Rheinländer ist bekanntlich nicht unfehlbar und steht auch dazu, wie man an Kardinal W. aus Köln sieht, der allerdings noch nicht angefangen hat, sich für eigene Fehler zu entschuldigen, sondern mit dem Verzeihen der Fehler einiger seiner lieben Brüder ausgelastet ist. Da ist ihm aber jetzt die investigative Presse hart auf den Fersen (»Druck wächst«). Ich bin gespannt, ob er an Karneval noch auf den virtuellen Prinzenwagen darf. Es ist doch immer wieder ein erhebendes Gefühl, wenn man einen findet, der nichts gewusst hat und sich richtig schämen muss.
Damit sind jetzt wir wieder beim zerknirschten Herrn Laschet und der Frage, welchen möglicherweise amtshaftungsbegründenden Fehler er uns mitteilen möchte im Angesicht des nahenden Heils (Biontech/Pfizer). Vorerst fiel ihm nur ein, dass viele alte Leute auf Intensivstationen und in Pflegeheimen einsam sterben mussten. Nun ja: Da kann er sich auch gleich für das schlechte Wetter im November entschuldigen. Da geht der Herr Bundespräsident doch ganz anders und viel positiver ran. Kein Wunder: Wer es schafft, sich nicht bei Herrn Kurnaz zu entschuldigen, lässt sich durch asymptomatische Hobby-Virologen nicht ins Bockshorn jagen.
Im Übrigen hätte ich »die Politik« sowieso nicht als Hauptverantwortliche für den Ausfall von Familientreffen auf Intensivstationen im Verdacht gehabt. Soweit ich weiß, starben die meisten, die auf Intensivstation starben, auch vor Corona schon ohne das frohe Singen der Enkel am Ohr. Wenn man dem Klingklang des »einsames Sterben«-Liedes lauscht, meint man herauszuhören, dass es da doch meist eher um die Einsamkeit der Überlebenden als um die der Sterbenden geht.
Was sollen inhalts- und folgenlose Entschuldigungen so unkörperlicher Wesen wie »die Politik«? Das greift letztens bedenklich um sich; vermutlich hat irgendeine Coaching-Firma sich das ausgedacht, oder ein Berater von Joe Biden. Nun gut, so lange Laschet und Merz nicht in kurzen Hosen auf die Bühne joggen oder am Pult ein paar Kniebeugen machen, geht's ja noch. Im Übrigen aber könnten sich auch gleich noch die Medizin und die Theologie entschuldigen, außerdem die Globalisierung, die Chinesen, die Sozialpsychologie, Österreich sowieso, und so weiter. Umgekehrt sollten sich dann auch alle Bürger bei der Politik entschuldigen. Sie hat es ja schließlich gut gemeint. Verzeih, Politik!
Das Jahr des Opfers
Dies bringt mich auf den Gedanken, dass wir das Jahr 2020 zum Jahr des Opfers ernennen und in Erinnerung behalten sollten. Hierfür scheint mir das Weihnachtsfest der geeignete Zeitpunkt, schon weil ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung Deutschlands sich dieses gegenseitig als sogenanntes »besinnliches« wünschen und, wie sie behaupten, die leibhaftige Ankunft ihres Schöpfergottes auf Terra erwarten. Nebenbei gefragt: Sagt eigentlich Kardinal W. aus K. irgendetwas zur Frage gottgesandter Plagen im Zusammenhang mit dem Virus an sich und im Speziellen? Oder ist das irgendwie blasphemisch zu fragen? Gibt es spezielle Virenbekämpfungstipps im Koran? Sollte man nicht den Darlegungen der Propheten und Heiligen zur Pestilenz breiteren Raum geben als Herrn Ballwegs lustigem Start-up?
Wer zu Weihnachten 2020 noch keine Aufnahme in einer anerkannten Opferpopulation mit persönlichem Entschuldigungsanspruch gefunden hat, der hat den Lauf der modernen Welt noch nicht verstanden oder will es am Ende gar nicht. Mehr Opfer als Coronadeutschland 2020 geht doch wirklich nicht mehr! Opfer sind: Die Eltern (überlastet), die Großeltern (einsam), die Kinder (unbeschult), die Kranken (traurig), die Gesunden (Kurzarbeit), die Unternehmer (illiquide), die Arbeitnehmer (arm), die Wirte (pleite) und ihre Gäste (unbefeiert), Hoteliers (leer) und Hallenbäder (trocken), die Klubs (leer) und ihre Clubster (single), die Ärzte (schlaflos), Pflegekräfte (entkräftet) und Patienten (vertröstet), die Lehrer (überfordert) und Schüler (dummgeblieben). Selbstverständlich Autofahrer (immer), Steuerzahler (siehe zukünftige Generationen), Krankenkassen (sorgenvoll), Versicherte (abgezockt), Meinungshabende (unterdrückt), Demonstrierende (unverstanden), Kita-Tanten (in Quarantäne) und Dreijährige (sinnsuchend), Lufthansapiloten (geparkt) und Passagiere (unerholt). Man könnte bis zum Kolumnenende noch ein paar Seiten so weitermachen, aber für einen ersten Eindruck soll das reichen. Niemand, glaube ich, ist so begeistert Opfer wie die Deutschen. Höchstens noch die AfD.
Das Opfer möchte eigentlich nicht Opfer sein. Allerdings heutzutage oft nur unter der Bedingung, dass auch niemand anderes Opfer ist oder jedenfalls keinen Opferausweis zwecks freiem Parken in der Fußgängerzone kriegt. Nicht aus Solidarität, sondern im Gegenteil: Da die Opferposition seit ein paar Jahrzehnten mit exorbitant hohem Sekundärgewinn selbst dann verbunden ist, wenn gar kein Primärverlust eintritt, ist es die hohe Kunst der Selbstvergewisserung, zugleich ganz unbeeinträchtigt und schwer verletzt, zugleich ganz klein und riesengroß, zugleich komplett ohne Verantwortung und der Allerwichtigste zu sein. Die Politik, derweil, entschuldigt sich schon mal, und Frau Weidel grimassiert ganz besonders aggressiv und verächtlich, weil überhaupt niemand ein so außerordentlich kenntnisreiches und intelligentes Opfer ist wie sie, außer vielleicht noch ein paar herausragende Kräfte von der Moralfront.
Jedenfalls muss man schauen, dass man sich beizeiten einer Opfergruppe anschließt, gern auch zweien oder dreien. Dabei geht es selbstverständlich auch um Geld, also die übliche Vergesellschaftung der gott- oder naturgegebenen Lebensrisiken, besonders der des Mittelstands! Aber auch unabhängig davon besteht ein drängendes Bedürfnis, nicht ungetröstet abseits zu stehen, wenn um einen her die ganze Welt in die Betrachtung ihrer Wunden versunken ist und vorne Herr Laschet steht und sich entschuldigt.
Corona hat, was das Opfergefühl betrifft, ja auch neue Perspektiven und Chancen gebracht: »Jung, gesund, genug Geld und massenhaft Freizeit« ist eine Opferbeschreibung, von der frühere Geschlechter nur träumen konnten. Und auch die tränentreibende Konstellation »zwei Spitzendverdiener im Homeoffice, zwei Kinder, spanisches Kindermädchen« hätte noch vor 60 Jahren keine Reportage mit dem Titel: »Wie halten Sie das aus?« veranlasst. Schon zweimal nicht in Urlaub geflogen? Autokauf verschoben? Kurzarbeit? Neuer Kreditbedarf trotz Basel III? Kein Kunde weit und breit in der Event-Branche? Ja, es stimmt: Eine Seuche ist ein harter Schlag für viele einzelne und für eine Gesellschaft als Ganze. Dass fünf Prozent von 80 Millionen in eine abwegige Psychokrise verfallen und sich mental aufs Jüngste Gericht vorbereiten, ist überdies sehr anstrengend und nervend, allerdings auch seit 10.000 Jahren normal und erwartbar. Solange vorne nicht ein Betrüger und Volltrottel steht und nach seinen Proud Boys ruft, geht es ja noch.
Nachrichtenlage
Deshalb meine ich, man müsste es jetzt vielleicht einfach mal gut sein lassen mit dem Klagen und Mäkeln. Das betrifft sicher nicht alle, denn manche haben tatsächlich allen Grund dazu: Die Kranken, die Hinterbliebenen, die Arbeitslosen und Insolventen. Das sind aber, aus Sicht der Gesellschaft, keineswegs »wir alle«. Es sind Menschen, denen es wesentlich schlechter geht als dem Kolumnisten und den meisten seiner Leser. Letzteres sollte man, finde ich, einmal täglich mittels Schlagzeile dem Land mitteilen: Wir leben, den meisten geht es gut, wir schaffen das.
Was sollte daran falsch sein? Was mir seit zehn Monaten wirklich auf die Nerven geht, ist die Larmoyanz der routinierten Mäkelei und die hämisch-denunziatorische, vorgeblich »kritische« Berichterstattung, die sich leider oft in einer bloßen Pose erschöpft, einer Simulation dessen, was als »kritisches Hinterfragen« gelten soll. Dieser Vorwurf richtet sich natürlich dahin, wo die Quelle der Jammer-Kommunikation sich als Quell der Rationalität und Erkenntnis gibt: »Die Presse«, »die Medien«. Warum auch nicht? Nicht alles, was kurz zusammengefasst ist, ist deshalb gleich undifferenziert, pauschal und ahnungslos.
Über das Strafen: Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft
Preisabfragezeitpunkt
22.01.2021 07.30 Uhr
Keine Gewähr
Können Sie, so fragt die TV-Journalistin den Minister, zu 100 Prozent ausschließen, dass die neue Virusvariante schon in Deutschland ist? Nein, sagt der Minister, natürlich nicht. Hätte man nicht früher vorsorgen sollen?, fragt die Journalistin. Hinterher ist man immer schlauer, sagt der Minister, wie hätte man denn vorsorgen sollen? Hätte man nicht die Grenzen früher schließen müssen, fragt die Journalistin. Ja, vielleicht, sagt der Minister. Aber ließe sich das Virus denn durch eine Grenzschließung überhaupt aufhalten?, fragt die Journalistin. Nein, natürlich nicht, sagt der Minister. Sind die Beschränkungen des Reiseverkehrs dann nicht falsch?, fragt die Journalistin. Nein, sagt der Minister. Wie wollen Sie den Fernfahrern denn erklären, dass sie Weihnachten im Stau stehen müssen?, fragt die Journalistin. Man kann nicht alles vorher wissen, sagt der Minister. Aber ist nicht das die Aufgabe der Politik?, fragt die Journalistin. Die Aufgabe ist nicht, das Unmögliche zu können, sagt der Minister. Stehen genug Finanzhilfen bereit?, fragt die Journalistin. Ja, sagt der Minister. Aber ist es nicht unseriös, so viele Schulden zu machen?, fragt die Journalistin. Was sollen wir denn sonst tun?, fragt der Minister. Wie lange wird das noch so weitergehen?, fragt die Journalistin. So lange, wie es sein muss, sagt der Minister. Vielen Dank, Herr Minister, sagt die Journalistin. Die Politik, meine Damen und Herren, ist ratlos. Kann sich der Minister noch lange halten? Vielen Dank, Sender!
Nun folgt die Reportage: Wie traurig ist der Thomanerchor, dass er dieses Jahr nicht gemeinsam singen darf? Sodann die Investigativserie: Warum wurden überflüssige Masken bestellt? Folge zwei: Wieso sind zu wenig Masken da? Teil drei: Warum Masken nichts nützen. Teil vier: Neue Gefahren durch Maskenverzicht. Teil fünf: Wie die Wissenschaft versagt. Teil sechs: Ja was denn nun? – Verwirrung um Masken.
Zwischendurch: Reportagen über die Depressionen im Bestattungsgewerbe, über die Einsamkeit von Nachtschwestern, über die Chancenlosigkeit von Kindern aus armen Familien, über die Corona-Lage bei der Bahnhofsmission Münster i.W. Erlebnisberichte: Wie ich depressiv war. Warum jetzt so viele Suizide passieren. Was das Schlimmste an der Einsamkeit ist. Wie jungen Menschen die Lebenschancen wegbrechen. Wie Gastwirten der Schnitzelverkauf wegbricht. Wie den Theatern die Kunst wegbricht. Wie die Spaltung der Gesellschaft sich vertieft. Zu Weihnachten, Titelseite: »Skifahren spaltet die Schweiz«.
Alles gut. Der Dauer-Paniksound ist halt sehr ermüdend und auch sinnlos, denn kaum eine der Meldungen hat die Kraft, die Welt zu verstehen oder verständlich zu machen. Es kann mir, ehrlich gesagt, niemand weismachen, dass ganz Deutschland in tränenreichen sogenannten Depressionen, Sodbrennen und posttraumatischen Belastungsstörungen versinke, weil im Dezember 2020 das Verspeisen von Babyputen, Lachsforellen und Spritzgebäck plus der Kleine Lord so schrecklich einsam und die Media-Märkte geschlossen sind. Deshalb sollten die Präsidenten und Großtröster aufhören, in dieses Geklage noch mehr Tremolo, Pomade und Vanillezucker hineinzurühren.
Die Pressemedien jeder Art erzeugen im Durchschnitt noch mehr als vor Corona den Eindruck, als seien sie für sich selbst und um ihrer selbst willen da. Es gibt so viel hervorragende Qualität und Begabung dort! Sie wird verplempert und vergeudet im Strom von Zeug, für dessen Produktion Intelligenz und Gebildetheit nicht nützlich, sondern hinderlich ist. Die Leitmedien versuchen, sich der Internetkommunikation anzupassen. Das ist irgendwie folgerichtig, aber vermutlich ein Fehler. Aber das nur mal am Rande. Ich kann das nur aus der Besucherperspektive beurteilen; andere wissen viel mehr darüber.
Gute Zeit!
Zum illuminatorischen Fest der Wintersonnenwende also von mir ein paar total unmitleidige Tipps: Mal den Rücken gerade machen. Mal ein bisschen erwachsen gucken. Mal überlegen, was man selbst alles hätte besser machen können. Mal drei Tage nicht darüber reden, wer was falsch gemacht hat. Mal eine Woche nicht darüber nachdenken, was man als Nächstes kaufen sollte. Mal abwarten. Mal diszipliniert sein. Sich mal anstrengen, ohne dass es jemand merkt. Mal aus dem Fenster schauen und sich freuen! Mal jemandem sagen, dass man ihn gern hat. Abstand halten. Schöne Feiertage!