Weiss-Buch "Marco hat sich die Probleme von der Seele geschrieben"
Hamburg - "Ich bin Marco W., W. wie Weiss, mit Doppel-S, mein Nachname. Ich bin ein ganz normaler Junge, der unbeschwert aufwuchs, und ich dachte, dass mein Leben so unbeschwert weitergehen würde. Welch ein Irrtum! Denn ich habe Schlagzeilen gemacht. Mein Foto ist um die Welt gegangen. Der SPIEGEL hat eine Titelgeschichte über mich gedruckt. Ich habe einen diplomatischen Konflikt zwischen Deutschland und der Türkei ausgelöst, habe die Kanzlerin und ihren Vizekanzler beschäftigt, habe Millionen Deutsche mit meinem Schicksal berührt. Tausende unterschrieben Petitionen, beteten für mich in Kirchen, zündeten Kerzen an oder standen sogar bei Nacht vorm Brandenburger Tor in Berlin."
Ein Jahr ist es her, dass Marco Weiss aus der Türkei zurück nach Deutschland kam, nach 247 Tagen Untersuchungshaft, nach einem Jahr, in dem er Schlagzeilen machte. Der damals 17-Jährige soll im Türkeiurlaub mit seinen Eltern in der Nacht vom 10. auf den 11. April 2007 die damals 13 Jahre alte Britin Charlotte sexuell missbraucht haben. Aus einem verkorksten Abend wurde eine verhängnisvolle Affäre, aus einem Urlaubsflirt ein Politikum und schließlich der Justizfall des Jahres.
"Wenn ich das überlebe, schreibe ich ein Buch"
Marco hat die Vorwürfe von Anfang an bestritten, dennoch saß er quälend lange in türkischer Untersuchungshaft. Angela Merkel schaltete sich ein und EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn wandte sich mit einer deutlichen Botschaft an Ankara: Man werde das Verhalten der türkischen Justiz genau beobachten.
Der Fall der angeblich versuchten Vergewaltigung wurde hochgespielt zum Prüfstein für den Rechtsstaat Türkei.
Nun veröffentlicht ein kleiner Hamburger Verlag Marcos Geschichte als Buch. Der Titel: "Marco W. - Meine 247 Tage im türkischen Knast". Auf 200 Seiten beschreibt der aus Niedersachsen stammende Jugendliche, was sich aus seiner Sicht in jener Aprilnacht abgespielt hat und was er in den darauf folgenden Monaten im türkischen Gefängnis erlebte.
"Marco hat sich die Probleme von der Seele geschrieben", sagt Carlos Schumacher, Inhaber des Hamburger Kinderbuch Verlags SPIEGEL ONLINE. Der Arzt hatte sich während Marcos Gefangenschaft an dessen Familie in Uelzen gewandt - weil er schon in der Vergangenheit viel mit traumatisierten Kindern zu tun hatte. Aus der Haft hatte Marco seiner Familie demnach ein Fax geschickt. Dessen Tenor laut Schumacher: "Wenn ich das hier überlebe, schreibe ich ein Buch."
Nachdem Marco im Dezember 2007 zu seiner Familie zurückgekehrt war, wandte er sich an den Verleger. Im Frühjahr 2008 begannen die Arbeiten an dem Projekt. Auf die Frage, wer das Buch geschrieben habe, sagt Schumacher: "Marco." Einen "Ghostwriter" habe es nicht gegeben, das Projekt sei jedoch von Willi Schmitt, dem ehemaligen Chefredakteur der Zeitschrift "Sport-Bild", begleitet worden. Schmitt habe Marco aber lediglich auf die Stellen hingewiesen, die es zu vertiefen gegolten habe.
Die Anwälte sind "völlig überrascht"
"Marco hat Schmitt sehr viel erzählt, er ist für ihn zu einem echten Freund geworden", sagt Schumacher. Das Buch treffe allerdings den "Originalton" und die Sprache des 18-Jährigen. "Obwohl es natürlich auch einzelne Sätze gab, die man so nicht abdrucken konnte." Immer wieder hat das Manuskript vor seiner Veröffentlichung juristische Instanzen durchlaufen, so wurde beispielsweise aus "Bier zischen", "Bier trinken".
Das Buch erscheint am morgigen Freitag, weil die Familie Marcos nach Angaben Schumachers "fest damit gerechnet hatte, dass Marco bei dem Gerichtstermin am Mittwoch freigesprochen werden würde". Stattdessen vertagte das Gericht die Verhandlung jedoch einmal mehr.
So kommt das Werk auf den Markt, obwohl das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Marcos Verteidiger reagierten umgehend: Anwalt Matthias Waldraff legte sein Mandat nieder. "Ich habe stets versucht, Schaden von Marco und dem Prozess in Antalya abzuwenden", sagte er. Mit dem Erscheinen des Buches während des laufenden Verfahrens sehe er keine Möglichkeit mehr, in diesem Sinne zu wirken. Zwar habe man von dem Buchprojekt gewusst, der Zeitpunkt der Veröffentlichung habe ihn und seine Kollegen jedoch "entsetzt" und "völlig überrascht".
Dagegen bleibt Michael Nagel auf ausdrücklichen Wunsch des Jungen Marcos Anwalt. Gemeinsam mit den beiden türkischen Anwälten wolle er weiter um Marcos Recht kämpfen, teilte Nagel mit. Die Motive von Marco seien nachvollziehbar und verstehbar. "Das Schreiben dieses Buches ist für die seelische Verarbeitung des Erlebten sinnvoll und notwendig." Offensichtlich habe Marco aber nicht über daraus entstehende mögliche Konsequenzen zu Ende gedacht. Nagel bezeichnete den jungen Mann als schutzbedürftig und rät ihm von öffentlichen Auftritten bis zur Beendigung des Verfahrens ab.
Marcos türkischer Anwalt Mehmet Iplikcioglu warnte davor, in dem Buch das türkische Gericht zu kritisieren. Eine solche Kritik könne als Versuch der Beeinflussung eines laufenden Verfahrens ausgelegt werden.
Experten gehen jedoch nicht davon aus, dass die Veröffentlichung Auswirkungen auf das Verfahren in der Türkei haben wird. Die Einmischung der Bundesregierung zu Beginn des Verfahrens habe im Vergleich mehr geschadet, sagte der Politologe Dirk Halm vom Zentrum für Türkeistudien in Essen.
"Er hatte Sorge, wie die Gesellschaft ihn aufnimmt"
Laut Schumacher beschreibt Marco in dem Buch Phasen des Verfahrens, die "in Deutschland so kaum denkbar wären" und die ihn sehr bewegt hätten. Unter anderem sei ein Staatsanwalt während der Verhandlung eingeschlafen.
"Das Buch verfolgt zwei Ziele: Marco wollte sich die Last von der Seele schreiben, insofern verfolgt das Buch einen therapeutischen Zweck. Das zweite Ziel war, dass Marco sich bei den Menschen, die ihn während der schwierigen Zeit unterstützt haben, bedanken wollte", sagt der Verleger, der in den vergangenen Monaten engen Kontakt zu Marco hatte. "Vorrangig ist, dass er nicht noch zerbricht. Ich erlebe ihn als sehr angespannt, nervös und unsicher."
Wichtig sei aber nicht nur das Schreiben des Buches, sondern auch die Reaktionen der Leser. Vor seiner Rückkehr nach Deutschland habe Marco große Angst gehabt, als "Vergewaltiger" stigmatisiert zu sein. "Er hatte Sorge, wie die Gesellschaft ihn aufnimmt."
"Oft ist Marco sehr in sich gekehrt und nachdenklich. Aber das Schreiben ist ihm im Laufe der Zeit immer leichter gefallen", sagt Schumacher. Es habe ihm dabei geholfen, die Traumatisierung zu überwinden.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung hänge nicht mit dem Weihnachtsgeschäft zusammen, sondern sei durch den erwarteten Freispruch begründet gewesen. Wenn man für die Publikation das Urteil hätte abwarten wollen, "dann hätte das unter Umständen noch lange dauern können", sagt der Verleger. Marco selbst habe kein bedingungsloses Vertrauen, dass die türkische Justiz ihn freispricht.
Der türkische Anwalt des mutmaßlichen Opfers Charlotte hat angekündigt, das Buch auf belastende Details hin prüfen zu wollen: "Vielleicht müssen neue Beweise in den Fall eingebracht werden", sagte Ömer Aycan.
mit Material von dpa und AFP