Prozess gegen Weizsäcker-Attentäter "Die Tat war mein Lebensinhalt"

Gregor S. erstach im November Fritz von Weizsäcker bei einem Vortrag in der Berliner Schlossparkklinik. Vor dem Kriminalgericht erklärt er sich in wirren Worten zum Rächer des vietnamesischen Volkes.
Im Glaskasten: Der Angeklagte Gregor S. am zweiten Prozesstag vor Gericht

Im Glaskasten: Der Angeklagte Gregor S. am zweiten Prozesstag vor Gericht

Foto: imago images/Olaf Wagner

Gregor S., hat für seinen Auftritt vor Gericht etwas vorbereitet, er will eine schriftliche Erklärung vorlesen. Dafür darf S. den Glaskasten verlassen, in dem im Saal 700 des Berliner Kriminalgerichts oft die Angeklagten sitzen. Schmal und graugesichtig steuert Gregor S. den Platz zwischen seinen beiden Verteidigern an, er lässt einen Stoß eng beschriebenen Papiers auf den Tisch fallen.

"Es war mir klar, dass man mich für krank erklären würde", setzt er an, "schon aus Gründen der Staatsräson. Immerhin habe ich den Sohn des einstigen Bundespräsidenten getötet."

Am 19. November 2019 stürzte sich Gregor S., 57 Jahre alt und Lagerist bei Amazon, in der Berliner Schlossparkklinik mit einem Messer auf Fritz von Weizsäcker, der dort als Chefarzt der Abteilung Innere Medizin einen Vortrag über die Leber hielt. S. durchstach Weizsäckers Luftröhre und Halsschlagadern, laut Anklageschrift aus allgemeinem Hass gegen die Familie Weizsäcker und unter dem Einfluss einer psychischen Erkrankung. Kann man ihn trotzdem verantwortlich machen für seine Tat?

Man brachte ihn in die Psychiatrie - aber er will ins Gefängnis

"Warum gilt der rechtsextreme Täter von Halle als voll schuldfähig - und ich nicht?", empört sich Gregor S. Nach der Tat brachte man ihn in die Psychiatrie. Aber er will ins Gefängnis. Aus seiner Sicht hängt ja alles klar zusammen: Wie er 1991 im SPIEGEL einen Artikel gelesen haben will, demzufolge die Firma Boehringer Ingelheim 1967 einen Baustoff für das Entlaubungsmittel Agent Orange in die USA geliefert habe.

Wie er selbst, Gregor S., vom Wissen um das Leid der Vietnamesen traumatisiert worden sei. "Ein Trauma, vergleichbar mit dem von KZ-Überlebenden", sagt Gregor S. vor Gericht. Er war niemals in Vietnam und sei auch nicht in Berührung gekommen mit dem Entlaubungsmittel. Aber er sei nicht mehr weggekommen von dem, was den Menschen in Vietnam widerfahren sei. Er sei Zwangsneurotiker, wasche sich zigmal am Tag die Hände, ekle sich vor allem. Jahrelang habe er Hilfe gesucht, beim Hausarzt, beim Psychiater, Sozialarbeitern, Mitarbeitern des Arbeitsamts. "Dabei waren die Vietnamesen ja viel stärker betroffen als ich."

Und Richard von Weizsäcker, der bis 1966 in der Geschäftsführung von Boehringer Ingelheim war, sei auch in dem Artikel vorgekommen. "Die SPIEGEL-Reportage hat mich damals erschüttert", sagt Gregor S. "Wie man mit einer solchen Schuld leben kann!" Seither habe er die Opfer rächen wollen, all die Toten in Vietnam, die verletzten und kranken Kinder.

Attacke bei einem Tennisturnier

Ein Versuch, den Bundespräsidenten selbst bei einem Tennisturnier zu attackieren, sei kläglich gescheitert. Dann, während eines Urlaubs in Thailand der Schock, als die BILD-Zeitung den Tod des ehemaligen Bundespräsidenten auf der Titelseite hatte: "Davon habe ich mich erst Wochen später erholt."

Danach habe er seine Aufmerksamkeit auf die Familie des Bundespräsidenten gerichtet, erklärt S. Ihnen habe er das gleiche Leid zufügen wollen, das die Eltern der kranken vietnamesischen Kinder erdulden mussten.

Gegenüber von Gregor S. sitzt Beatrice von Weizsäcker, die Schwester des Getöteten. Auch sie wurde von Gregor S. ausspioniert: "An ihr hat mich gestört, dass sie hohe Ämter beim Evangelischen Kirchentag hatte", sagt Gregor S. Beatrice von Weizsäcker macht sich Notizen, ohne aufzusehen, und auch Gregor S. würdigt sie keines Blickes.

Gregor S. kommt noch darauf zu sprechen, dass er als junger Mensch mal seinen Arzt attackierte. Und vor ein paar Jahren seinen Hausverwalter, dafür saß er in Untersuchungshaft. "Peinlich" sei das, nicht zu vergleichen mit dem Fanal, das er nun gesetzt habe. "Damit habe ich mich ja positioniert."

Vor der Tat ging er noch zum Frisör

"Erzählen Sie doch mal, wie es konkret zur Tat kam", fordert der Vorsitzende Richter Matthias Schertz Gregor S. nach dem gut einstündigen Vortrag auf. S. legt in sachlichem Ton dar: Wie er Fritz von Weizsäckers Vortragstermine auf seinem Computer recherchierte, wie er zuvor seine Wäsche wusch, zum Friseur ging, sich rasierte, das Klappmesser kaufte - und ein Bahnticket. Andernach-Berlin. Hin- und Rückfahrt.

"Wozu das Rückfahrtticket?" fragt Matthias Schertz. "Ich wusste nicht, ob ich in der Lage sein würde, die Tat zu begehen, sagt S. "Ich hab' mir das ja alles viel schwieriger vorgestellt. Aber dann hab' ich vor Ort gesehen, das ist machbar."

"Ich hab' hier den SPIEGEL-Artikel von damals",  sagt Richter Schertz und wedelt mit dem Papier: "Hier steht, Richard von Weizsäcker war Geschäftsführer und Mitinhaber, zuständig für Personal und Steuern. Haben Sie sich mal die Frage gestellt, inwieweit damit zwingend eine Verantwortung verbunden ist, was Agent Orange betrifft?"

Gregor S. denkt kurz nach: "Ich kann auch zwischen den Zeilen lesen. Wenn er unschuldig gewesen wäre, hätte er die Zeitung verklagen können. Hat er aber nicht."

Warum den Sohn töten, wenn der Vater, der getroffen werden soll, schon tot ist?

"Was macht es für einen Sinn, den Sohn zu töten, wenn der Vater, der getroffen werden soll, schon tot ist?", fragt Richter Schertz. Da kommt Gregor S. wieder ins Schwadronieren. Er spricht über den evangelischen Kirchentag, die Armut der Vietnamesen, die Familie Weizsäcker, die Firma Boehringer Ingelheim, die Schuld auf sich geladen habe. "Aber jetzt sind wir bei Fritz von Weizsäcker", unterbricht ihn Schertz. "Der hat ja nicht in der Firma gearbeitet. Haben Sie sich mal Gedanken über das Verhältnis Vater-Sohn gemacht?"

"Ich bin traumatisiert", sagt Gregor S. "Wenn man traumatisiert ist, geht man nicht mehr so ins Detail. Er habe ja auch nicht gewusst, dass Fritz von Weizsäcker eine siebzehnjährige Tochter hatte.

"Was hätte denn das geändert?", fragt Anwalt Roland Weber, der die zwei minderjährigen Kinder Weizsäckers in dem Verfahren vertritt. "Dann hätte ich die Tat nicht begehen können", sagt Gregor S. "Ich hätte das bereut."

"Bereuen Sie die Tat denn jetzt?", fragt der Vertreter der Nebenklage. "Nein", sagt Gregor S. "Ich war in einer aussichtslosen Lage. Wenn ich es jetzt nicht gemacht hätte, wäre ich eingegangen. Die Tat war mein Lebensinhalt. Alles andere war unbedeutend."

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