Rockerprozess Mord mit Ansage

Acht Schüsse in fünf Sekunden: Der Mord an Tahir Özbek in einem Berliner Wettbüro glich einer Hinrichtung. Kameras zeichneten alles auf, die verdächtigen Hells Angels gingen hinterher Burger essen. Das Multimediaspezial zum Prozessauftakt.
Foto: SPIEGEL TV

Am 10. Januar dieses Jahres stürmte ein gutes Dutzend Hells Angels in ein Wettcafé im Berliner Stadtteil Reinickendorf. Im hinteren Raum erschießt einer von ihnen ohne Vorwarnung den 26-jährigen Tahir Özbek. Sechs Kugeln treffen den jungen Mann aus kurzer Distanz.

Offenbar sollte an Özbek ein Exempel statuiert werden. Ein Exempel, das in seiner Brutalität selbst für Berlins Kriminalgeschichte ziemlich einzigartig ist. Der Fall erzählt viel über Rockerehre und ein Milieu, in dem nur das Recht des Stärkeren zählt.

Wegen des Mordes an Tahir Özbek beginnt an diesem Dienstag der Prozess gegen elf Angeklagte, zehn von ihnen Rocker. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, "gemeinschaftlich aus niederen Beweggründen einen Menschen getötet zu haben".

Zu den Angeklagten gehört auch der Berliner Hells-Angels-Präsident Kadir Padir. Er soll, so steht es in der Anklageschrift, den Mord angeordnet haben. Die entscheidende Frage ist: Kann die Staatsanwaltschaft dem Rockerboss den Auftrag nachweisen?

DIE TAT

Als Tahir Özbek um kurz nach 20 Uhr im hinteren Raum des Wettcafés "Expekt" in der Berliner Residenzstraße an den Tisch tritt, ist er entspannt und fröhlich. Der kräftige junge Türke ist mit ein paar Freunden verabredet, sie wollen quatschen und vielleicht Karten spielen.

Seine Schutzweste, die er normalerweise immer trägt, wenn er rausgeht, hat er an diesem Abend zu Hause gelassen. Aber die 7.65 mm Zastava-Pistole hat er dabei - wie meistens, seit er gehört hat, dass ihm die Hells Angels nach dem Leben trachten.

Doch Özbek hat keine Zeit, seine Waffe zu ziehen, als der Angreifer drei Stunden später an seinen Tisch tritt. Alles geht ganz schnell: Acht Kugeln feuert der schwarzgekleidete Schütze in nur fünf Sekunden ab, sechs treffen Özbek in den Oberkörper.

Mehrere Überwachungskameras zeichnen den Angriff auf:

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Um 23:35 Uhr stellt der Notarzt den Tod von Özbek fest. Anhand der Bilder aus den Überwachungskameras gelingt es den Ermittlern rasch, Tatverdächtige auszumachen.

DER PROZESS

Eigentlich sollte die Hauptverhandlung schon Mitte Oktober beginnen, doch wegen eines Fehlers bei der Nachbenennung eines Schöffen musste der Auftakt verschoben werden.

Nun ist alles bereit für einen der größten Prozesse des Jahres: In der Mitte des Saales 500 des Landgerichts Berlin-Moabit wird kaum Platz sein. Zusätzliche Tische und Stühle müssen hereingeräumt werden, damit alle Angeklagten, Verteidiger und Nebenkläger Platz finden. In dem eichengetäfelten Saal wird der Vorsitzende Richter Thomas Groß wohl auch eine kleine ältere Frau bemerken: Semiha Özbek. Tahirs Mutter will als Nebenklägerin wissen, warum ihr Sohn sterben musste.

Der Prozess findet unter strengen Sicherheitsvorschriften statt. Die Angeklagten werden an den beiden Längsseiten des Saals hinter Panzerglas sitzen. Einer von ihnen, Kassra Z., Spitzname "Perser", wird erst nach den anderen Angeklagten hereingeführt werden. Für ihn gelten höchste Sicherheitsanforderungen, denn der 27-jährige Rocker ist Kronzeuge der Anklage.

DER KRONZEUGE

Der "Perser" spricht seit Mitte März mit Ermittlern des Landeskriminalamts (LKA), legt eine Art Lebensbeichte ab, packt als Kronzeuge gegen seine früheren Rockerbrüder aus. Für den zuständigen Staatsanwalt Sjors Kamstra ist klar, dass "der Zeuge sich in Lebensgefahr befindet". Der Mann habe gewusst, worauf er sich einlasse, er sei auf die Ermittlungsbehörden zugekommen, so Kamstra. "Bei Kronzeugen ist generell genau zu prüfen, ob die Angaben werthaltig und belastbar sind, denn Kronzeugen machen es nicht umsonst. Die wollen Vorteile erlangen durch ihre Aussage."

Kein Wunder, dass die Beschützer vom Mobilen Einsatzkommando (MEK) den Hartz IV-Empfänger, 1,80 Meter groß, kahlrasiert, kräftig und durchtrainiert, schon mal mit schusssicherer Weste zu seinen Aussagen bei der Mordkommission bringen. Oben unterm Dach den Gang runter, hinten links im Vernehmungszimmer stehen zwei Schreibtische, angeordnet im 90-Grad-Winkel. An einem tippt die Protokollantin, am anderen arbeiten die Ermittler. Z. und sein Anwalt sitzen mit dem Rücken zur Wand.

Der Zeuge der Anklage muss sein bisheriges Leben wohl aufgeben, denn auf Verrat steht bei Outlaw-Motorcycle-Gangs der Tod. Abstufungen gibt es nicht, die Welt der Rocker ist eingeteilt in Schwarz und Weiß, in Verrat und Loyalität. Und die Erzählungen von Z., die das Gericht würdigen muss, haben es in sich.

In seinen Aussagen bei der Polizei ordnet der "Perser" als erstes die Tatbeteiligten den Bildern der Überwachungskamera zu. Dann beschreibt er Rockerchef Kadir Padir als unumschränkten Herrscher seines Hells Angels Charters. In einem, möglicherweise entscheidenden Punkt, widerspricht er jedoch den Ermittlungen der Polizei. Von einem "Mordauftrag durch Padir" habe er nichts mitbekommen. "Kadir ist kein Doofer. Der würde sich nicht vor 30 oder 40 Leute stellen und sagen 'Bringt den mal um.'" In diesem einen Punkt will die Staatsanwaltschaft der Version von Z. aber keinen Glauben schenken. Die Strafverfolger sind sich sicher, er wolle nur seine Haut und die von ein paar Kumpels retten.

DIE VORGESCHICHTE

Kadir Padir (2012): Gefürchteter Rockerboss

Kadir Padir (2012): Gefürchteter Rockerboss

Foto: SPIEGEL TV

Warum musste Tahir Özbek sterben? Es geht, wie meistens in diesem Milieu, um verletzte Rockerehre, schiere Machtdemonstrationen und Rache.

Özbek und ein paar seiner Kumpels prügeln sich Mitte Oktober 2013 vor einer Diskothek mit Türstehern und Hells Angels. Messer und Teleskopschlagstöcke werden gezogen, ein Hells Angel muss verletzt ins Krankenhaus. Der Rocker gehört zu Kadir Padirs Leuten.

In einem Vermerk notieren LKA-Beamte: "Um seinen (Kadir Padirs) Ruf bzw. seinen Status zu wahren, erscheint aufgrund der szenetypischen Gepflogenheiten eine Racheaktion unvermeidbar." Wenig später berichtet eine Vertrauensperson (VP) der Polizei von einem Mordauftrag des Rockerchefs. So heißt es in einem Vermerk vom 29. Oktober 2013, also kurz nach der Auseinandersetzung vor der Diskothek, es wurde "über eine V-Person bekannt, dass der Beschuldigte Kadir Padir die Tötung des Tahir Özbek beauftragt hatte".

Seltsamerweise unternimmt das LKA damals nichts. Weder wird Özbek gewarnt, noch wird mit Kadir Padir eine sogenannte Gefährderansprache geführt. Erst durch Recherchen von SPIEGEL TV kommen die schweren Versäumnisse Wochen später an die Öffentlichkeit. Der zuständige Innensenator Henkel muss einräumen, dass "ein Kommissariat des Fachdezernats im LKA innerhalb weniger Tage vier Hinweise einer Vertrauensperson auf einen Mordauftrag gegenüber Tahir Ö." hatte. Es seien keine "angemessenen gefahrenabwehrenden Maßnahmen" ergriffen worden. Eine Bankrotterklärung für die Ermittler.

DER AUGENZEUGE

Ein weiterer und möglicherweise entscheidender Zeuge der Anklage ist Samir A. Der 31-Jährige saß in jener Nacht im Januar mit Özbek an einem Tisch, als das Kommando der Hells Angels hereinstürmte. "Tahir starb in meinen Armen", sagt A., der sich mittlerweile im Zeugenschutzprogramm befindet.

SPIEGEL TV trifft ihn im Westen Berlins. Samir A., szenetypisch mit schwarzer Jogginghose und Trainingsjacke bekleidet, ist nervös, raucht Marlboro. Nach eigenen Angaben traf er Kadir Padir vor dem Mordanschlag mehrmals im Reinickendorfer Kiez. Offenbar suchte der Rockerboss wegen der Disco-Schlägerei nach Özbek. "Ich weiß nicht, wo er ist. Solange ich lebe, werde ich ihn unter die Erde bringen", soll Padir gesagt haben. "Er hat massiv gedroht. Jedes mal", erinnert sich A. Er belastet den Rockerboss schwer:

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DAS GESTÄNDNIS

Die tödlichen Schüsse auf Tahir Özbek feuerte offenbar Recep O. ab. In einem selbstverfassten handschriftlichen Brief an die Staatsanwaltschaft räumt er seine Tat ein. Angeblich habe er die Waffe von Padirs Bruder Ersoy bekommen, um auf diesen aufzupassen. In dem dunklen Café habe er geglaubt, Tahir hätte eine Waffe.

"Er beugte sich nach links zur Wand hin runter und kam wieder hoch, und ich dachte, er hatte was in seiner rechten Hand", schreibt O. Er habe Panik bekommen. "Ich drückte so lange ab, bis keine Schüsse mehr fielen."

In dem Brief beschreibt O. die Tat nicht als Auftragsmord, sondern als seine alleinige Handlung. Nach den Schüssen, so Recep O., sei er kreuz und quer durch die Stadt gefahren und habe die Waffe irgendwo weggeworfen.

Die anderen mutmaßlichen Tatbeteiligten und auch Kadir Padir machten sich offenbar nicht solchen Stress. Kurz nach 2 Uhr am Morgen des 11. Januar trifft die Truppe bei Burger King im Prenzlauer Berg ein. Die Uhrzeit der Überwachungskamera stimmt nicht überein, weil nicht auf Winterzeit umgestellt wurde:

Mehr zum Rocker-Prozess in einer Sondersendung im SPIEGEL TV Magazin, 23. November, 22.45 Uhr. RTL.

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