Kälte, Glätte, Schnee Können wir Winter?

Zum ersten Mal seit langem herrscht in Europa "richtiger" Winter - und schon geht es drunter und drüber: Streusalz wird knapp, Boeings rutschen über Landebahnen, auf Englands Straßen stecken Hunderte Autofahrer fest. Haben wir Winter bereits verlernt?
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Wetter: Der Winter stellt Europa kalt

Foto: Mario Gentzel/ dpa

Hamburg - Die Freundin von Andrew Howard hatte eigentlich den schlimmsten Teil ihrer Einkaufstour hinter sich, als das Unglück passierte: Sie hatte ihr Auto erfolgreich über die eisglatten Straßen von Basingstoke im Süden Englands manövriert, einen Truthahn für das Weihnachtsessen im Kofferraum. Sie parkte den Wagen in der Garage neben dem Haus, stieg aus, schloss das Tor - und fiel so unglücklich, dass sie das Weihnachtsfest mit mehreren Knochenbrüchen im Krankenhaus verbringen musste.

Die Frau ist kein Einzelfall: Britische Krankenhäuser sind dieser Tage voll mit Menschen, denen Schnee und Eis zum Verhängnis wurden. Nicht etwa, weil sie Opfer schwerer Verkehrsunfälle wurden. Die meisten sind vielmehr auf Bürgersteigen und vor Hauseingängen ausgerutscht, gestolpert, haben sich zu Fuß verletzt.

Während Andrew Howard, Pressesprecher der britischen Automobile Association (AA) - dem Gegenstück zum deutschen ADAC - die Geschichte seiner Freundin erzählt, sitzt er allein in seinem Büro. Außer ihm ist heute nur ein anderer Kollege gekommen, alle anderen sind zu Hause geblieben. Eingeschneit. "Ich bin nur hier, weil ich zu Fuß zur Arbeit laufen kann. Es gibt die offizielle Anweisung, dass niemand sich auf die Straße begeben soll, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist."

Während Howard von den Zuständen im vom Winter gebeutelten Großbritannien erzählt, sind Hunderte seiner Landsleute noch immer auf den Straßen eingeschlossen von Eis und Schnee. Die Briten sind schlechtes Wetter gewöhnt, aber nicht derartige Kälte. Die Straßenwacht hat ausreichend Salz, um sechs Tage lang für freie Fahrt zu sorgen - nun friert und schneit es seit 20 Tagen.

"Das übersteigt die Vorstellungskraft der Menschen"

"Hier liegt mehr Schnee, als die meisten von uns in den letzten 30 Jahren gesehen haben. Ich bin 54 Jahre alt und so etwas habe ich noch nicht erlebt", sagt Howard SPIEGEL ONLINE. Das Wetter habe sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert, es sei "teuflisch" geworden. "Das, was wir derzeit erleben, übersteigt die Vorstellungskraft der Menschen."

Haben die Briten den Winter verlernt? Howard lacht. "Als Autofahrer müssten Sie mindestens 47 Jahre alt sein, um etwas Derartiges schon einmal auf den Straßen erlebt zu haben. Das kann man nicht erwarten." Und er hat einen treffenden Vergleich: "In München ist man besser auf Schnee vorbereitet als in Bonn - weil es in Bonn seltener schneit. Und ganz Großbritannien ist Bonn."

Für eine Strecke von vier Meilen mussten die Briten in den vergangenen Tagen schon mal sieben Stunden Fahrtzeit einplanen. Und ein Ende der Kälteperiode ist nicht in Sicht.

Sogar die sonst so ausgeglichenen Engländer würden angesichts des Wetters für ihre Verhältnisse ungehalten: "Wenn es keinen Wintereinbruch gegeben hätte, hätten sich die Menschen beschwert, warum wir so viel Streumittel einlagern, nun beschweren sie sich, dass man nicht ausreichend vorgesorgt hat. Es gibt Situationen, da haben Sie nur die Wahl zwischen falsch und falsch."

"Ich kann ein Lied von dem Unmut singen, und das hat viele Strophen"

Fragt man Joachim Pawellek vom Winterdienst der Technischen Betriebe der Stadt Leverkusen nach den Beschwerden der Bürger, erntet man ein höhnisches Lachen. "Eine? Tausende Beschwerden bekommen wir. Die Menschen, die in Seitenstraßen wohnen, meckern und zetern." Die weniger befahrenen Straßen werden wie hier in Nordrhein-Westfalen in vielen Kommunen nicht mehr geräumt. Das Salz ist knapp, es reicht schlicht nicht mehr für die ganze Stadt. "Ich kann ein Lied von dem Unmut singen, und das hat viele Strophen."

Die Lieferanten kommen nicht nach: Pawellek und seine Kollegen haben das Streugut vor Silvester bestellt, doch angekommen ist es noch immer nicht. In Leverkusen wartet man derzeit auf Streusalz aus Südeuropa. Doch schon der Zwischenhändler hat geschimpft, dass "die Italiener ihn hängen ließen". Nicht verwunderlich, haben die Italiener doch selbst mit dem Winterwetter zu kämpfen.

Die gestiegene Nachfrage schlägt sich im Preis nieder. Der hat sich fast verdoppelt: Pawellek musste vor dem Kälteeinbruch rund 55 Euro pro Tonne Streusalz löhnen, inzwischen verlangen einige Hersteller rund hundert Euro - und berufen sich unter anderem auf die längeren Transportwege. "Das ist schon ein bisschen happig. Aber was soll man machen, wenn man in Not ist?"

Hätten die Kommunen nicht besser vorsorgen können? "Wir hatten 600 Tonnen in den Silos eingelagert. Es wird immer erst nachbestellt, wenn ein Silo leer ist. Bestellt ist alles, das Problem liegt bei den Lieferanten."

Jedes Jahr auf's Neue kommt der Winter überraschend

Der Mann, der die Interessen der Lieferanten vertritt, bestätigt, dass die Nachfrage in den vergangenen Wochen gestiegen ist - doch eine Schuldfrage will er daraus nicht machen. Dieter Krüger, Sprecher des Verbands der Kali- und Salzindustrie, kennt das Prozedere. Alle Jahre wieder trudeln bei ihm die Anfragen ein, alle Jahre wieder hat es den Anschein, als handele es sich "um den ersten Winter, den Deutschland erlebt".

Natürlich rechtfertigten sich die Kommunen gegenüber der öffentlichen Kritik, und natürlich sei es auch schwer, die ausreichende Menge im Vorhinein abzusehen - und auch entsprechend vorzuhalten. Die Lagerung ist immerhin auch eine Frage der Kosten: je mehr Salz man auf Halde hat, desto höher sind die Fixkosten. "Wir müssen mit den weißen Flocken da draußen umzugehen lernen. Aber es braucht jedes Jahr aufs Neue eine Zeit der Gewöhnung."

Die Abnahme schwankt stark: Wurden 1992 etwa 600.000 Tonnen Streusalz verkauft, so waren es 2005 3,5 Millionen Tonnen. "Wie viel Salz wollen Sie da als Kommune bunkern?"

"Wenn Sie in Norwegen wohnen, dann wissen Sie, dass Sie drei Monate Winter und Schnee erwarten und dann können Sie da anders mit umgehen als in Deutschland. Uns ist es entweder zu heiß oder zu glatt. Wir mögen den Winter - aber nur solange kein Zug ausfällt, die Straßen verstopft oder glatt sind."

"So unverhofft wie Weihnachten"

In den Baumärkten werden Streusalz, Schlitten und Schneeschieber "deutschlandweit knapp", sagt Stefan Michell vom Bundesverband Deutscher Heimwerker-, Bau- und Gartenfachmärkte. "Es gibt einen regelrechten Run." Der Winter treffe die Deutschen jedes Jahr "so unverhofft wie Weihnachten".

Jahr für Jahr überrascht der Winter die Deutschen auch im Straßenverkehr aufs Neue. "Das ist unser Klassiker. Der Winter kommt jedes Jahr überraschend." Laut Maxi Hartung vom ADAC ist das große Chaos bislang ausgeblieben. Allerdings hat der Pannendienst zyklisch mit den gleichen Problemen zu kämpfen: "Wir veröffentlichen unseren Winterreifentest immer schon Ende September und raten den Leuten, sich zu kümmern." Danach passiert für gewöhnlich erst einmal gar nichts.

Die Leute warten, bis der erste Schnee fällt. Und stehen dann Schlange bei den Reifenhändlern. Jedes Jahr aufs Neue wird aufgeschoben, was geht. Der Tag, der die Aufschieberitis der Deutschen in diesem Winter symbolisiert, ist der 21. Dezember 2009. An jenem Montag rückte der ADAC 25.654-mal aus, durchschnittlich alle drei Sekunden.

In 90 Prozent der Fälle waren Startprobleme der Grund. Mit anderen Worten: eine altersschwache Batterie. Das Problem könnte man als Autofahrer bereits bemerken, wenn es kühler wird - und eigentlich auch dann beheben. Aber der Winter kommt eben allzu oft unverhofft.

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