Rücktrittsgesuch von Kardinal Reinhard Marx Hilfloser Hirte

Erzbischof Reinhard Marx
Foto: Florian Gaertner / Photothek via Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Es ist ein sonniger Tag in München, die Menschen genießen die Coronalockerungen und bevölkern am Brückentag zwischen Fronleichnam und dem Wochenende die Cafés und Fußgängerzonen. Abseits des Trubels, im ruhigen Innenhof des erzbischöflichen Palais, tritt am frühen Freitagnachmittag Kardinal Reinhard Marx, 67, vor die Presse.
Er hat einen kleinen handgeschriebenen Spickzettel dabei. Doch es ist klar, dass er die gedankliche Stütze nicht braucht, dass seine Worte das Resultat langer Überlegungen sind. Eines Ringens mit sich selbst und der katholischen Kirche.
Der Erzbischof von München und Freising hat dem Papst seinen Rücktritt angeboten. »Die Frage nach meinem Amtsverzicht bewegt mich schon längere Zeit«, sagt Marx. Um Ostern herum sei ihm klar geworden, dass er die Entscheidung treffen wolle, er habe sie Ende Mai dem Papst vorgetragen. Jedoch: »Ich bin nicht amtsmüde, ich bin nicht demotiviert.«
Er möchte, so erklärt er es selbst, ein Zeichen setzen. Das Erschrecken über sexuellen Missbrauch in der Kirche, so Marx, halte an, bei den Betroffenen und bei ihm selbst. Eigentlich sei die Kirche ein Raum der Heilung, der Hoffnung und der Zuversicht. »Es geht für mich im Kern darum, Mitverantwortung zu übernehmen für das, was in der Kirche geschehen ist.«
Marx plant offenbar, das sinkende Kirchenschiff zu verlassen, das er als langjähriger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz selbst mit zum Kentern gebracht hat. Seit Jahren lähmen Massenaustritte, Richtungskämpfe und der epochale Missbrauchsskandal mit Zehntausenden Opfern sexueller Gewalt durch Priester die Kirche.
In seinem Brief an den Papst schreibt Marx, er wolle Mitverantwortung tragen »für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten«. Marx bekennt sich zum »systemischen Versagen« seiner Institution. Die Kirche sei an einem »toten Punkt« angekommen, so Marx. »Ich will zeigen, dass nicht das Amt im Vordergrund steht, sondern der Auftrag des Evangeliums.«
Gegen Marx stehen Vorwürfe im Raum
Erst vor einigen Wochen hatte Marx für Aufsehen gesorgt, als er freiwillig auf das Bundesverdienstkreuz verzichtete. Zuvor hatte der Betroffenenbeirat im Erzbistum Köln an den Bundespräsidenten appelliert, die Auszeichnung vorerst nicht vorzunehmen. »Ich bin überzeugt, dass das insbesondere mit Rücksicht auf die Betroffenen der richtige Schritt ist«, begründete Marx seinen Verzicht in einem Schreiben an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Gegen Marx steht der Vorwurf im Raum, als Bischof den sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Priester nicht ausreichend untersucht zu haben. Zudem wurde ihm immer wieder vorgeworfen, einen 2010 erstellten Bericht zu sexuellen Übergriffen im Erzbistum München für die Öffentlichkeit unter Verschluss zu halten. Marx verwies auf »datenschutzrechtliche Gründe«.
Die 2018 veröffentlichte Missbrauchsstudie der Bischöfe trieb Marx als Vorsitzender der Bischofskonferenz aber wesentlich mit voran. Von ihrem grausigen Ergebnis war er spürbar geschockt und niedergeschlagen. Einen Rückzug schloss er jedoch noch aus, wie alle seine Bischofsbrüder.
Der Exodus der Gläubigen geht weiter
Damals hätte Marx mit einem Rücktritt ein starkes Signal an das Kirchenvolk senden können und im christlichen Sinne »Metanoia«, also innere Umkehr und Buße, signalisiert. Jetzt wirkt sein Rücktrittsgesuch eher wie eine Art Hilferuf gen Rom.
Der angekündigte Rückzug fällt in eine Phase, in der in den Kirchen des Landes die Lichter ausgehen. Monatlich treten Tausende Katholikinnen und Katholiken aus, seit 2010 hat die römische Kirche in Deutschland knapp zwei Millionen Gläubige verloren. Der Exodus geht weiter, er hat längst den harten Kern erreicht. Jetzt treten auch tiefgläubige Menschen aus.
Das ist kein Wunder, die Kirchenoberen haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Erst vor zwei Wochen ergab eine Online-Umfrage von Civey im Auftrag des SPIEGEL, dass 56,5 Prozent der Katholiken in Deutschland ihre Kirche für »weniger« oder »gar nicht vertrauenswürdig« halten. Unter den bereits ausgetretenen Katholiken waren es gar 91,5 Prozent.
Der »Synodale Weg« brachte keine Trendwende
Marx trägt an dieser Misere eine Mitschuld. Er ist seit fast 25 Jahren Bischof, leitete von 2014 bis 2020 die Bischofskonferenz – und steht damit stellvertretend für das starre klerikale System, jenen verschlossenen Männerverein mit seinen internen Machtspielchen, den viele Gläubige ablehnen.
Selbst der von Marx mitinitiierte »Synodale Weg« hat bislang keine Trendwende gebracht. Bei dem Reformdialog diskutieren die 27 Diözesanbischöfe mit Vertretern der Orden, des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und anderen Laien auch über die Aufarbeitung sexueller Übergriffe und den Machtmissbrauch im klerikalen System. Darüber hinaus geht es um eine stärkere Rolle von Frauen in kirchlichen Ämtern und die priesterliche Lebensform.
Ständig wurde der Dialog torpediert. Der Papst erteilte bereits 2020 eine Absage an eine Lockerung des Zölibats und auch an eine mögliche Weihe von Frauen. Und dann gibt es da noch Marx' Gegenspieler, den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki, der den »Synodalen Weg« als »quasiprotestantisches Kirchenparlament« brandmarkte.
Woelki steht wegen seines Führungsstils und der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in seinem Erzbistum seit Monaten in der Kritik. Einen Rückzug lehnt er aber weiterhin ab. In seinem Brief an den Papst kritisiert Marx jetzt seinen Kontrahenten, ohne dessen Namen zu nennen.
Manche in der Kirche wollten das »Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben« und lehnten deshalb jeden »Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ab«, so Marx.
Nun bleibt abzuwarten, ob Papst Franziskus den Amtsverzicht des Münchner Erzbischofs akzeptiert. Bemerkenswert ist bereits, dass er Marx die Erlaubnis erteilt hat, den Brief öffentlich zu machen. Es ist ein klares Signal an die deutschen Bischöfe, die von Marx geäußerte Kritik ernst zu nehmen.
Und auch der Kölner Kardinal Woelki dürfte das Schreiben schon studiert haben. Ihm hat der Papst bereits vergangene Woche zwei Visitatoren ins Erzbistum geschickt, um die dortigen Missstände zu beenden und aufzuarbeiten.