Katastrophe in der Türkei Experten rügen Billigbauweise in Erdbebenregion
Istanbul - Für die Bewohner des Erdbebengebiets in der Osttürkei folgte auf die Katastrophe eine Nacht der Angst. Wissenschaftler registrierten mehr als hundert weitere Erdstöße. Aus Sorge schliefen viele Bewohner der Provinz Van bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt im Freien.
Bisher wurden laut Regierung etwa 270 Tote geborgen. Nach offiziellen Angaben vom Montagvormittag wurden mindestens 1300 Personen verletzt. Experten schätzten, dass die Opferzahl auf bis zu tausend Tote steigen könnte. Zahlreiche Menschen wurden verschüttet.
Laut offiziellen Angaben stürzten Hunderte Lehmhäuser und Betongebäude ein. Allein in Ercis, der am stärksten betroffenen Stadt in der Provinz, fielen etwa 80 Bauten in sich zusammen, in Dörfern um die Stadt wurden zahlreiche Hütten beschädigt. Möglicherweise war auch mangelhafte Bausubstanz ein Grund für die Zerstörung. Ein Untersuchungsbericht der türkischen Ingenieurskammer ergab laut "Süddeutscher Zeitung" ("SZ"), dass selbst als erdbebensicher zertifizierte Gebäude diese Bezeichnung nicht verdienten.

Die Provinz Van liegt wie viele andere Teile der Türkei in einem erdbebengefährdeten Gebiet. Doch selbst in Istanbul werden laut einem Abgeordneten der Regierungspartei AKP bei 70 Prozent aller Gebäude Bauvorschriften missachtet, berichtete die "SZ". In der Region Van verstärkt demnach die Armut die Neigung, Sicherheitsvorschriften zu ignorieren.
Das Baumaterial in der Türkei sei oft minderwertig, sagt Ahmet Yakut, Professor an der Technischen Universität in Istanbul. Vor allem in den armen Gebieten des Landes werde minderwertiger Beton benutzt, viele Häuser würden nach wie vor ohne Architekten und Statiker gebaut, lediglich unter Anleitung eines Handwerksmeisters. Dem Professor zufolge hat sich daran seit dem schweren Erdbeben am Marmarameer 1999 nicht viel geändert.
Verschütteter ruft per Handy Hilfe
Die schweren Zerstörungen stellen Retter vor große Probleme. In Ercis standen die Helfer vor einer Trümmerlandschaft. Verzweifelte Menschen versuchten, durch Spalten in die Ruinen zu kriechen, um nach Verschütteten zu suchen. Teilweise gruben sie mit bloßen Händen nach Überlebenden.
Durch das Beben brach in einem Gefängnis eine Mauer zusammen. 200 Häftlinge flohen, berichten Zeitungen. 50 von ihnen seien zurückgekehrt, nachdem sie sich vergewissert hätten, dass ihre Familien wohlauf seien.
Immerhin liefen die Hilfsarbeiten laut ersten Berichten türkischer TV-Sender schnell an. In Ercis und der Provinzhauptstadt Van wurde die gesamte Nacht nach Verschütteten gegraben. Hubschrauber und Flugzeuge brachten Zelte, Lebensmittel und Medikamente in die Unglücksregion. Hilfskräfte errichteten Unterkünfte und Feldküchen für die Betroffenen. In Ercis wurden außerdem zwei provisorische Krankenhäuser aufgebaut.
Mut machen den Helfern Erfolgsmeldungen wie die Rettung eines 19-Jährigen. Er wurde aus den Trümmern eines sechsstöckigen Hauses in Ercis geborgen, nachdem er mit seinem Handy Hilfe gerufen hatte. Der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge kam der Mann mit Beinverletzungen in ein Krankenhaus.
Die Regierung hat nach eigenen Angaben mehr als 1200 Helfer geschickt. Auch Einheiten der Armee sind im Einsatz. Regierungschef Recep Tayyip Erdogan besuchte am Sonntagabend gemeinsam mit dem stellvertretenden Ministerpräsident Besir Atalay, dem Gesundheitsminister und weiteren Kabinettsmitgliedern die Katastrophenregion. Erdogan kündigte weitere Hilfe an. "Wir werden im kalten Winter niemanden auf sich alleine gestellt lassen", sagte er. Für Mittwoch ist Schneefall angesagt.
Mehrere Länder boten der Türkei Hilfe an. Erdogan sagte, derzeit sei man in der Lage, die Probleme alleine zu bewältigen. Aserbaidschan, Iran und Bulgarien schickten dennoch Unterstützung. Auch Israel und Griechenland boten Unterstützung an.
In der Türkei kommen Erdbeben häufiger vor. 1999 kamen bei zwei starken Beben im dicht besiedelten Nordwesten des Landes rund 20.000 Menschen ums Leben. In Van starben 1976 bei einem Beben 3840 Menschen.