Kindesmissbrauch bei den Zeugen Jehovas Das Blöken der Lämmer
Hamburg - Seit seiner Geburt vor 44 Jahren ist William Bowen aus Calvert City in Kentucky bei den Zeugen Jehovas. Jahrelang hat er für die Wachtturmgesellschaft gepredigt, hat in unzähligen Stunden Schriften verkauft, ist in Marshall County von Tür zu Tür gezogen, um Menschen dazu zu bewegen, sich in Jehovas Hände zu begeben und in dessen Königreich ihr Heil zu finden. Bill Bowen durchlief die üblichen Stationen, diente zwei Jahre in "Bethel", einer "Haus Gottes" genannten Einrichtung der Zeugen, eine Institution, in der Kranke laut einer Hausordnung von 1990 nichts zu suchen haben, in der Schwangere ausgewiesen werden, die verschlossene Türen hat, in der es nur ein Telefon nach außen gibt, das nur mit der Erlaubnis Vorgesetzter benutzt werden darf, und in der die Insassen täglich acht Stunden für die Königreichsinteressen arbeiten dürfen - für Gotteslohn versteht sich.
Bowen, der seinen Lebensunterhalt durch die Herstellung von Duftkerzen bestreitet, hatte sich zum Ältesten hochgedient, hatte Repräsentations- und Verwaltungsaufgaben übernommen, nahm in gut hundert Gerichtskomitees teil, in denen über das Fehlverhalten von Brüdern und Schwestern geurteilt wurde - dann stand er vor der Entscheidung: Sollte er weiter artig den theokratischen Regeln der Wachtturmgesellschaft folgen, oder sollte er öffentlich machen, dass es in Jehovas Königsreich sexuelle Verbrechen gab?
"Lass es in Gottes Hand"
Im Jahr 2000 war Bowen zugetragen worden, einer seiner Mit-Ältesten in der Gemeinde habe ein Kind mehrfach sexuell missbraucht. Der Vorsitzende des zuständigen Komitees innerhalb der örtlichen Zeugengemeinschaft habe beschlossen, den Fall unter Verschluss zu halten. Bowen wandte sich an einen übergeordneten Aufseher, der laut Bowen ebenso den Mantel des Schweigens über den Fall breiten wollte. Als der Mann aus Kentucky schließlich die Zentrale der "Wachtturm-, Bibel- und Traktatgesellschaft" im New Yorker Stadtteil Brooklyn informierte, sei der beschuldigte Älteste zwar stillschweigend seines Amts enthoben worden, Bowen allerdings wurde angewiesen, "es in Gottes Hand zu lassen" und den Fall nicht bei der Polizei anzuzeigen.
Der Kerzenmacher entschied sich, den Anweisungen aus Brooklyn nicht zu folgen. Aus Protest trat er vom Amt des Aufsehers und Ältesten in seiner Versammlung in Draffenville, Kentucky, zurück und machte den Fall publik, "um die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass Kinder verletzt wurden und sich die Politik des Wachtturms ändern muss."
Um den Druck auf die Wachtturm-Verantwortlichen "im Interesse der Herde" zu erhöhen, hat Bowen eine Homepage www.silentlambs.org gegründet, auf der bisher mehr als tausend Zeugen Jehovas von sexuellen Übergriffen berichten. "Die Lämmer waren zu lange ruhig", sagt Bowen. Nun haben sie einen Ort, wo sexuell Missbrauchte ihren Fall schildern und sich an Anwälte wenden können.
"Tausende werden sexuell missbraucht"
Erica Rodriguez war als Kind im Alter von vier bis elf Jahren wöchentlich vergewaltigt worden. Im Januar zog sie vor Gericht und verklagte nicht nur ihren Vergewaltiger, den Ältesten und besten Freund ihrer Eltern, Manuel Beliz, 49, der vergangenes Jahr zu elf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, sondern auch die Wachtturmgesellschaft selbst. In der im Bundesstaat Washington eingereichten Zivilklage erhebt sie ähnliche Vorwürfe gegen die Wachtürmler wie Bowen. Sie wirft ihnen vor, Kinderschänder fänden bei Funktionären "routinemäßig Zuflucht, Schutz, Sympathie und Unterstützung", um der Strafverfolgung zu entgehen. Die 23-Jährige schätzt, dass bei der Wachtturmgesellschaft "vielleicht Tausende" Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht werden.
Davon könne keine Rede sein, sagen die Wachtturm-Oberen in Brooklyn. Die Führungsschicht der Jehova-Jünger erweckt nach außen den Anschein, eine korrekte und progressive Linie zu fahren, sollte es innerhalb des Wachtturms zu sexuellen Verfehlungen kommen. "Wenn ein Kirchenältester von einem Kindesmissbrauch erfährt, verfahren sie streng gemäß geltendem Recht, wonach Kindesmissbrauch gemeldet werden muss", heißt es in einer Stellungnahme des Brooklyner Büros für Öffentlichkeitsarbeit vom Januar 2001. Opfern oder deren Eltern sei es weder verboten noch würden sie entmutigt, Kindesmissbrauch den Behörden zu melden, selbst wenn der Beschuldigte ein Zeuge Jehovas ist.
"Gott wird euch töten"
Die Wahrheit ist laut Bowen eine andere. Hunderte Missbrauchte fürchteten sich davor, Aussagen zu machen, weil sie eingeschüchtert und bedroht würden. Sollten einer dennoch wagen, den Mund aufzumachen, müsse er mit scharfen Strafen wie der Exkommunikation rechnen. In seinem Fall habe die Organisation dafür gesorgt, dass keiner der Brüder mehr mit ihm oder seiner Familie rede. Sein Vater sei gezwungen worden, auf einem Video, das der Presse zugespielt worden sei, zu behaupten, sein Sohn sei ein Lügner - obwohl er von dem ganzen Vorgang laut Bowen nichts wusste. Brüder und Schwestern verbreiteten boshafte Gerüchte über ihn und seine Familie. Seine Eltern und seine Schwiegermutter wollten inzwischen nichts mehr mit ihren Enkeln zu tun haben. In Briefen hätten sie mitgeteilt: "Gott wird euch für euren Standpunkt töten."
Sie sind den Jehova-Ideologen offensichtlich hörig, denen es nur darum gehe, das Image der Gesellschaft unbesudelt zu lassen. Bowen sagt: "Die traurige Wahrheit ist, dass kein Zeuge Jehovas die Wachtturm-Politik kritisieren darf."
"Paradies für Pädophile"
Bowen hat sie kritisiert. In einem Brief an den Ältestenrat der weltweit rund sechs Millionen Zeugen Jehovas, überschrieben mit "Liebe Brüder", wirft Bowen seiner Organisation vor, Kinderschänder durch einen "Code des Schweigens" zu schützen. Die Wachtturm-Organisation sei zu einem "Paradies für Pädophile" geworden. Dies sei auf Direktiven zurückzuführen, die von höchster Stelle ausgegeben würden.
So müssten die Geschändeten unter entwürdigenden Umständen im Beisein des Beschuldigten, der Eltern und von drei Ältesten detailliert schildern, wie sie vergewaltigt wurden. Der Fall werde - anstatt es polizeilichen Untersuchungen zu überlassen - ad acta gelegt, sobald der Beschuldigte die Tat leugne und es dem Opfer nicht gelinge, mindestens einen Zeugen zu benennen - was im Falle eines sexuellen Vergehens oft nicht möglich sei. Sollte das Opfer weiterhin behaupten, der Beschuldigte sei ein Vergewaltiger, müsse es mit der Exkommunikation rechnen.
John Robert Brown, Direktor des Öffentlichkeitsbüros der Zeugenzentrale in Brooklyn, weist die Darstellung Bowens zurück. Es gebe keine Gegenüberstellungen von missbrauchten Kindern mit dem beschuldigten Vergewaltiger in Anwesenheit der Eltern und dreier Ältester. Auch drohe niemandem die Exkommunikation. Selbst Personen, die "Samen der Zwietracht" in der Gemeinde säten und für schuldig befunden würden, könnten Zeugen Jehovas bleiben, so lange sie sich vor einem Komitee als reuige Sünder zeigten. Sollte jemand sich tatsächlich sexueller Verfehlungen schuldig gemacht haben, könne er keinesfalls das Amt eines Ältesten bekleiden. "Älteste sind geistliche Hirten", sagt Brown.
Der meist gehasste Mann innerhalb der Gesellschaft
"Alles Lüge!", sagt Bowen, der inzwischen zum meist gehassten Mann innerhalb der Gesellschaft geworden ist. Ihm drohe sehr wohl die Exkommunikation. Ende Mai trat er zusammen mit Erica Rodriguez, Kalifornien, dem Ehepaar Carl und Barbara Pandello, New Jersey, und Barbara Anderson, Tennessee, - allesamt Zeugen Jehovas - bei NBC auf. In der Sendung "dateline" berichteten sie von den zweifelhaften Vorgängen innerhalb der Gemeinschaft.
Die Pandellos berichteten, ihre Tochter sei von ihrem eigenen Großvater Clement, ebenfalls einem Jehova-Zeugen, über Jahre sexuell belästigt worden. 1989 wurde Clement Pandello verurteilt, sich einer Therapie zu unterziehen und erhielt fünf Jahre auf Bewährung. Nur 18 Monate nach dem Urteil habe Pandello die entzogene Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas zurückerhalten. Als die Ermittlungen den Verdacht nahelegten, dass Clement vier Jahrzehnte lang an Mädchen herumgefummelt hatte - unter anderem auch an einer anderen Enkeltochter -, sei ihm 1994 erneut die Gemeinschaft entzogen worden - 1996 soll er in den Kreis der Königreichsjünger wieder aufgenommen worden sein.
Anthony Valenti aus der Versammlung der Pandellos hatte unter Eid ausgesagt, als Ältester habe er ihnen abgeraten, gerichtlich gegen Clement Pandello vorzugehen. Dem Gerichtsprotokoll zu Folge begründete Valenti seinen Rat mit einem Hinweis auf die Bibel, die dazu anhalte, nicht gegen einen Bruder vor Gericht zu ziehen.
Exkommunikation uneinsichtiger Sünder
Erica Rodriguez wiederholte in der Sendung "dateline", was sie bereits beim Prozess ausgesagt hatte. Als sie die Ältesten ihrer Gemeinde in Sacramento von den Machenschaften des Beschuldigten informiert hatte, und diesem die Mitgliedschaft nicht entzogen worden sei, habe sie die Ältesten darüber informiert, ihren Vergewaltiger bei der Polizei anzuzeigen. Ihre geistlichen Hirten hätten ihr daraufhin mit der Exkommunikation gedroht: "Wenn du zur Polizei gehst, wird Gott dich dafür verdammen."
An oberster Stelle in Brooklyn tagt unterdessen ein Gremium, von dem kein Außenstehender weiß, wer dazu gehört. Dort soll entschieden werden, wie mit Verrätern verfahren wird, bevor der Jüngste Tag anbricht. Die Pandellos wurden bereits exkommuniziert. Die Gründe darüber gingen die Öffentlichkeit nichts an, heißt es in der Weltzentrale. Es bestehe jedoch kein Zusammenhang mit der NBC-Sendung. Dass gegen Barbara Anderson, die zehn Jahre in der Weltzentrale der Religionsgemeinschaft gedient hatte und nun bei Bowens Projekt "silentlambs" mitarbeitet, ein Exkommunikations-Verfahren eingeleitet wurde, läuft in Brooklyn unter strenger Geheimhaltung. Anderson ging jedoch ein Brief zu, in der die Exkommunikation angekündigt wird. Anderson hat dagegen Einspruch erhoben.
Ein gegen Bill Bowen anberaumtes Verhör wurde nach seinen Angaben von der Organisation kurzfristig abgesagt, nachdem er 20 Zeugen benannt hatte, die seine Aussagen stützen. Erica Rodriguez wurde laut Bowen deshalb noch nicht exkommuniziert, weil ein Ausschluss Rodriguez' während des Zivilverfahrens gegen die Zeugen diesen schaden würde.