KINDESMISSBRAUCH »Kleine blonde Pferdchen«
René Michaux kann die Stimmen nicht vergessen. Dieses Flüstern der Kinder im Keller der Rue Philippeville geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Denn er hat sie zum Schweigen gebracht.
Am 13. Dezember 1995 durchsuchte der Gendarm zusammen mit drei Kollegen ein unansehnliches Haus in Marcinelle an der Schnellstraße nach Charleroi. Er wollte den Hinweis eines anonymen Informanten überprüfen, wonach der Eigentümer, ein arbeitsloser Elektriker namens Marc Dutroux, hier Verstecke ausgebaut habe, in denen entführte Kinder gefangengehalten würden.
Die oberen Räume, alle gleichermaßen verwahrlost und mit Gerümpel vollgestellt, hatten die Beamten schon durchkämmt, als Michaux auf der Kellertreppe plötzlich die Stimmen vernahm, so leise, daß sie kaum zu hören waren. »Seid still!« rief er seinen Kollegen zu, die hinter ihm die Treppe herunterkamen. Und das Flüstern verstummte.
Heute weiß der Gendarm, daß er nicht im Nachbargarten spielende Kinder gehört hat, wie er damals meinte. Die Stimmen gehörten den Mädchen Julie und Mélissa, beide acht Jahre alt. Sie waren seit dem 24. Juni vermißt - eingesperrt in der Kellerzelle von Dutroux.
Wachtmeister Michaux hat versagt. Zweimal leitete er Durchsuchungen bei Dutroux; der Hausherr saß zu der Zeit wegen Autodiebstahls und Freiheitsberaubung drei Monate im Gefängnis. Zweimal waren Michaux und seine Kollegen nur wenige Meter von den beiden Freundinnen entfernt, die hinter einer dünnen Wand gefangen waren, aber nicht um Hilfe zu rufen wagten. Der Entführer hatte ihnen eingeschärft, daß sie das Allerschlimmste zu befürchten hätten, wenn sie keine Ruhe gäben.
Nicht nur die leisen Stimmen der Kinder hat Michaux falsch gedeutet. Auch die im Haus gefundenen Gegenstände machten die Polizisten nicht stutzig. Sichergestellt wurden der Mitschnitt einer Fernsehsendung über die verschwundenen Mädchen, dazu nicht beschriftete, mit Chloroform gefüllte Arzneifläschchen sowie ein gynäkologisches Spekulum.
Julie und Mélissa starben Wochen später in ihrem Verlies einen qualvollen Hungertod. Dutroux' Frau Michèle Martin, die mit ihren zwei Kindern in Sars-la-Buissière wohnte, brachte es nicht über sich, den »schrecklichen Ort« im Keller der Rue Philippeville zu betreten. Gefüttert hat sie während des Knastaufenthalts ihres Mannes nur dessen Hunde.
Fünfmal wurde der Gendarm Michaux in Brüssel vor den parlamentarischen Untersuchungsausschuß zitiert, der die unglaublichen Fehler und Pannen von Polizei und Justiz bei der Suche nach den vermißten Kindern aufzudecken versucht. Und das ganze Land schaute dabei wie gebannt zu. Die im Fernsehen live übertragenen Anhörungen von Staatsanwälten, Richtern, Polizisten und Kripo-Beamten erreichten höchste Einschaltquoten. Jetzt wartet die Nation auf den Abschlußbericht.
So verhängnisvoll seine Fehleinschätzungen auch waren, dem um Fassung und Worte ringenden Zeugen Michaux bescheinigte der Ausschußvorsitzende Marc Verwilghen dennoch, ein »ehrlicher Mann« zu sein. Denn der Wachtmeister, niedergedrückt von seinem Schuldgefühl, hat mit seinen Aussagen als erster das Gespinst aus Halbwahrheiten und Lügen durchlöchert, das die Hintergründe dieser »nationalen Tragödie«, wie König Albert die Affäre nennt, verschleiern sollte.
Michaux gab zu, daß Dutroux tatsächlich schon damals in Verdacht stand, Julie und Mélissa entführt zu haben: »Im Keller des Hauses suchte ich auch die beiden Mädchen.« Alle anderen, Staatsanwälte, Untersuchungsrichter, Kommissare und Polizeichefs, hatten dagegen vor dem Ausschuß immer wieder beteuert, den Namen Dutroux niemals mit der Entführung in Verbindung gebracht zu haben.
Gendarm Michaux hat die Legende von den Ahnungslosen in den höheren Etagen bei Polizei und Justiz zerstört. Nunmehr steht fest, daß der Kinderfänger Dutroux, 40, und sein wichtigster Komplize, der dubiose Brüsseler Geschäftsmann Michel Nihoul, 54, lange in einem quasi gesetzesfreien Raum agieren konnten. Ein undurchdringlicher Filz aus Korruption und Protektion hinderte Polizei und Justiz daran, Belgiens Bürger und ihre Kinder vor den Triebtätern zu schützen.
So hätte auch Loubna Benaïssa, deren Leiche vorletzte Woche im Keller einer Brüsseler Tankstelle gefunden wurde, noch leben können. Doch im August 1992, als die neunjährige Marokkanerin aus der Rue Gray nur mal eben einen Becher Joghurt kaufen wollte und nicht wiederkehrte, reagierte die Polizei erst mit tagelanger Verspätung. Das Alibi des Verdächtigen Patrick Derochette, eines vorbestraften Triebtäters aus der Nachbarschaft, wurde nicht überprüft.
Eine Schulfreundin glaubte, Loubna 13 Tage nach ihrem Verschwinden in einem schwarzen Golf gesehen zu haben. Sie hatte sich das Kennzeichen notiert und dabei einen Buchstaben verwechselt. Die Untersuchungsrichter entdeckten erst jetzt, daß der Wagen einem Verwandten von Derochette gehörte. Und sie fanden nach langer Suche auch die alte Akte des Kinderschänders im Gerichtsarchiv. Sie war unter einem falschen Namen eingeordnet.
Die Fahrlässigkeit hatte System: Auch im Fall Dutroux verschwanden Informationen über dessen kriminelle Aktivitäten, schriftliche Protokolle über Verhöre und Hausdurchsuchungen wurden nicht angefertigt, Ermittlungen abgeblockt.
In Lüttich suchte die zuständige Untersuchungsrichterin Martine Doutrèwe ein Jahr lang nach Julie und Mélissa, ohne je von den zahlreichen Verdachtsmomenten gegen den vorbestraften Dutroux aus der Gegend von Charleroi zu erfahren. Die Gendarmerie hatte die Informationen nicht weitergegeben.
Ähnlich erging es Kripo-Chef Luc Van Thiegem aus Brügge, der die Ermittlungen nach zwei anderen vermißten Teenagern, An und Eefje, leitete: »Fast auf Knien« habe er das Zentrale Ermittlungsbüro der Gendarmerie in Brüssel um Amtshilfe gebeten. Er wollte überprüfen, ob sich ein Zusammenhang zwischen seinem Fall und dem Verschwinden von Julie und Mélissa sowie den vermißten Geschwistern Kim und Ken aus Antwerpen herstellen lasse. Van Thiegem blitzte bei der Brüsseler Zentrale ab: Es gebe keine konkreten Hinweise für eine solche Verbindung.
Es gab sie doch. Wenige Tage zuvor hatte dasselbe Büro eine »nicht eilige Aufforderung« an alle Dienststellen des Landes verschickt, Informationen über einen gewissen Marc Dutroux einzuziehen. Der Mann habe sich möglicherweise krimineller Handlungen gegenüber Minderjährigen schuldig gemacht. Aufgeführt wurden die Kennzeichen und Marken von sechs Personen- und Lastwagen, die Dutroux besaß - darunter der graue Citroën CX 25, der am Tag des Verschwindens von An und Eefje in Ostende und Umgebung mehrfach von Zeugen gesichtet worden war.
Schlamperei? Wohl mehr. Es muß Hintermänner gegeben haben, die Interesse daran hatten, Dutroux und seine Komplizen zu schützen. Daß Protektion im Spiel gewesen ist, glaubt auch Staatsanwalt Michel Bourlet aus Neufchâteau, der die beiden Schülerinnen Sabine und Laetitia im vergangenen August befreite - sie befanden sich ebenfalls in den Fängen des Psychopathen Dutroux, konnten aber gerettet werden. Anders kann sich Bourlet »die offensichtlichen Lücken« in den Ermittlungen nicht erklären.
Die Mutter der ermordeten An Marchal wird noch deutlicher: »Die Mädchen sind von Kriminalbeamten und Polizisten getötet worden, nicht nur von Marc Dutroux.«
Sogar Regierungschef Jean-Luc Dehaene stellte jetzt öffentlich die Frage, die alle Belgier bewegt: Warum überführte die Staatsanwaltschaft des Provinzstädtchens Neufchâteau viereinhalb Jahre nach dem Verschwinden der kleinen Loubna den Täter - und nicht die Brüsseler Justiz, die über so viele Hinweise verfügte? Warum wurde auch Dutroux von den Ermittlern aus Neufchâteau dingfest gemacht und nicht von der Polizei in Charleroi, die fast alles über ihn wußte?
Je tiefer die Parlamentarier in die Affäre eindringen, desto deutlicher zeigt sich: Die Geschichte des mutmaßlichen Mörders und Kinderschänders Dutroux, der nach den bisherigen Erkenntnissen sechs Mädchen entführt und vier umgebracht hat, ist nicht nur die eines isolierten Triebtäters.
Die Verbrechen von Dutroux und seinen Mittätern sind auch Symptome einer kranken Gesellschaft, in der ein kleiner Ganove als Zulieferer für einen pädophilen Markt ohne moralische und humanitäre Grenzen arbeitete.
Im katholisch prüden Belgien mit seiner diskreten Bourgeoisie haben private Sexpartys, sogenannte Partouzes (französischer Slang für »nettes Beisammensein"), eine gewisse Tradition. Gerichtskundig wurden diese freizügigen Feten, auf denen sich Ärzte, Advokaten, Politiker und Justizbeamte mit Edelnutten und willigen Damen der besseren Gesellschaft vergnügten, Anfang der achtziger Jahre: Eine Frau starb auf mysteriöse Weise, nachdem sie auf einer dieser Partouzes gedroht hatte, sie werde über die Teilnahme Minderjähriger auspacken. Nihoul, der Komplize von Dutroux, war damals schon dabei.
Als im vergangenen November die Staatsanwaltschaft von Neufchâteau eine eigene Telefonnummer einrichtete, über die sich Zeugen und Opfer pädophilen Mißbrauchs vertraulich melden sollten, riefen eine ganze Reihe Frauen und Männer an, die früher an solchen Partouzes teilgenommen hatten - und noch immer unter dem Schock des Erlittenen standen.
Die Zeugen leben heute gefährlich, wie sich herausstellt. Eine der Frauen, die von Orgien berichtete, an denen Politiker und hohe Polizeibeamte aus Lüttich beteiligt gewesen sein sollen, entging nur knapp einem Anschlag: Zwei Autos versuchten sie auf dem Brüsseler Ring von der Fahrbahn abzudrängen.
Und niemand mochte so recht an Zufall glauben, als im Februar ein Dokumentarfilmer mit Beziehungen ins Pädophilen-Milieu, der bei der Staatsanwaltschaft in Neufchâteau wichtige Informationen angekündigt hatte, auf dem Weg zur Vernehmung tödlich verunglückte.
Die fieberhaften Recherchen der Ermittler bringen jetzt immer neue Einblicke in einen pädophilen Sumpf, dessen Klienten aus allen gesellschaftlichen Schichten stammen. Was auf den ersten Blick zusammenhanglos erscheint, könnte durchaus miteinander vernetzt sein. Immer wieder weisen Spuren zu Dutroux und seinem umtriebigen Partner Nihoul.
Beispiel: In einer Tiefgarage der Brüsseler Innenstadt betrieb ein 34jähriger Gendarm aus Mechelen ein Kinderbordell für schwule Pädophile. Ein angesehener liberaler Gemeinderat der Brüsseler Kommune Etterbeek wurde verhaftet, weil er elf- und zwölfjährige Jungen mißbraucht hatte, die er auf Spielplätzen oder auf der Straße auflas. Der Mann war ein Bekannter Nihouls und Gast im »Le Dolo«, einer anrüchigen Bar, die von einer Freundin Nihouls geführt wurde.
Oder: Bei der Hausdurchsuchung eines Pädophilen in Verviers entdeckten die Beamten Videofilme, auf denen zu sehen ist, wie unter Drogen gesetzte Kinder vergewaltigt und gefoltert werden, bis sie leblos zusammensinken. Auch die Ermordung der von Dutroux und einem Kumpanen entführten Schülerinnen An und Eefje soll auf einem solchen »Snuff«-Video festgehalten worden sein.
4497 Kleidungsstücke, Schmuckstücke, Uhren, Schuhe, Taschen oder auch Spielsachen stellte die Staatsanwaltschaft in den Unterschlupfen der Bande um Dutroux und anderswo sicher. 20 000 in den unterschiedlichsten Verstecken gefundene Haare werden derzeit gentechnisch analysiert, um herauszufinden, ob sie einem der mehr als 20 Kinder oder einer der jungen Frauen zuzuordnen sind, die in den vergangenen Jahren in Belgien spurlos verschwanden.
Die Mutter von Sylvie Carlin, die seit Dezember 1994 vergebens auf ein Lebenszeichen ihrer Tochter wartet, glaubt einen Ring ihrer Tochter unter den Fundstücken erkannt zu haben. Die Mutter der in Brüssel am hellichten Tag verschwundenen Agnès Moens erkannte ein Armband wieder. Die damals 22 Jahre alte Agnès wollte vor fast acht Jahren in Brüssel die passenden Schuhe zu ihrem Kleid als Brautjungfer kaufen. Sie war zur Hochzeit einer Freundin eingeladen.
So wie alle anderen Eltern beklagt auch diese Mutter, wie gleichgültig und nachlässig die Polizei ihre Vermißtenanzeige behandelte. Es habe verschiedene Hinweise gegeben, ein Mann wurde verhört, doch das Protokoll ist heute, da die Behörden endlich mit neuer Energie um Aufklärung bemüht sind, nicht mehr aufzufinden.
In den verlassenen Kohleminen von Jumet, einem in Armut und Hoffnungslosigkeit versunkenen ehemaligen Bergarbeiterort, graben nun schon seit Wochen Suchtrupps nach den Überresten kindlicher Leichen. Hier vermuten die Ermittler weitere Opfer.
Ganz in der Nähe, in einem Vorort von Charleroi, hat die okkulte Sekte »Abrasax« ihr Hauptquartier. Die Fahnder hofften, dort eine heiße Spur in das Innere eines pädophilen Zirkels gefunden zu haben. Und wieder schien Dutroux im Spiel: Im Holzhaus eines seiner Komplizen, Bernard Weinstein, entdeckte die Polizei einen Brief, der den Empfänger »an das Geschenk für die hohe Priesterin« erinnerte. Angefügt war eine Art Bestellschein für 17 Personen weiblichen Geschlechts zwischen 2 und 20 Jahren, die für anale, orale und vaginale Sexualpraktiken gebraucht würden. Unterzeichnet hatte das Schreiben der Satanspriester »Anubis«.
Ihre Publikationen ließen die Teufelsanbeter von Abrasax bis vor kurzem in einer Brüsseler Druckerei herstellen - die von einem vorbestraften Pädophilen geführt wurde. Doch als die Staatsanwaltschaft Neufchâteau am 21. Dezember die Büro- und Kulträume der Satanisten durchsuchen ließ, waren alle Räume sauber. Hoherpriester Anubis Moloch, mit bürgerlichem Namen Francis Desmedt, erklärte, es müsse sich um eine Verwechslung handeln. Später stellte sich heraus, daß vier Polizisten aus Charleroi Mitglieder dieser Satanskirche waren, einer amtierte sogar als Schatzmeister.
Ein gleichbleibendes Muster wird in der Affäre um die Kindesentführer und -mörder sichtbar, das auch in allen anderen großen Kriminalfällen des Landes aufscheint, als wären es Inszenierungen ein und desselben Regisseurs. Ob es sich um die blutigen Überfälle der »Mörder von Brabant« in den Achtzigern oder um die Ermordung des sozialistischen Lütticher Parteibosses und Ex-Ministers André Cools im Jahr 1991 handelte: Stets sind Polizisten darin verwickelt, und stets deuten Spuren auf einflußreiche Hintermänner aus dem politischen und juristischen Establishment.
Jedesmal wurden diese Spuren verwischt, sobald sie heiß zu werden versprachen. Wenn rechtsradikale Gendarmen, Mitarbeiter der Staatssicherheit oder gar Minister ins Visier der Ermittler gerieten, wurden Untersuchungsrichtern die Verfahren entzogen, Polizisten strafversetzt.
Nach einer kurzen Periode der »Wut und Revolte«, beobachtete der belgische Filmemacher Olivier Richard, kehre alles wieder »in die geordneten Bahnen der großen Unordnung zurück«. Eine Unordnung, die in diesem kleinen und durch einen hartnäckigen Sprachenstreit zerrissenen Staat nach einem für Außenstehende undurchschaubaren Beziehungsgeflecht geordnet ist.
Justiz, Polizei und öffentliche Verwaltung sind zergliedert wie in keinem anderen Staat Europas. Im Land der Surrealisten Magritte und Delvaux hat sich eine hintergründige Machtstruktur gebildet, die offenbar alle öffentlichen Institutionen beherrscht. Die Clans, die großen Familien des Landes, Gesinnungsvereine und Parteien - Sozialisten, Christdemokraten, Liberale, antiklerikale Freimaurer und reaktionäre Anhänger des katholischen Laienordens Opus Dei - haben Posten und Pfründen unter sich aufgeteilt.
Loyalität gegenüber dem Staat wurde durch Klientelismus ersetzt, Rechtssicherheit durch Protektion. Und jede der regierenden Parteien kassierte bis vor kurzem ganz selbstverständlich ihre Schmiergeldquote bei großen Staatsaufträgen. Die Mitglieder des jeweiligen Clans genießen wie in einer sizilianischen Mafiafamilie den Schutz ihres Paten.
Diesmal allerdings, nach dem Schock über die Affäre Dutroux, könnte die Wahrheit eine Chance haben. Denn Scham und Entsetzen über das, was in Belgien geschehen ist, sind bei den Bürgern so groß, daß im Land des Laisser-faire und des Durchmauschelns der Wunsch nach kompromißloser Aufklärung übermächtig geworden ist. Der stille Zorn, der sich am 20. Oktober vergangenen Jahres beim Marsch von 300 000 Bürgern auf Brüssel manifestierte, ist nicht verraucht.
Dutroux, der Verbrecher aus der sozialen Randszene des heruntergekommenen Industriereviers Charleroi, und Nihoul, der undurchsichtige Geschäftsmann mit der bürgerlichen Fassade, sind zwei kriminelle Prototypen dieses Landes, in dem Recht und Ordnung offenbar lange Zeit partiell außer Kraft gesetzt waren.
Nihoul, mutmaßlicher Agent und Mittelsmann für den Kinderräuber Dutroux, hatte ein langes Strafregister wegen Betrugs. Dennoch wurde er in Brüssel als Gerichtsexperte für Immobilien geführt. Er habe derart gute Kontakte ins Justizministerium gehabt, rühmte er sich in einem Prozeß, daß er »mehr als einmal persönlich« in den oberen Etagen zugunsten eines Visumantrags oder sogar einer Strafminderung interveniert habe.
Seine Sexpartys in der Brüsseler Rue des Atrébates wurden nachweislich auch von Kripo- und Justizbeamten frequentiert. Seinen Einladungen zu den Partouzes in dem von der Kommune Etterbeek gemieteten Schloß Faulx-Les-Tombes bei Namur folgten Richter, Banker und Politiker. Besonderer Leckerbissen einer solchen »grande soirée« war laut Einladung das »dessert surprise!!!«
Nihoul ist ein Stehaufmann. Als er 1992 nach einer auf undurchsichtige Weise verkürzten Haft wegen eines betrügerischen Konkurses von seinem Anwalt Jean-Paul Dumont abgeholt wurde und seine Habseligkeiten in einer Plastiktüte verstaute, verkündete er: »Morgen um sieben Uhr fahre ich nach Holland und kaufe Blumen.«
Es war der Beginn eines florierenden Kommerzes. Zunächst importierte er Tulpen, dann spezialisierte er sich auf Fisch und Meeresfrüchte, schließlich verkaufte er Küchengeräte für Restaurants - immer nach demselben Schema, das dank schleppend arbeitender Justiz erstaunlich lange funktionierte: Er kassierte bei seinen Kunden, aber die Rechnungen seiner Lieferanten bezahlte er nicht.
Mit seinem Verein »Confrérie des brasseurs« hielt er bei Kneipeneröffnungen und Marketing-Events Tuchfühlung mit der lokalen Politprominenz. Wer eine Genehmigung von der Kommune brauchte, so ein Freund, »wurde auf Michels Empfehlung sogar vom Bürgermeister persönlich empfangen«.
Doch es gab auch den anderen Nihoul: Ein Mädchen will ihn als jenen »Onkel Michel« wiedererkannt haben, der sie gemeinsam mit ihrem Stiefvater mißbraucht habe. Und die Ex-Frau eines Brüsseler Pädophilen sagte jetzt bei dessen Prozeß aus, sie habe ihren Mann und Nihoul über »kleine blonde Pferdchen« sprechen hören.
Als Nihoul vorigen August wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an den Kindesentführungen verhaftet wurde, erklärte er, nur deshalb ständig in Kontakt mit Dutroux gestanden zu haben, weil er sich nach der Reparatur seines Audi 80 erkundigen wollte. Der Beamte der Brüsseler Sittenpolizei, der die Beziehungen des Lebemanns zur Pädophilenszene für die Staatsanwaltschaft Neufchâteau recherchieren sollte, wurde nicht fündig. Kein Wunder, denn Kommissar Georges Marnette hat eingestehen müssen, selbst die von Nihoul organisierten Partouzes besucht zu haben. Neufchâteau hat auf seine Mitarbeit inzwischen verzichtet.
Bei der rein dienstlichen »Infiltration des Milieus« habe er sich natürlich an die Spielregeln dieser ausgelassenen Abende gehalten, so Marnette: »Wenn alle mit einem Handtuch um die Hüfte oder im Bademantel herumspazierten, konnte ich doch nicht in Jeans und Lederjacke bleiben.« Die wahren Protektoren Nihouls, so erklärte der Kripo-Mann jetzt, säßen in den oberen Rängen der Justiz.
Auch Dutroux war kein unauffälliger Einzelgänger, keiner, der sich wegduckte. In der grauen Stadt Charleroi und ihren noch graueren Vororten, wo die arbeitslosen Nachfahren der Stahlkocher und Bergarbeiter gegen Mittag den Platz vor der Flimmerkiste verlassen und in ihren grellbunten Jogging-Anzügen in den nächsten Supermarkt schlurfen, um sich für den Rest des Tages mit Bier und Schnaps einzudecken, hier im Revier der Verlierer war Dutroux ein Gewinner.
Doppelt soviel wie andere Interessenten hatte er 1992 bei der Ersteigerung seines Hauses in Marcinelle geboten und bar auf den Tisch bezahlt. Er kam damals gerade aus dem Gefängnis. Niemand fragte, woher er, der offiziell von einer Invalidenrente lebte, das Geld hatte.
Seine Vergangenheit wußte Dutroux geschickt zu kaschieren. Er war schon 1989 zu dreizehneinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil er mit einem Komplizen fünf Mädchen entführt, sie in einem Lieferwagen mit Drogen betäubt und vergewaltigt hatte. Seine Frau, eine bis dahin unbescholtene Grundschullehrerin, die Dutroux beim Schlittschuhlaufen kennengelernt hatte, filmte die schrecklichen Szenen mit der Videokamera. Die Kassetten verkaufte das Ehepaar teuer.
Doch schon nach gut sechs Jahren wurde der vom Gefängnisdirektor als »perverser und uneinsichtiger Psychopath« eingestufte Häftling vom damaligen Justizminister Melchior Wathelet vorzeitig entlassen. Zwei Kommissionen hatten gegen die Haftverschonung gestimmt, eine dritte sprach sich dafür aus. Auch der parlamentarische Untersuchungsausschuß hat bislang nicht aufklären können, weshalb ausgerechnet diesem Dutroux die Gnade des sonst unnachsichtigen Christdemokraten Wathelet widerfuhr.
Wieder auf freiem Fuß, sammelte der Häftling auf Bewährung eine Schar gescheiterter Existenzen und Krimineller um sich. Dutroux, Abonnent der Finanzzeitung l'echo de la bourse und Handy-Besitzer, stieg zum Boß einer kleinen Gang auf: Der 24jährige Michel Lelièvre, vorbestraft wegen Kokainhandels, gehörte dazu; ebenso Bernard Weinstein, ein Ex-Häftling, der sich nach mehreren Raubüberfällen aus Frankreich abgesetzt hatte, und der Grieche Michael Kostavrianos. Der wohnte bei Dutroux zur Miete und verschob alte Reifen und geklaute Autos nach Polen und Tschechien. Auch Dutroux hatte seinen Nachbarn erklärt, er handele mit Autos für den osteuropäischen Markt.
Bei der Kriminalpolizei der Nachbarstaaten ist die marode Industriestadt Charleroi als internationales Zentrum für Autohehlerei berüchtigt. Im Revier der Kneipen, Kfz-Werkstätten und Schrotthandlungen gelten Autodiebstahl und -schieberei als Kavaliersdelikte. Sogar Kriminalbeamte und Richter, so heißt es, hingen in den dunklen Geschäften mit drin.
Das ist vermutlich der Schlüssel, der Dutroux' besondere Beziehungen zur Polizei erklärt. Bei ihm wurde eine vertrauliche Liste aller Bars und Kneipen gefunden, deren Besitzer oder Mitarbeiter Spitzeldienste für die Polizei leisteten. 1994 bekam er sogar einen Waffenschein für ein halbautomatisches Kleinkalibergewehr bewilligt. Es sei nichts Nachteiliges über den Antragsteller bekannt gewesen, erklärt heute der zuständige Polizeibeamte aus Charleroi. Wirklich nicht?
Ein Jahr zuvor waren mehrere Häuser von Dutroux durchsucht worden. Schon damals gab es Gerüchte, er wolle Minderjährige entführen. Einem seiner Mieter, der in Geldnöten steckte, hatte er 7500 Mark für jedes geraubte Kind geboten. Vier Tonnen Material, das aus verschiedenen Einbrüchen stammte, beschlagnahmte die Polizei damals in einer seiner Garagen. Anklage wurde nicht erhoben.
Seiner Anwältin Marie-France Nicaise präsentierte sich Dutroux damals als »bricolo«, der seine Arbeitsunfähigkeitsrente mit kleinen Gefälligkeiten und Reparaturarbeiten aufbesserte - ein ganz normaler Familienvater, wie er da mit Frau und zwei Kindern im Wartezimmer saß, aber auch ein Prozeßhansel, fordernd und rechthaberisch, wenn es um einen strittigen Mietvertrag oder den Erbschaftskonflikt mit seiner Mutter ging.
Und äußerst clever: Um seine Einkünfte aus der Sozialkasse auf 4000 Mark monatlich zu verdoppeln, ließ er sich von seiner Frau pro forma scheiden. So hatten beide Haushalte Anspruch auf Unterstützung.
Ein Meister der Camouflage: Nicht nur sein Äußeres änderte er ständig, mal mit, mal ohne Schnauzer oder Bart, mal mit, mal ohne Brille. Vor der Sozialarbeiterin, die ihn regelmäßig besuchte, spielte er den kranken und desorientierten Mann, gezeichnet von der Haft. Von seiner Frau habe er sich getrennt, um sie vor seinen Wutanfällen zu schützen, erzählte er der Betreuerin.
»Einen Machthungrigen ohne Skrupel und ohne Mitleid« nennt ihn hingegen seine Mutter. Sie bedauert inzwischen öffentlich, »am 6. November 1956 einem Monster das Leben geschenkt zu haben«. Der Vater, ein Grundschullehrer, war jähzornig und gewalttätig; vor den Augen der Klassenkameraden in der Schule von Roux verprügelte er seinen Sohn, bis ihm ein Kollege in den Arm fiel.
Der Versager und Einzelgänger Dutroux, der nur mit Mühe seine Ausbildung als Elektriker beendet hatte, schien besessen von dem Gedanken, auf die Seite der Gewinner zu wechseln. Während seines sechsjährigen Gefängnisaufenthalts wurde er zum Musterhäftling, nahm an Informatik-, Buchführungs- und Sprachkursen teil. »Er zeigte sich von seiner besten Seite«, beobachtete der Diakon Henri Bialecki, der ihn mehrmals beim Hafturlaub begleitete. Als Freund klassischer Musik habe er sich gegeben, als sorgender Familienvater - aber keinerlei Reue oder Mitgefühl für seine Opfer gezeigt. »Vielmehr fühlte er sich selbst als verfolgtes Opfer«, so Bialecki.
Sechs Häuser besaß Dutroux bei seiner Verhaftung im vorigen Jahr - armselig und heruntergekommen zwar, aber die Immobilien, für die er, wie sich jetzt herausstellte, noch nicht einmal Grundsteuern zahlte, gaben ihm in der Gegend um Charleroi mit ihren 30 Prozent Arbeitslosen den Status eines »propriétaire«, verschafften ihm Nebeneinkünfte und abhängige Mieter.
Außerdem verfügte er über einen ganzen Wagenpark: zwei Lastwagen, ein Motorrad, einen Wohn- und einen Lieferwagen sowie zwei Personenwagen. Seine Frau Michèle begleitete Dutroux auf Geschäftsreisen in die Slowakei, nach Tschechien und Polen. Er verscherbelte gestohlene Autos, und auf dem Rückweg brachte er auch mal junge Frauen als Darstellerinnen für Pornofilme mit.
Im vergangenen Sommer, kurz vor seiner Verhaftung, stellte er einen Antrag auf Namensänderung. Dutroux, was auf französisch so klingt wie »aus dem Loch«, schien ihm wohl ein unpassender Name für einen Aufsteiger. Er habe einen großen Coup gelandet, berichtete er zur gleichen Zeit stolz einem Kumpanen - kurz nach dem 24. Juni, als Julie und Mélissa in Grâce-Hollogne bei Lüttich vermißt wurden.
Knapp zwei Monate später entführte er mit seinem Kumpel Michel Lelièvre in Ostende die beiden Schülerinnnen An, 17, und Eefje, 19, die nach einer Veranstaltung zurück in das Feriencamp ihrer Theatergruppe trampen wollten.
Einen ganzen Tag lang, erzählte er den Polizeibeamten nach seiner Festnahme, seien Lelièvre und er an der Küste herumgefahren. Ohne Erfolg. Bis sie in der letzten Straßenbahn die beiden jungen Frauen sahen, eigentlich viel zu alt und zu groß für ihre Zwecke.
Doch die Gelegenheit schien zu günstig. Dutroux und Lelièvre lockten An und Eefje in ihr Auto, betäubten sie und brachten sie nach Marcinelle. »Das Haus war übervölkert«, klagte der Menschenräuber, »ich habe keine Minute mehr Ruhe bekommen.« Julie und Mélissa saßen im Keller, An und Eefje wurden im ersten Stock festgehalten.
Er habe die beiden »großen Frauen«, berichtete Dutroux weiter, bald darauf seinem Komplizen Weinstein übergeben. An und Eefje lebten nur noch wenige Tage. Sie wurden ermordet, verbrannt und verscharrt, nachdem ihre Hinrichtung wohl auf einem Video festgehalten worden war.
Im September 1995 wird die 15jährige Alexandra Scalon in der Nähe von Charleroi mißbraucht und mit zerschmettertem Schädel aufgefunden. Dutroux gerät in Verdacht und wird zur Kripo einbestellt. Er darf wieder gehen. Der vernehmende Beamte ist Oberinspektor Georges Zicot.
Zwei Monate später wird in Obaix ein junges Mädchen vergewaltigt und mit lebensgefährlichen Schnittwunden an der Kehle aufgefunden. Die örtliche Polizei verdächtigt wiederum Dutroux, der sich am selben Tag in der Nähe aufgehalten hat. Wieder sitzt er dem Inspektor Zicot gegenüber, der darauf verzichtet, Haare und Blut von Dutroux analysieren zu lassen, so wie er es bei zwei anderen Verdächtigen angeordnet hatte.
Die Ermittlungen gegen den vorbestraften Sexualtäter ohne Alibi werden eingestellt. Inzwischen fand die Staatsanwaltschaft Neufchâteau, die den Fall noch einmal aufrollte, in einem auf Weinstein zugelassenen Ford Fiesta Haare des Vergewaltigungsopfers von Obaix. Für Staatsanwalt Bourlet bestehen keine Zweifel: »Hier wurde bewußt das Notwendige nicht getan.«
Derselbe Zicot, bei seinen Kripo-Kollegen in Köln und Luxemburg wegen enger Beziehungen ins Autoschieber-Milieu bekannt, hilft wenig später Dutroux erneut aus der Patsche: Mit seinem Gehilfen Weinstein hatte Dutroux zwei junge Männer und eine Frau eingesperrt, um von ihnen den Verbleib eines Lastwagens zu erfahren, den er offenbar selbst gestohlen hatte. Die jungen Leute wurden schließlich von der Polizei befreit. Zicot erklärte den gestohlenen Lastwagen für gefunden, die Geschichte verlief im Sande.
Dutroux wälzte alle Schuld auf Weinstein ab, der als flüchtig galt. Tatsächlich aber saß er zu diesem Zeitpunkt, wie sich erst viel später herausstellte, im Kellerversteck der Rue Philippeville, aus dem Julie und Mélissa vorübergehend ausquartiert wurden. Mit dem Mittel Rohypnol betäubte Dutroux den gefährlich gewordenen Mitwisser und verscharrte ihn anschließend bei lebendigem Leib nur wenige Meter von dem Platz entfernt, wo die in Plastiksäcke gehüllten Leichen von Julie und Mélissa aufgefunden wurden.
Inspektor Zicot kam vorübergehend in Haft, ist inzwischen aber wieder im Dienst. René Michaux, der unglückliche Polizist, ist in der Gendarmerie Charleroi nicht mehr tragbar. Er hat um die Versetzung zur Finanzpolizei nach Brüssel gebeten, wohin auch drei andere Kollegen transferiert wurden, die sich kritisch über das Verhalten von Kollegen geäußert hatten.
Der einzige, der bisher penibel bestraft wurde, ist der Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte, der gemeinsam mit Staatsanwalt Bourlet den Kinderschänder Dutroux überführte und unnachsichtig alle Spuren verfolgte. Er, der das Vertrauen der Eltern besaß, hatte einen Formfehler begangen und im vergangenen September an einem Solidaritätsessen zugunsten der Opfer teilgenommen.
Das brachte ihn um die Zuständigkeit im Verfahren. So streng kann die belgische Justiz sein.