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PSYCHOLOGIE Klemmen in der Kehle

Stottern wird oft verspottet und gilt, zumal bei Erwachsenen, als kaum heilbar. Die Betroffenen werden zu Recht vor teuren Wunderheilern gewarnt. Doch eine neue Intervall-Therapie macht Hoffnung.
aus DER SPIEGEL 50/1997

Was bringt erwachsene Menschen dazu, samstags früh um acht Uhr in einer kalten Turnhalle zu tanzen? Die Musik - dröhnendes Rockgeplärre, aber auch weiche Walzerklänge - sicher nicht. Das wilde Rumgehüpfe finden einige recht eigentümlich, aber sich zu drücken, das kommt auch nicht in Frage. Schließlich vereint sie alle der innige Wunsch, die tückische Sperre in der Kehle loszuwerden, jenes peinliche Stottern und Stammeln, das sie, mit rätselhaften Unterbrechungen, seit ihrer Kindheit begleitet.

Die Sprechbehinderung macht sie zu Leidensgenossen, auch wenn kein Stottern dem anderen gleicht. Andreas, 30, bleibt beispielsweise bei bestimmten Konsonanten stecken, Werner, 48, behält, während er stockt, eine Art Summton bei, Anny, 20, versucht mit einer krampfartigen Verzerrung des Mundes, das Wort herauszupressen. Bei Rudi, 71, wird es besser, wenn er richtig sauer ist. »Ne, das geht mir überhaupt nicht so«, sagt Martin, 28. Wenn es Streit gibt, drängt ihn schon sein Gestammel in die Rolle des Verlierers.

Aber auch ohne Konflikte ist das Leben schwer genug. Martin verliert bereits die Fassung, wenn ihn einer nach seinem Namen und seiner Adresse fragt. Kürzlich brauchte er minutenlang, um Fotos abzuholen. Er brachte seinen Nachnamen nicht heraus. Er wurde rot, die Verkäuferin wurde auch rot. »Bei einem solchen Rückfall bricht für mich die Welt zusammen«, sagt Martin.

Rainer, 50, vermeidet Pannen dieser Art. Er überläßt seiner Frau Telefongespräche, Ämtergänge und Besorgungen - in schweigendem Einverständnis. »Wir haben kein einziges Mal über meine Behinderung gesprochen.«

Ausführlich erzählen Rudi, Rainer und Martin von ihrem Leiden und ihrem lebenslangen Kampf dagegen. Was haben sie nicht alles versucht, um »flüssig« zu werden, wie es im Fachjargon heißt: Sprecherziehung mit Logopäden, Austausch in Selbsthilfegruppen, psychotherapeutische Beratungen.

Geholfen hat das eine oder andere, aber nur kurzfristig. Nun sind sie bei Frank Herziger gelandet, Vertreter einer neuen, ganzheitlichen Stotter-Therapie, die bei Kindern und Jugendlichen so erfolgreich ist, daß der Pädagoge Herziger sie nun auch an Erwachsenen erprobt. »Es ist ein Angebot für hoffnungslose Fälle«, sagt er. »Und nur solche kommen zu mir.«

Herziger, 48, arbeitet im Sprachheilzentrum Ravensburg und gilt als strenger, mitunter rabiater Therapeut. Eine gewisse Ruppigkeit hält er gerade bei Stotterern für unvermeidlich. »Ich sage vorher deutlich, daß es kein Zuckerschlecken wird«, erklärt er.

Denn Schonung kann auch ein Angriff auf die Seele sein. Und Schonung haben Stotterer seiner Meinung nach viel zu lang erfahren. Allerdings nicht von Anfang an, wie er zugibt. Auf Kinder, die plötzlich anfangen zu stottern - und damit im Alter zwischen drei und fünf eine völlig normale Entwicklung durchlaufen -, üben viele Eltern enormen Druck aus, vor allem auf Jungen. »Sprich langsam. Sprich deutlich. Streng dich an. Reiß dich zusammen. Du kannst es.«

So kann lebenslanges Stottern beginnen. Aber eben auch, wenn Eltern es versäumen, sich um die anhaltenden Sprechprobleme ihrer Kinder rechtzeitig zu kümmern, weil sie Rücksicht nehmen wollen oder glauben, daß sich die Stammelei schon irgendwie von allein auswachse. Das Gegenteil ist der Fall: Bei Kindern, die länger als ein halbes Jahr stottern, kann die Sprachbehinderung chronisch werden.

Gegenwärtig wird diese Behinderung bei fünf Prozent aller bundesdeutschen Kinder als chronisch diagnostiziert, dabei kommt auf vier Jungen ein Mädchen. Von den Erwachsenen sind rund ein Prozent betroffen.

Vor allem diese 800 000 Menschen suchen händeringend nach Hilfe. Bereitwillig zahlen viele von ihnen 5000 Mark oder mehr für zehntägige Wunderkuren bei obskuren Scharlatanen. Deren Budenzauber bewirke oft nichts weiter als »kurzfristig symptomfreies Sprechen«, erklärt Ruth Heap von der Stotterer-Selbsthilfe in Köln. »Das flüssige Sprechen ist nicht von Dauer. Der nächste Rückfall kommt bestimmt.«

Heaps Organisation umfaßt bundesweit inzwischen über 80 Gruppen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, gibt Ratgeber heraus, berät entnervte Eltern, verunsicherte Lehrer und vor allem ältere Stotterer, die immer wieder zu hören bekommen: »Ihnen ist nicht zu helfen.«

Eine Aufklärungskampagne gegen die Diskriminierung von Stotterern startet gerade an Schulen. Heap kämpft vor allem für die Zulassung von Hilfsmitteln bei mündlichen Prüfungen. Schließlich erwarte man ja von einem Rollstuhlfahrer auch keine sportlichen Höchstleistungen. Demnächst will die Kölner Selbsthilfe ein Verzeichnis sämtlicher seriöser Stotter-Therapeuten herausgeben.

»Tatsächlich halten sich viele erwachsene Stotterer für therapieresistent«, sagt Wolfgang Wendlandt, 52, der in seiner Berliner Praxis fast nur Stotterer behandelt, ein sanfter, humorvoller Psychotherapeut, der früher selbst leicht stotterte. Er gilt als Spezialist für schwere Fälle und bildet Pädagogen und Logopäden aus. Daß seine Patienten aus München, Hamburg oder Köln anreisen, offenbare, so Wendlandt, die »katastrophale Versorgungssituation«.

Stottern ist kein Intelligenzmangel, obwohl viele Menschen das glauben. Marilyn Monroe, Charles Darwin, Winston Churchill und Somerset Maugham haben zeitweise gestottert, eine Tatsache, die Leidensgefährten nicht so recht tröstet. Der amerikanische Erzähler John Updike schreibt in seinen Lebenserinnerungen über seine Behinderung: »Es besteht ja kein Zweifel, daß ich Unmengen von Wörtern in mir habe, nur geraten sie in bestimmten Augenblicken, wie Autos zur Hauptverkehrszeit vor einer Tunnelmündung, in einen Stau. Meistens passiert es, wenn ich mich fehl am Platz fühle.«

Stottern ist eine rätselhafte Kommunikationsstörung: Wie sie entsteht und warum sie bei manchen wieder verschwindet, bei anderen jedoch nicht, ist unklar. Die Erklärungen reichen von genetischen Dispositionen bis hin zu traumatischen Erlebnissen in der Kindheit; einige Experten vermuten, daß Fehlkopplungen im Gehirn das Klemmen in der Kehle auslösen.

Stotternde unterbrechen ihren Redefluß häufig geradezu reflexhaft, und sie leben in dem panischen Gefühl, ihr Sprechen dann nicht mehr steuern und kontrollieren zu können. Die Angst, wieder und wieder zu versagen, steigert sich und löst schließlich ein Vermeidungsverhalten aus. Updike stellte bei sich fest: »Nein, nicht Konfrontation hemmt meinen Sprachfluß, sondern der Wunsch, ihr zu entgehen, das hastige Bedürfnis zu gefallen. Die Behinderung kommt inmitten von Menschen über mich, die ich mag und so gern unterhalten möchte.«

Konfrontation mit sich und anderen ist das Wichtigste in Herzigers Therapie. Die Gruppe - acht oder zehn Stotterer - findet sich zu einem 14tägigen Therapiekurs in Ravensburg ein, lebt während dieser Zeit zusammen wie in einer Wohngemeinschaft, fährt danach zurück in den vertrauten Berufs- und Familienalltag und trifft sich zur Nachtherapie an weiteren vier Wochenenden.

Videoaufnahmen offenbaren am ersten Tag das ganze Elend: Während Andreas versucht, sich vorzustellen, beginnt bei ihm das Kinn zu zittern, er sieht aus, als bekomme er keine Luft mehr, sein Gesicht verzieht sich, er hängt an einer Silbe fest. Herziger wartet, betrachtet den Patienten in aller Ruhe und fragt ungerührt: »Hat jemand was verstanden?« Auch Stephan, 23, stottert so stark, daß er nicht zu verstehen ist. »Wie bist du überhaupt durch die Schulzeit gekommen?« fragt Herziger recht brutal.

Die Geschichten ähneln sich. Machten Eltern und Erzieher den Kindern anfangs noch Druck oder waren großzügig gegenüber ihrer Störung, so wird dem Stotternden mit zunehmendem Alter eine Art Behindertenbonus zuteil. »Ich wurde immer geschont«, erklärt Andreas. Dabei wurde seine Scham immer heftiger. Je größer die Schonung der anderen war, desto größer das Selbstmitleid, desto ausgeprägter der Rückzug, desto größer und unüberwindbarer die Angst vor dem Sprechen. Gerade die wohlmeinenden Zeitgenossen verschlimmern das Übel. Eine teuflische Wechselwirkung.

Die Behinderung akzeptieren lernen, damit zu spielen, das nehme der Sache die Schärfe, glaubt Herziger. Er provoziert, stichelt und ironisiert die Schwächen seiner Patienten. Er macht sie sogar nach, er macht sich auch über sie lustig. Aber er beweist ihnen auch, daß sie wunderbar sprechen können. Atem-, Sprech- und Leseübungen, die mit weicher, klangvoller Stimme gemeinsam exerziert werden, gehören ebenso zu seinem Programm wie Trommeln, Malen und das morgendliche Tanzen. Denn Stotterer sind nicht gut in ihrem Körper zu Hause, sind ungelenk und verkrampft.

Herziger duldet keine Verweigerung. Er ist direkt, fordernd, aber auch ermutigend und aufbauend. Er weiß: »Manchmal könnten die mich an die Wand werfen, so sauer sind sie.«

Aber da Selbstausdruck in jeder Form willkommen ist, schadet ein kleiner Wutanfall nicht. Herziger versteht seine Therapie als Persönlichkeitstraining, und die besten Kontrolleure beim Üben des Neugelernten sind die Leidensgenossen. Passend zum rigorosen Stil ihres Kursleiters äffen sie einander nach oder hänseln sich gegenseitig.

Ein besonders schwerer und wichtiger Teil der Therapie: Andreas, Stephan und die anderen müssen in der Ravensburger Innenstadt fremde Menschen ansprechen. Anny kauft Brot und Gemüse ein, Rainer läßt sich in einem Computergeschäft beraten. Zwei Männer schwirren in den nächsten Sex-Shop, geben sich als Schwule aus und fragen nach erotischen Spezialitäten. Andreas geht in drei Buchhandlungen und läßt sich verschiedene historische Schmöker zeigen.

Sie winden sich, sie stottern, sie wollen nicht, und dann tun sie es doch. »Wenn sie das hundertmal gemacht haben, begreifen sie allmählich, daß ihnen nichts Katastrophales passiert«, sagt Herziger. Und auf diese Unbekümmertheit kommt es an. »Die Leute denken, da kommt der Herziger wieder mit seinen Gestörten«, sagt Werner, der inzwischen selbstbewußt stotternd um alles feilscht, was er einkauft: »Darf's n-n-net a bissle bi-bi-billiger sein?«

Sind seine Schüler erst einmal den Zwang los, ohne Sinn und Verstand loszustrudeln, versuchen sie nicht mehr, ihr Problem zu verschleiern, indem sie sich verhaspeln, immer neue Sätze anfangen, die sie nicht zu Ende bringen, oder schwierige Worte zu umgehen - ist all das vollbracht, dann wird bei Herziger auch geschwiegen. Stotterer müssen lernen, sich zu zentrieren, zu sich zu kommen und bei sich zu bleiben. Dazu dient auch das Schweigen.

»Wer nicht sprechen kann, hat keine Zukunft«, sagt Anny. Sie wollte eine Stelle als Rechtsanwaltsgehilfin, stellte sich stotternd vor und erhielt zwei Tage später eine Absage. »Würden Sie nicht stottern, ich hätte Sie sofort genommen«, sagte die Rechtsanwältin bedauernd.

Inzwischen sieht Anny optimistisch in die Zukunft. Früher war sie wegen ihrer Stotterei gereizt, hysterisch, eben schlecht drauf. Nach den 14 Tagen bei Herziger ließ sie sich die langen Haare abschneiden, änderte ihre Garderobe und hörte mit dem dusseligen Versteckspielen auf. »Jetzt bin ich richtig zufrieden mit mir«, sagt sie. Und findet, daß das nicht viele Menschen von sich sagen können. Heute spricht sie fast ohne Stocken.

So ist es bei den meisten nach der 14tägigen Intensivkur. Freunde, Ehepartner, Kollegen sind dann überrascht. Aber auch Mißerfolge gibt es an den darauffolgenden Wochenenden zu melden. Andreas ist immer noch zu schüchtern, ein Mädchen anzusprechen, andere haben immer wieder Probleme, ihre Bestellung im Restaurant loszuwerden oder ein Zugticket zu kaufen.

Rund zwei Jahre brauche man, schätzt Herziger, um flüssig sprechen zu lernen. Und wenn hin und wieder doch ein Rückfall passiert, schreckt das seine Schüler nicht mehr. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man erbärmlich um Worte ringt.

Aber sie wissen jetzt auch, wie sie Körper und Seele dazu bringen können, ja zueinander zu sagen und so die gefesselte Zunge zu lösen.

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