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Kneipenkultur in Wien: Zu Besuch im Beisl

Foto: Klaus Pichler/ Anzenberger

Kneipenkultur in Wien Ein Hoch auf die goldenen Tage!

Das wahre Leben Wiens findet in den Beisln statt. Ein Fotograf und ein Journalist haben über Jahre diese aussterbenden Kneipen besucht - und fröhliche, traurige, immer erstaunliche Geschichten erlebt.

"Golden Days Before They End", sang der Country- und Rocksänger Roy Orbison in seinem Lied "It's Over". Ein Stück voller Melancholie und Tragik, etwas, das Orbison durch sein Leben begleiten sollte. Seine Frau starb bei einem Motorradunfall, zwei seiner Söhne kamen bei einem Feuer ums Leben. Orbison sang trotzdem weiter.

"Das ist in etwa die Lebenseinstellung der Gäste jener Lokale, die wir besucht haben", sagt Fotograf Klaus Pichler. Gemeinsam mit dem Journalisten Clemens Marschall machte er etwa hundert Beisln in Wien ausfindig: jene Kneipen, in denen wenig gegessen, dafür viel getrunken wird, die echten Beisln, nicht die Nobelvarianten, die die urbane, hippe Mittelschicht jetzt für sich entdeckt.

Pichler und Marschall gewannen das Vertrauen der Gastwirte und Gäste. Pichler, 39, fotografierte die Kundschaft und das Interieur, während Marschall, 30, die Besitzer interviewte und ihnen Geschichten entlockte, die von der gleichen Traurigkeit getragen sind wie Orbisons Lied. "Golden Days Before They End" heißt deshalb auch der Bildband mit den Zitaten der Lokalbetreiber.

In dem Buch mit den beeindruckenden Fotos leben die vermeintlich guten alten Zeiten wieder auf: Erinnerungen an die Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre. Jahre, in denen die Beisl-Besucher noch jung waren und Arbeit hatten. "Die Jungen sind mit uns alt geworden", sagt Franz Kases vom "Café Kases". "Wie wir angefangen haben, waren die um die 20 - die gehen jetzt auch auf die 60 zu. Die kommen fast alle noch - außer, sie sind gestorben."

"Der da ist schon tot", sagt Pichler und zeigt auf ein Foto. "Und die drei Menschen auf diesen Bildern leben auch nicht mehr." Er tippt auf eine Doppelseite in dem Buch. Marschall schlägt eine Seite mit Bildern einer Kneipe auf: dunkle Holzstühle, dunkle Tische. "Die hat schon zugemacht", sagt er. Viele der Abgebildeten seien schon gestorben, viele Lokale existierten nicht mehr. "Dabei ist keines der Bilder älter als drei Jahre."

"Die Wirte glauben, die Jungen könnten nicht mehr trinken"

So lange waren Pichler und Marschall unterwegs, in einem Wiener Mikrokosmos. Alle Welt kennt die Kaffeehäuser, aber es gab einst viel mehr in der österreichischen Hauptstadt. "Früher hat es drei Arten von Wirten gegeben: die Bierwirte seit 1803, die Weinwirte seit 1811 und die Branntweiner seit 1848. Nebenbei hat es die ganzen Kaffeesieder und Hoteliers gegeben", erzählt Franz Sveceny von der "Likörstube". "Die Branntweiner durften früher nur Alkoholika ausschenken. Ein Bierwirt durfte nur Bier führen, ein Weinwirt nur Wein."

Die Wiener Beisln, auch Hütten genannt, sind das, was davon übrig geblieben ist - bis jetzt. Doch junge Kundschaft bleibt aus, und in ein paar Jahren dürften sie der Vergangenheit angehören. "Die Wirte glauben, die Jungen könnten nicht mehr trinken", sagt Marschall und lacht. "Aber die trinken heute natürlich auch, nur woanders." Die Beisln sterben aus, und wenn ab 2018 ein schärferes Rauchverbot in Kraft tritt, dürften noch mehr Kneipen dieser Art schließen. Investoren für die Läden in bester Lage stehen schon Schlange.

Aber noch ist hier eine Welt der "alten Halbstarken", wie Pichler sie nennt, eine Welt der Alkoholiker und Kleinkriminellen, der kaputten Typen und gescheiterten Existenzen. Fotograf und Autor nähern sich diesen Menschen mit Respekt und Sympathie. "Wir wollen nicht urteilen oder verurteilen. Wir wollen uns auch nicht lustig machen über sie", sagt Pichler. "Viele hattens wirklich schwer in ihrem Leben."

Ein Stück Wien geht verloren

Für sie sind das Orte der Unterhaltung - oft ist das ganze Lokal eine einzige Gesprächsrunde -, der Geborgenheit, wo man sich beisteht bei den alltäglichen Problemen und sich gegenseitig Hilfe zusichert, wo man versucht, den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen und seine Sorgen zu ertränken. "Die Leute wissen, dass der Alkohol und die Zigaretten ihr Leben ruinieren. Aber sie machen trotzdem weiter", beschreibt Marschall die Haltung. "Die sagen sich: Scheiß auf die paar Jahre Lebenszeit."

Viele der Gäste sind Alkoholiker, einige haben eine Vergangenheit im Gefängnis, und alle können von Krankheiten, Beziehungsproblemen, Familienkrisen, Jobverlust und anderen Schicksalsschlägen berichten. So glänzend war die Vergangenheit dann doch nicht. Im Beisl lässt sie sich eben manchmal vergolden.

So sehr, dass manche Gäste am Freitagabend kommen und am Montagmorgen gehen. Vor allem, wenn Monatsanfang ist und Geld vorhanden. Dann sind die Beisln öffentliche Wohnzimmer. Mit Bildern an den Wänden, oft von nackten Frauen und teuren Sportwagen - Träume der männlichen Kundschaft. Vieles sieht in diesen Räumen so aus, als hätten handwerklich begabte Gäste mitgewirkt an der Gestaltung.

Und doch bleibt man beim Betrachten der Bilder und beim Lesen der Zitate oft sprachlos zurück. Zum Beispiel, wenn man die Kellnerin Gerda aus dem "Café zur Panik" über einen Gast reden hört: "Ich hab einmal einen gehabt, der wollt sich in der Hütte erschießen. Ich sag zuerst: 'Geh, heast, des zahlt si ned aus, so schlimm kann's ned sein, red ma drüber.' Dem hab ich dann eingeredet: 'Du, heast, i bin nur a deppade, klane Kellnerin - warum willst mir an Dreck machen? Da drüben hast du die Polizei - mach denen drüben an Dreck und i hab mei Ruah.' Der ist dann wirklich beinhart rüber zur Polizei, hat angeläutet in der Nacht, die haben die Tür aufgemacht, er hat sich die Waffe angesetzt und weg war er."

Ein Stück Wien geht verloren, ein Kapitel der Stadtgeschichte zu Ende. Ob golden oder nicht, es ist doch gut, dass jemand diese Zeit auf so schöne Art festgehalten hat.

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